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Marcus Stiglegger/Michael Flintrop (Hg.)
Dario Argento – Anatomie der Angst
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304 Seiten
Bertz + Fischer (August 2013)
ISBN-10: 386505319X
ISBN-13: 978-3865053190
http://www.bertz-fischer.de/product_info.php?cPath=1_42&products_id=405
Ein über fast zwei Jahrzehnte liebevoll gehegtes
Wunschkind und ein von langer Hand geplantes Unternehmen von Marcus Stiglegger
hat mit tatkräftiger Geburtshilfe zahlreicher Mitstreiter endlich
das Licht der Welt erblickt: das gespannt erwartete Buch über das
Gesamtwerk Dario Argentos.
Nach einem Vorwort von Jörg Buttgereit macht (Mit-)Herausgeber
Marcus Stiglegger den Auftakt mit einer teilweise sehr persönlichen
Einleitung (was im Rezensenten wehmütige Erinnerungen weckt, schließlich
wurde auch seine kindliche Begeisterung für Dario Argento durch das
sehnliche Betrachten von Filmplakaten während der Italien-Urlaube
in den 70er Jahren ausgelöst). In einem knappen Überblick der
Filmografie von Argento wird der Leser elegant auf die anstehende Reise
eingestimmt. Dabei schlägt Stiglegger den Bogen von Argentos Verortung
in den Wurzeln der Italian Gothic und der surrealen Traumlogik früherer
Werke zum „Hyperrealismus“ der Meta-Giallo-Thriller. Er streift
dabei kurz die Herkunftsgeschichte der Gialli als Pulp-Romane und arbeitet
wiederkehrende Handlungsmotive des Giallo, sowie narrative Schlüsselelemente
und Stilismen von Argentos Gesamtwerk heraus. Dreh- und Angelpunkt ist
Stigleggers These des „performativen Kinos“ von Dario Argento,
die sich im weiteren Verlauf wie ein roter Faden durch die Texte ziehen
wird. Stigleggers Prolog zum ersten Teil des Buches, wie gewohnt (film-)wissenschaftlich
kompetent und flüssig lesbar verfasst, bietet einen vorzüglichen
Einstieg in die nachfolgenden Abhandlungen.
Joanna Barck behandelt in ihrem Beitrag „Tiefe Fallen
– Von der gefährlichen Kunst, mit Bildern umzugehen“
den Einfluss und die Bedeutung der bildenden Kunst (Gemälde, Skulpturen,
etc.) im Werk Argentos, explizit anhand der Filmbeispiele L’UCELLO
DALLE PIUME DI CRISTALLO, PROFONDO ROSSO und LA SINDROME DI STENDHAL.
Die vielschichtige Rolle der Malerei bzw. Bildhauerei in
den genannten Filmen (mit Exkursionen zu TENEBRE) wird von der Autorin
sowohl im kunstwissenschaftlichen und –historischen, als auch im
psychoanalytischen Kontext eingeordnet, was dem Leser ein reichhaltiges
Tableau an erstaunten „Aha-Momenten“ und neuen Betrachtungsebenen
eröffnet.
Allein diese hervorragende, interdisziplinär analysierte
Arbeit, die dem Betrachter völlig neue Einblicke, Interpretationsansätze
und Entschlüsselungsmöglichkeiten zu den besagten Filmen liefert,
ist die Anschaffung des Buches wert.
Jörg von Brincken widmet sich im nachfolgenden Text
„Todestheater – Dario Argentos Filme im Spiegel des Grand
Guignol“ dem Einfluss der berühmten „Bühne des Schreckens“
auf Argentos Filmkunst. Hierin beleuchtet er zunächst die Historie
des Théatre du Grand Guignol in Paris, nähert sich dem Herzschlag
der Filme des Maestros durch den „Rhythmus der Angst“ und
trifft schließlich die Feststellung, „dass Argento sich nicht
nur des Motivs und des Ortes des Theaters bedient,
sondern seine filmischen Arrangements im wahrsten Sinne
des Wortes immer wieder theatralisiert.“ (Von Brincken, S. 64) Im
Speziellen zieht er hierbei die Filme SUSPIRIA, INFERNO und OPERA als
besonders prägnante Beispiele heran.
Ein sehr akademischer Beitrag, der sicher nicht für
jeden Leser leicht zu goutieren ist, aber wertvolle Grundlagenforschung
leistet und eine in vielen Sekundärtexten zu Argento lediglich angekratzte
Verbindung (Argento <-> Grand Guignol) profund ausarbeitet und vertieft.
