Eindrücke aus einem neuen Fin de siècle

Ein Interview mit dem Fotografen George Guillemin

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In der Monochronomie, in der Abmattung der Farben, findet sich immer etwas Verstörendes wieder. Die Reduktion der Farben wirkt unecht, lässt eine artifizielle Aura entstehen. Nur die Vergangenheit ist noch monochrom, atmet die Blässe und die Abwesenheit der kräftigen Farbnuancen. Ein nostalgisches Rücksehnen findet sich auch in der Romanze mit dieser monochromen Stimmung bei dem Fotographen George Guillemin, aber er lässt immer wieder die Gegenwart einfließen. Im Grund ist die Geschichte um die verlorenen Bilder des Großvaters ebenso fiktiv wie seine Bilder, der Reiz liegt jedoch in den Möglichkeiten. Und genau wie seine Modelle auch immer wieder die Möglichkeit des Jetzt, der Gegenwart darstellen, mit ihren Insignien der heutigen Zeit, so ist es jedoch immer auch eine Referenz an die Fotographie des ausgehenden Fin de Siècle, des dekadenten Paris der 20er Jahre. Jugendstil mischt sich dabei mit Symbolismus, und es sind die ästhetischen Momente, welche die Fotos aus dem Deutbaren heben. L’Art pour l’art ist jedoch nicht zwingend die Domäne des George Guillemin, vielmehr verbindet er geschickt Fiktion, Erotik und moderne Methoden mit selbstbewussten Körpern, die nicht immer das absolut Perfekte, sondern vielmehr die menschliche Sexualität als Anziehungspol nutzen und sich damit dem Hochglanztrend diverser Kollegen schlichtweg verweigern. Aber genau dort liegt auch die herrliche Anrüchigkeit der Bilder. Sie schildern keine pure Sexwucht, sondern dezente, grazile und anmutige Erotik, die sich langsam entfaltet, die Schönheit eben im Fragilen, im Vergänglichen sucht. Das Ephemere wurde festgehalten, ist nicht mehr wiederholbar aber immer wieder memorierbar – am Schluss bleiben ohnehin nur (monochrome) Erinnerungen.


Bitte erläutern Sie doch ein wenig, wie Sie zur Fotografie gelangt sind.

Ich fing, glaube ich, im Jahr 1998 an, über das übliche Maß hinaus zu fotografieren. Anlass war eine Festwoche in einem Schloss in Bayern, die ich mit der Kamera begleitete. Im Zuge dieser Arbeit und in diesem tollen Ambiente liefen mir immer wieder zwei Balletttänzerinnen anmutig durchs Bild, und die resultierenden Bilder machten Mut genug zum Weitermachen. Es dürfte also etwa seit dieser Zeit sein, dass ich Frauen fotografiere. Mittlerweise wäre mein Traum, mich für einige Wochen in eben jenem Schloss mit zwei Dutzend Models zu verschanzen, und daraus ein feines albernes Buch zu machen, irgendwie im Stil von Ellen von Unwerths Buch Revenge.
Ansonsten muss man sagen, dass die Fotografie eher zu mir kam als umgekehrt. Als erstes fand die Kamera meines besten Freundes ihren Weg ins Haus, dann einige Objektive, eine zweite Kamera, Lampen, Dunkelkammerkram und so weiter. Die Fotobildbände, die mir als Inspiration dienen, werden immer zahlreicher, darunter Bücher von Jan Saudek, Sally Mann, Robert Maxwell, Sarah Mann und Bettina Reims. Die Theorie dagegen verzieht sich mehr und mehr in die andere Ecke des Bücherregals, und wirklich beeindruckt haben mich da hauptsächlich die Namen, die sowieso jeder kennt: Susan Sontag, Roland Barthes, Andreas Feininger, John Hedgecoe. Das Beste, was ich in letzter Zeit zum Thema Aktfotografie gelesen habe, ist das Vorwort zu Women by Women (Prestel, 2003) von Sophie Hack und Stefanie Kuhnen.

Was ist das Besondere für Sie am Fotografieren, welche Aspekte sind es, die Sie besonders reizen? Welche Momente wollen Sie festhalten?

