Jean Baudrillard

Warum ist nicht alles schon verschwunden?

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Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
64 Seiten, Klappenbroschur
ISBN 978-3-88221-720-9
€ 10,00 / CHF 19,00

Georges Bataille

Henker und Opfer

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Mit einem Vorwort von André Masson
96 Seiten, Klappenbroschur
ISBN 978-3-88221-726-1
€ 10,00 / CHF 19,00

Nachdem sich der traditionsreiche Matthes&Seitz-Verlag in Berlin neu erfunden und gegründet hatte, hat sich einiges getan im Verlagsprogramm. Das jüngst preisgekrönte Programm wird monatlich um eine vielfältige Auswahl sperriger und bewusstseinserweiternder Publikationen erweitert, doch auch die 'alten Helden' sind weiterhin vertreten. In einer neuen Reihe werden zu einem (realtiv) günstigen Preis kleine Bändchen mit bahnbrechenden und diskussionswürdigen Essays angeboten, darunter auch Jean Baudrillards letzter Artikel aus Lettre International (2007) und eine Sammlung seltener Texte von Georges Bataille.

"Warum ist nicht alles schon verschwunden?" ist also der letzte Text Jean Baudrillards, der am 6. März 2007 verstarb. Und es ist die Fortsetzung eines höchst dynamischen Denkens, das Baudrillard seit den 1970er Jahren pflegte: Seine Bewegung folgte den Entwicklungen und blieb am Puls der Medien. So unterzieht er in diesem kurzen Text (53 Seiten) nicht nur seine eigene Theorie von der "Agonie des Realen" einer Revision, sondern entwirft im konstruktiven Sinne eine neue Bildtheorie angesichts einer fortschreitenden Digitalisierung (des Denkens).

Er konstatiert aufbauend auf Günther Anders' These von der „Antiquiertheit des Menschen“ (1956) die Abwesenheit alles Realen aus dem digital reproduzierten oder gar digital erstellten Bild. „Hinter jedem Bild ist irgend etwas verschwunden – doch ebendies macht seine Faszination aus. Hinter der virtuellen Realität in all ihren (telematischen, informatischen, digitalen und so weiter) Formen ist das Reale verschwunden – doch ebendies fasziniert alle Welt. Der offiziellen Version folgend machen wir einen Kult um das Reale und das Realitätsprinzip – aber ist es wirklich das Reale, dem wir diesen Kult widmen, oder nicht vielmehr sein Verschwinden?“ (S. 21-22)

Bereits Walter Benjamin stellte in seinem Aufsatz „Der Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ das Verschwinden der schauspielerischen „Aura“ in der Serialität der Bilder fest, und Baudrillard selbst korrigierte seine Idee des Simulakrums im Bezug auf die Medien immer wieder auf eine nächste Stufe, bis er das Verschwinden der Realität in „Die fatalen Strategien“ (1985) bereits vermutete. Tatsächlich kann man sich fragen: Wo sind die Bezüge des Realen in einer am Reißbrett kreierbaren Welt, wie sie die virtual reality heute darstellt? Kann man filmisch reproduzierte vorfilmische Wirklichkeit noch erkennen, wenn sie nicht nur durch Perspektive, Kadrierung und durch Montage dieses Dokumentes manipulierbar ist, sondern ganz auf die vorfilmische Realität verzichten kann? Was ereignete sich in dem Schritt vom analogen zum digitalen Bild?

Baudrillard bleibt also inspirierend und zugleich nachvollziehbar und erstaunlich einleuchtend in seinem 'Vermächtnis'. Das kleine Bändchen ist nicht gerade preiswert, aber der Text selbst ist eine Auseinandersetzung zweifellos wert.

Einer von Baudrillards eigenen Helden ist der französische Transgressionsphilosoph Georges Bataille, einer der schillerndsten Denker der Moderne. Anlässlich der Diskussion um den SS-Roman "Die Wohlgesinnten"von Jonathan Littell wurde eine ungewöhnliche Sammlung kleinerer Aufsätze unternommen. Klaus Theweleit vertrat zur Littell-Diskussion in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24. Februar 2008 die Auffassung, dass die professionelle Literaturkritik den "Wohlgesinnten" nicht gerecht werden könne, weil sie in der Opferperspektive verhaften bleibe. Das könnte auch Batailles Einwand gewesen sein. Der Autor einer eigenen "Psychologischen Struktur des Faschismus" geht davon aus, dass in jedem Menschen das Wesen von Opfer und Henker zugleich angelegt sei.

"Wir können nicht menschlich sein, ohne in uns die Fähigkeit zum Schmerz, auch die zur Gemeinheit wahrgenommen zu haben. Aber wir sind nicht nur die möglichen Opfer der Henker: die Henker sind unseresgleichen. Wir müssen uns auch noch fragen: Gibt es nichts in unserem Wesen, das so viel Entsetzliches unmöglich macht? Und wir müssen uns wohl die Antwort geben: tatsächlich, es gibt nichts. Tausend Hindernisse stellen sich in uns dem entgegen...Trotzdem ist dies nicht unmöglich. Wir sind also nicht bloß zum Schmerz, sondern auch zur Raserei des Folterns fähig." (S. 17) So kreisen seine Thesen über "Henker und Opfer" und ein transmoralische Perspektive, die eine dualistische Schuldzuweisung in Frage stellt und zugleich im Sinne eines differenzierten Humanismus' sensibilisiert.

In drastischen Worten entlarvt Bataille das dualistische Denken selbst als Wurzel einer Hass-Philosophie: "Der Antisemit ist im Allgemeinen Kleinbürger, besitzt keinen Grund und Boden, eignet sich aber durch den Antisemitismus vitale, irrationale Werte an, die Erbteil des Gutsbesitzers sind. Gut und Böse sind für ihn ein für alle Mal von Geburt an gegeben. Das Gute in ihm ist ebenso unveränderlich wie das Böse im Juden. Und der Antisemit, der keineswegs Angst vor dem Juden, sondern all dem hat, was statisches Denken in Frage stellt, hat immer Angst. Deshalb muss er wie der feige Gedemütigte, der sein Pferd schlägt, dem Wehrlosen Furcht einflößen." (S. 23) Ein Zitat wie dieses belegt noch heute die ungebrochene Kraft von Batailles Denken und den Diskussionswert seiner Thesen.

Von brachialer Wucht ist auch sein nur zweiseitiger Aufsatz "Die Abwesenheit des Mythos", der wie Ernst Bloch eine Welt, die sich vom Mythos abgewandt hat, letztlich nachhaltig in Frage stellt: "Der Tatbestand, dass ein Universum ohne Mythos ein ruiniertes Universum ist - reduziert auf die Nichtigkeit der Dinge - , stellt die Entziehung des Universums durch das, was sie uns nimmt, seiner Offenbarung gleich. Wenn wir das Universum verloren haben, indem wir ds mythische Universum aufhoben, so so verknüpft der tatbestand als solcher den Tod des Mythos mit einer Verlusthandlung, die offenbarend ist. Und dadurch, dass ein Mythos gestorben ist oder stirbt, können wir ihn heute besser überschauen, als wenn er noch lebte: erst die Entbehrung vollendet die Transparenz, und erst das Leiden macht froh." Und er schließt mit den Worten, die einem verbalen "Hammer" Nietzsches gleichen:

"'Nacht ist auch eine Sonne', und die Abwesenheit des Mythos ist auch ein Mythos: der kälteste, der reinste, der einzig wahre." (S.82)

Marcus Stiglegger