„Was passiert, wenn der unterteilte und verstehbare
Raum implodiert, wenn hier und dort, innen und außen ineinander
fließen?“ – Dieser Frage geht Johannes Binotto in seinem
Aufsatz „Untiefen – Zu den unheimlichen Räumen Dario
Argentos“ nach. Er thematisiert und untersucht die Bedeutung des
Raums, seiner Auflösung, das Eindringen eines Raumes in den anderen
– an Beispielen wie der von Escher inspirierten Raumgestaltung und
–durchbrechung in SUSPIRIA, der illusionistischen Bauklotz-Betonarchitektur
von TENEBRE, dem durchsichtigen Gefängnis-Raum zwischen den Glastüren
in L’UCELLO, den verborgenen Kammern und Etagen in PROFONDO ROSSO
und INFERNO. Und: „Wenn sich für Vitruv die idealen Maße
eines Gebäudes aus den Größenverhältnissen der Körperglieder
ableiten lassen, liegt es nur nahe, die Fragmentierung des Raums entsprechend
mit der Zerstückelung des Körpers engzuführen.“ (Binotto,
S. 73) So ist die Inszenierung des Raumes bei Argento stets auch ein „gewaltsames
Aufeinandertreffen von Außenwelt und Körperinnerem“ (ebd.)
Und schließlich führt er uns in den perfiden Raum des Hors-champ,
des „Off“, in dem wir/der Zuschauer Komplize der Kamera, und
letztlich, des Mörders wird. Der letzte Raum, der Schutzschirm der
Leinwand, wird eingerissen.
Binotto dringt mit seinem exzellenten Text wortwörtlich
in neue Räume vor und zeigt ungeahnte Perspektiven der Rezeption
auf. Ein weiterer Höhepunkt in einer an Höhepunkten nicht gerade
geizenden Publikation.
In seiner sehr komplexen Untersuchung „Kool Killers
– Genre und Gender bei Dario Argento“ beleuchtet Ivo Ritzer
die Rolle der Geschlechter in Argentos Œuvre. Zunächst widmet
er sich den Fetischisierungen von (Mörder-)Bekleidung und Tatwaffen,
dem Umgang mit Homosexualität bzw. heterosexistischer Homophobie
und der Verwurzelung psychosexueller Gewalt in patriarchalen Machtstrukturen.
„Weil der weibliche Körper permanent eine Kastrationsdrohung
artikuliert, muss er zerstört werden, wenn die phallische Macht gewahrt
bleiben soll.“ (Ritzer, S. 92ff.) Er thematisiert weiterhin das
cross-dressing der Täter, die Transsexualität und Schizophrenie,
sowie die Traumatisierung durch sexualisierte Gewalt. Schließlich
gelangt er zu einer hochinteressanten Schlussfolgerung, deren Relevanz
von den Kritikern Argentos, welche ihm gern Misogynie vorwerfen, bislang
nicht erkannt wurde: „Bei Argento sind eindeutige Grenzen des Geschlechts
suspendiert, bipolare Modelle von maskulinen/femininen Blickfigurationen
aufgehoben.“ (Ritzer, S. 97) Folgerichtig führt diese Analyse
zum 'dritten Geschlecht‘ in Argentos Gialli fantastici, den übernatürlichen
Wesenheiten als Operateure in SUSPIRIA, INFERNO und LA TERZA MADRE, „deren
Identität binäre Zuschreibungssysteme vollends transzendiert.“
(Ritzer, S. 98)
Meisterregisseur Dominik Graf (u.a. DIE KATZE; DIE SIEGER)
bringt im darauf folgenden Beitrag „Der wildeste Rausch von allen“
die dunkle Trommel der Herz-Essenz zum Tönen: Er führt uns zum
Tanz zur Musik in den frühen Filmen Dario Argentos. Mit seiner wundervoll
geschriebenen, zuweilen schwelgerisch bildhaften Ovation an die Klangdämonien
von Goblin, Ennio Morricone und Keith Emerson, setzt er einen wohltuenden
Kontrapunkt zu den teilweise doch etwas kopflastigen, akademisch-schwergewichtigen
Vorläufertexten. Er unternimmt einen kurzen Abstecher in die
Geschichte jener „grandiosen, innovativ instrumentalisierten
Melodien“ (Graf, S. 102) des italienischen Genre-Kinos der 60er
und 70er Jahre, konzentriert sich dann auf die Musica traumatica (die
von Morricone so bezeichneten Scores zur ‚Tier-Trilogie‘),
taucht tief ein in die rotpulsierenden Fieberträume der Soundtracks
von Goblin (PROFONDO ROSSO, SUSPIRIA und TENEBRE) und lässt sich
schließlich von den Klanggemälden Keith Emersons zurück
an die Oberfläche tragen. Grafs barock-überschäumender
Text ist, zumindest stilistisch, vielleicht einer der schönsten des
Buches, da in ihm vor allem eines spürbar wird: die Liebe zur Musik
und die Leidenschaft fürs Kino. Passend hierzu kommt im anschließenden
Beitrag Claudio Simonetti (Goblin) zu Wort der ein äußerst
lesenswertes, aber leider viel zu kurzes Gespräch mit Mark Fehse
führte.