Das Besondere an der Fotografie, im Gegensatz zum Film, ist meiner Meinung nach, dass sie den Augenblick einfriert, ihm die Dimension der Zeit wie auch die Sprache nimmt und in diesem Sinne ähnlich wie die Erinnerung zu funktionieren scheint. Unser Gedächtnis speichert die Vergangenheit eher in einzelnen Bildern ab, und weniger in Filmsequenzen, und das ist wohl auch mit ein Grund, warum Fotos an sich schon nostalgisch wirken, egal wie alt sie sind. Das Motiv ist immer, die Gegenwart für die Zukunft aufzubewahren wie im Weckglas, und der Preis dieser Verewigung ist bekanntermaßen, dass die Gegenwart augenblicklich zur Vergangenheit wird, schön und tot wie der aufgespießte Schmetterling.
Interessanterweise macht aber gerade dieser Memento-Mori-Gestus der Fotografie ihren ursächlichsten Reiz aus, wobei dieser theoretisierte Aspekt natürlich erst im nachhinein ins Spiel kommt (Gott sei Dank, denn es wäre ja schier unmöglich, mit der Kamera in der einen Hand und einem Totenkopf in der anderen kreativ zu arbeiten). Die Momente, die ich festhalten möchte, sind solche, in denen Frauen sich vergessen oder sich an sich erinnern, aber auf jeden Fall sie selbst werden, zu sich kommen und die Befangenheit vor der Kamera verlieren. Ideal wäre es, wenn ich die Bilder von ihnen machen könnte, die sie selbst von sich machen würden.

Monochrome Romance erzählt eine fiktive Geschichte, so zumindest habe ich es verstanden, über Ihren Großvater. Wie kamen Sie auf die Geschichte?

Bilder und Texte miteinander zu verbinden, liegt nahe, denn beide erzählen auf gar nicht so unterschiedliche Art ihre Geschichten. Der Gedanke, den Bildern einen Text an die Seite zu stellen, kam mir zusammen mit dem Wunsch, dieses Retro-Art-Projekt mit etwas Anderem als nur der Nostalgie für die Fotografie einer anderen Epoche zu legitimieren. Nicht zuletzt ging es auch darum, den Kitsch-Vorwurf von vornherein zu entkräften, indem ich dem Werk einen fingiert dokumentarischen Charakter gab. Das resultierende „Mockumentary“ ist so absurd in seiner kaum kaschierten Selbstrechtfertigung, dass es mir alle Freiheit der Welt ließ, umgekehrt auch die Bilder so verspielt und absurd werden zu lassen, wie sie gerade sein wollten (und ihren eigen Willen haben sie wieder und wieder bewiesen: Nichts am letztendlichen Layout war so geplant).
Daneben entstand die ganze Sache, wie jeder Kunstschwindel, auch aus Spaß an der Freude. Es war in der Tat ein Heidenspaß, die historischen Belege aufzuspüren und ihrem Zweck zu entfremden. Dabei spielte die Balance zwischen Erfindung und Authentischem eine ganz große Rolle, denn es stammen ja nicht alle Elemente dem Reich der Phantasie: einen Urgroßvater dieses Namens hat es wirklich gegeben, und die Bilder basieren zum Teil tatsächlich auf Aufnahmen aus der Zeit um 1900, wenn auch nicht denen meines Urgroßvaters. Auch die Geschichte ist schon älter und wurde von mir erst wieder ausgegraben.

Glauben Sie, dass es Parallelen zwischen dem Fin de Siècle 1900 und dem Fin de Siècle 2000 gibt?

Zumindest hier am Ort kann man diese Frage meiner Ansicht nach mit Ja beantworten, denn Berlin war um 1900 gerade mal 30 Jahre deutsche Hauptstadt gewesen. Und 2000 war Berlin auch erst wieder seit zehn Jahren Hauptstadt, das Land in beiden Fällen politisch orientierungslos nach einer relativ langen Friedensperiode. Gleichzeitig hat sich damals wie heute die Kunst mehr oder weniger von politischen Ansprüchen freigeschwommen und eine ähnliche Faszination mit Jugend und Apokalypse, mit Genese und Verfall an den Tag gelegt. Retrospektive und ratloses Warten auf eine neue Ästhetik finden sich ebenfalls hier wie da.
Ich bin natürlich nicht vom Fach und somit von dieser Frage überfordert. Immerhin musste ich mir ja extra einen kleinen Unsinn ausdenken, um diesen Spagat zwischen damals und heute in Monochrome Romance zu leisten. Leute, die etwas von der Sache verstehen, werden vermutlich mit den Augen rollen.

Man spürt bei den Bildern auch einen leichten Einfluss der Decadence, jedoch mehr von der ästhetischen Seite, die Philosophie schlägt sich nicht in den weichen Bildern wieder.

Ich bin kein Kunsthistoriker, und stimme zu, dass es in Monochrome Romance in erster Linie um die Faszination mit Frau, Jugend und Natur ging, die auch der Kunst der Decadence innewohnt. Meinem Buch liegt kein philosophisches Konzept zugrunde. Es ging mehr um kreatives Recycling als um die Neuerfindung der Kunst. Wäre eine Zeitmaschine zur Hand gewesen, hätte ich mich gerne samt Ausrüstung ins Jahr 1903 katapultiert und ohne große Reflektionen mitgemischt, einfach weil es eine tolle Zeit gewesen sein muss: Die Kunst erlebte eine Blüte, die Fotografie blühte überhaupt zum erstenmal auf, die großen europäischen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts hatten noch nicht stattgefunden, die Psychologie hatte ihre große Zeit, und nicht zu vergessen war es eine Zeit ausgeprägter Sinnlichkeit.

Einige (alle?) Bilder wurden nachträglich bearbeitet, welche Mittel
benutzen Sie und nach welchem Prinzip sind Sie vorgegangen?

Die Bilder sind ein bisschen gephotoshopt, manche mehr, manche weniger. Es geht auch heutzutage gar nicht anders. Spätestens in der Druckvorstufe verabschiedet sich die Dunkelkammer und reicht den Stab an den Computer weiter. Die Abzüge selbst aber sind auf einem tollen tschechischen Barytpapier gemacht, das von Haus aus einen sehr warmen Braunton hat, den zusätzlich mit Schwefeltoner (und in einigen Fällen mit Goldtoner) intensiviert wurde. Die Fabrik in Tschechien, aus der dieses Papier stammt, ist fast so alt wie die Fotografie selbst und hat einen wesentlichen Anteil am Gelingen dieser Retro-Projekts. Vielleicht sollte ich da mal ein Exemplar des Buches hinschicken.
Kurioserweise sollte das Buch eigentlich ein Buch mit Schwarzweißfotos werden, der Name sagt es ja: monochrom. Irgendwann haben sich die Bilder quasi selbständig gemacht und sich selbst für die Handkolorierung entschieden, ohne sich drum zu scheren, dass sie damit meinen Buchtitel ad absurdum führten. Mit anderen Worten, es gab eigentlich ein strenges Arbeitsprinzip, das dem Schalk zum Opfer fiel, als die Bilder sich immer mehr Richtung handbemaltem Osterei bewegten. Das Schwarzweißbuch steht so gesehen noch aus. Es ist ja auch im Grunde nicht verkehrt, noch etwas vor sich zu haben.

 

Inwieweit spielen auch mythologische Versatzstücke in Ihren Bildern eine Rolle?