Einen Leckerbissen ganz besonderer Güteklasse kredenzt
uns Sebastian Selig mit seinem Reisebericht „Zur Escherstraße
– Eine Reise zu den Drehorten von SUSPIRIA (1977)“. In gekonnter
Parallelmontage („gestern & heute“) führt er den
Leser zu den Locations an denen Argentos Meisterwerk entstand: Vom Flughafen
München-Riem mit dem Taxi zur Maximiliansbrücke, zu ‚Pat’s
Apartment‘ in der Burgstraße 4, zum Hofbräuhaus, zum
Königsplatz und, und, und… „Immer weiter ins Zentrum
von München dringen wir vor. […] Dahin, wo der Geruch von süßem
Senf und getrocknetem Blut in der Luft zu kleben scheint.“ (Selig,
S. 116) End- und Höhepunkt der Reise kann nur die Tanzakademie der
Mater Suspiriorum in Freiburg sein.
Beinahe nostalgisch-wehmütig stimmt diese 'Tour-de-Source‘,
die mit aufschlussreichem Bildmaterial dokumentiert ist und von Selig
mit wissenswerten historischen Fakten zu sämtlichen Schauplätzen
und Gebäuden gewürzt wird. In „Mario Bava & Dario
Argento – Der Versuch einer Trennung“ wagt Ingo Knott die
Demontage des immer wieder gezogenen Vergleichs zwischen Argento und dem
Giallo-Großvater Bava (einen Vergleich, den Argento selber vehement
ablehnt), den er vor allem an der unterschiedlichen Gestaltung von Frauenrollen
in den Werken beider Regisseure festmacht, sowie an dem offensichtlichen
Stilbruch der zwischen den dunklen, 'bavaesken‘ Filmen SUSPIRIA
und INFERNO und dem hellen, 'klinischen‘ TENEBRE besteht. Hierzu
lässt er Argento selbst zu Wort kommen: „In der Dunkelheit
kann man etwas verbergen, was man im Grunde ablehnt und deshalb nicht
zu zeigen wagt; aber im grellen Licht fühlen wir uns unbehaglich,
sind verstört.“ (Zitiert nach Rbert Zion). Knott schließt
seine Ausführungen mit einem gewagten Fazit: „Wer sich REAZIONE
A CATENA (Im Blutrausch des Satans;1971) ansieht, der könnte auf
die Idee kommen, Bava sei, überspitzt formuliert, vom (vielerorts
behaupteten) 'Lehrer‘ Argentos zu seinem 'Schüler‘ mutiert,
derart entschlackt und un-barock zeigt er sich hier.“ (Knott, S.
135)
Heiko Nemitz untersucht in „Obsessions – Was
Dario Argento und Brian de Palma verbindet – und trennt“ die
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Hitchcock-Epigonen Brian
de Palma und dem 'Italian Hitchcock‘ Dario Argento. Denn: „Die
Begründung ihrer Autorenschaft resultiert dabei gerade aus den Diskrepanzen
ihrer Werke.“ (Nemitz, S. 138) Ähnlichkeiten eruiert er zunächst
in den überstilisierten „kinematografischen Exzessen“
und „Over-the-Top-Inszenierungen“, der intertextuellen Zitierfreudigkeit
und dem Hang zu pittoresker Choreografie von Gewaltszenen, die beiden
Filmemachern gemein ist. Unterschiede arbeitet er explizit an den Filmbeispielen
BLOW OUT und PROFONDO ROSSO heraus, sowie an der grundlegend „gegensätzlichen
Bildpolitik“.
In seinem ganz vorzüglichen Essay „Ein Strick,
ein Colt, ein schwarzer Handschuh – Eine Spurensuche in Argentos
Westerndrehbüchern“ gräbt Harald Steinwender nach Versatzstücken
aus Argentos Wildwest-Skripts, anhand derer sich die Handschrift seiner
späteren Gialli und Horrorfilme erkennen ließe. „Argentos
psychosexuelle Thriller waren wie die Western Leones explizit antinaturalistisch,
märchen- und albtraumhaft. Wie in den Western all’italiana
ist die Welt von Argentos Gialli eine Welt der Affekte – der Blicke,
Gesten und Emotionen, bestimmt von einer barocken Mise-en-scène
und der engen Bindung der Musik an die Kamerabewegung […].“
(Steinwender, S. 160)
Zu einem faszinierenden Finale führt Mitherausgeber
Michael Flintrop den ersten Teil des Buches mit seinem Aufsatz „Einfach
schrecklich! – Dario Argento und die Justiz“: eine Bestandaufnahme
der Zensurmaßnahmen, die Argentos Filme in Deutschland betrafen.