Das Buch knüpft in mehreren Bildern an die katholische Ikonographie an, die letztlich immer noch ein wesentlicher Bezugspunkt in der abendländischen Ästhetik ist, soweit ich das mit meinem unbedarften Fotografenauge sehe. In der Darstellung der Mutter Gottes mit dem Kind verbeugt sich mein fotografischer Klamauk vor den Arbeiten von Bettina Rheims, der bedeutendsten französischen Fotografin unserer Zeit und mein meist bewundertes Vorbild. Ein anderes Motiv, das vorkommt, ist die Meerjungfrau, und in beiden Fällen – also sowohl bei Sirene als auch bei Madonna – unterstreicht diese mythologische Neuinterpretation einer weiblichen Rollenvorgabe den Ausnahmecharakter der Aktfotografie. Bei diesen Bildern tritt das Model kurz aus seinem individuellen Kontext heraus und setzt sich in einen mehr oder weniger ernstzunehmenden Bezug zu solchen kollektiven Identitätsangeboten, welche die Kunst Frauen von jeher außerhalb der sozialen Rollenverteilung zugestanden hat. Neben den genannten Motiven sind auch andere im Buch zu finden. Nur die Hexe wurde aus gutem Grund ausgelassen. Die jeweiligen Mädchen haben diese Theaterspielerei immer mit großem Ernst betrieben, und vielleicht wäre es am schlauesten, nur noch mit mythologischen Versatzstücken zu arbeiten.

Haben Sie eine bestimmte Vision, eine Zielsetzung, die sie mit Ihren Bildern erreichen wollen?

Die Vision ist ganz klar, alle Frauen mit großen Augen zu fotografieren und darüber den Verstand zu verlieren. Es gibt weitere konkrete Projekte, die irgendwann noch verwirklicht werden sollen, wenn es Zeit und Geld irgendwie zulassen, aber ansonsten ergibt sich die Richtung meiner Arbeit allein aus den chaotischen Umständen, unter denen sie vonstatten geht. Bestimmende Faktoren bei der Festlegung irgendwelcher Ziele sind u. a. die Launen der Models, das völlig unberechenbare Wetter in Berlin, und die Hasenfüßigkeit der Verleger. Im Ergebnis stellt sich meine Vision als ebenso wirr heraus wie die menschliche Wahrnehmung selbst.

Ihren Bildern haftet etwas "verruchtes" an, was früher als anstößig, heute meist jedoch als fast schon wieder "harmlos" angesehen wird. Glauben Sie, die Überpräsenz des Physischen tötet die Erotik, die reizvollen Leerstellen?

Bei genauerer Betrachtung meiner Bilder wird auffallen, dass die meisten Frauen noch jede Menge Stoff am Körper haben. Ich achte sehr darauf, dem Physischen keine allzu große Präsenz einzuräumen, und stattdessen einen Gegenentwurf zum erotischen Materialismus der Herrenmagazine anzubieten. Es ist sicher richtig, dass Nacktheit an sich längst nichts Skandalöses mehr an sich hat, und das ist auch voll und ganz zu begrüßen. Es erleichtert die Arbeit schon ungemein. Es wäre echt zuviel verlangt, wenn man die Frauen auch noch überreden müsste, sich auszuziehen, oder um seinen Ruf fürchten müsste.
Wenn es also überhaupt ein verruchtes Element in meinem Bildern gibt, dann ist es allenfalls der „Now-you see-me-now-you don’t“-Habitus der Mädchen, das Kalkül von Scheherazade, die ihre Reize und ihre Erzählkunst nur instrumentalisiert, um ihre Haut zu retten, nicht um sich auszuliefern. Bei allem, was sie so sehen lassen, habe ich immer das Gefühl, dass die Frauen in meinen Bildern eigentlich so gut wie nichts von sich preisgeben, nicht mal ihre Körperlichkeit. Ich finde, sie werden unbekleidet eher noch rätselhafter als mit der Kleidung und erzeugen in ihrer unbestimmten Sinnlichkeit wenn keine reizvolle Leerstelle, dann wenigstens eine Nullsumme im reizenden Widerstreit von Verführung und Voyeurismus. Natürlich möchte das Kameraauge immer näher ran und die Distanz zum Menschen vor der Kamera ganz aufzuheben, aber dass gelingt allenfalls den Frauen hinter dem Sucher, Fotografinnen wie Frau Rheims eben. Als Mann blickt man da buchstäblich nicht durch, bleibt immer Spielball der Spannung zwischen den Geschlechtern. Vielleicht soll es auch nicht anders sein.

George Guillemin: Monochrome Romance – Turn-of-the-Century Nudes from the Eizenhöfer Archives (Edition Café de Nuit)

Fotos veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Fotografen. Mehr in :Ikonen: Nr. 6, 2005

Martin Kreischer