Er thematisiert hier die Mediengewalt-Debatte in den 80er Jahren und die
berüchtigten Film- und Videobeschlagnahmungen unter der Ägide
des § 131 StGB. Ebenso die Funktion, die dabei der Bundesprüfstelle
für jugendgefährdende Medien (BPjM, damals noch BPS) zufiel
und die gesetzlichen Grundlagen durch Art 1 Absatz 1 GG bzw. § 18
JuSchG. Im Speziellen geht er auf die jeweiligen Kürzungen ein und
stellt dann den „Fall TENEBRE“ vor, wo auch die teilweise
vollkommen unnachvollziehbaren Schnitte benannt werden: „Geradezu
skandalös um 57 Sekunden gekürzt ist die berühmte Kamerafahrt,
mit der Argento das Haus der beiden lesbischen Bewohnerinnen erkundet.“
(Fintrop, S. 169) Trotz seiner Zensurschnitte wurde der Film ein Fall
für die Staatsanwaltschaft. Der Titel „Einfach schrecklich!“
bezieht sich entsprechend auf ein Zitat Argentos, als dieser sich mit
der harschen Zensurpolitik zu seinen Werken konfrontiert sah.
Der zweite Teil des Buches enthält in chronologischer
Reihenfolge angenehm wertungsfreie Rezensionen zu sämtlichen Argento-Filmen
von 1970 bis 2012, verfasst von verschiedenen Autoren, die dem Filmfreund
teilweise aus Printmedien wie Splatting Image oder Deadline bekannt sein
dürften. Auf diese Besprechungen kann hier nicht im Detail eingegangen
werden, jedoch sind sämtliche 23 Rezensionen ausnahmslos lesenswert.
Löblich auch der umfangreiche Appendix, der eine vollständige
Filmografie, eine umfassende Bibliografie, Informationen zu den Autorinnen
und Autoren, sowie einen Index beinhaltet. Zudem ist das gesamte Werk
reichlich (schwarz-weiß) bebildert.
Übrig bleibt allerdings eine bohrende Frage, die zugleich
die einzige Kritik an „Dario Argento – Anatomie der Angst“
beinhaltet: Wo ist der Beitrag des Filmgelehrten Christian Keßler,
dessen Pionierarbeit auf dem Sektor des italienischen Genrefilms viele
der hier vertretenden Autoren doch erst auf Gialli & Co. aufmerksam
gemacht haben dürfte?
Es sollte deutlich geworden sein, dass Stigleggers und Flintrops
Veröffentlichung keineswegs die herkömmliche Ansammlung von
oberflächlichen Fan-Lobgesängen darstellt, wie man sie aus zahlreichen
anderen Publikationen kennt, sondern durchaus den Anspruch einer ernstzunehmenden
wissenschaftlichen Untersuchung mit Substanz und Tiefenwirkung erfüllt.
Der vorwiegend (kultur-)philosophische, (medien-)psychologische und (film-)semiotische
Ansatz der Texte unternimmt eine seriöse, aber ebenso unterhaltsame
Auseinandersetzung mit einer vielfach verkannten Materie. Wahrhaft ein
wohltuender Kontrast zur in jüngster Zeit praktizierten „Leider
geil“-Mentalität populärer Medien, die den Genre- und
Exploitationfilm wiederentdecken, seine Mechanismen – aus
Hilflosigkeit oder Unwissenheit – jedoch nicht begreifen
können/wollen, in ignoranter Verhohnepipelung ausschlachten und zum
Bad Taste-Slapstick degradieren.
Bei aller Fülle von Schriften über die Filme
Dario Argentos darf man „Anatomie der Angst“ ruhigen Gewissens
als das (zumindest im deutschsprachigen Raum) ultimative Referenzwerk
krönen. Die Aufsätze, Essays und Rezensionen der vertretenen
Autoren laden zur mehrmaligen Lektüre ein und stellen eine geradezu
bewusstseinserweiternde Erfahrung in Bezug auf Argentos Gesamt-Output
dar. Der Rezensent hat jedenfalls große Lust bekommen, das Werk
dieses einflussreichen italienischen Filmemachers unter den erworbenen
Erkenntnissen erneut anzuschauen und zu bewerten. Das ist dann, im besten
Sinne des Wortes, weiterführende Fachliteratur. Essentiell.
Pelle Felsch
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