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Marcus Stiglegger
„Zu einer Liebe, da gehört schon ein Schmerz“
Body politics in Rainer Werner Fassbinders Berlin Alexanderplatz
Ins Dasein geworfen
In einer U-Bahnstation im Berlin der zwanziger Jahre verkauft
der arbeitslose Franz Biberkopf ein Nazi-Propganda-Blatt, den „Völkischen
Beobachter“. Er hat sich zudem überreden lassen, die Hakenkreuzarmbinde
zu tragen, was ihm eine deutliche Position im ideologischen Geflecht der
Weimarer Republik zuweist. Sozialistische Arbeiter, die ihn von früher
kennen, kommen vorbei; es entstehen unvermeidliche Spannungen. Biberkopf
beharrt trotzig auf seiner Position: Dieses Hakenkreuz stehe für
nichts, das er nicht vertreten könne. Die gereizten Männer rücken
nun auch physisch näher. Bestanden die vorangehenden Szenen noch
aus einer in Gegenschüssen aufgelösten Blickdramaturgie, wird
nun das Geschehen für einen Moment unterbrochen: In einer auf sich
selbst verweisenden Kadenz der Kamera bekommt sie mitten im Geschehen
ein Eigenleben und bewegt sich um die bedrohlich um Biberkopf positionierten
Männer in einer ruhigen Kreisfahrt. Alles Geschehen scheint in diesem
Moment der Reflexion zu erstarren. Die Inszenierung macht in diesem Illusionsbruch
die absolute Isolation deutlich, in der sich Biberkopf hier wiederfindet.
Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie Berlin Alexanderplatz (1980), aus
deren zweiter Folge diese Szene stammt, unternimmt den Versuch, in einem
immer komplexeren Geflecht von persönlichen Tauschbeziehungen ein
gesellschaftliches Modell zu entwickeln, das den Körpern der Protagonisten
die deutsche Geschichte jener Jahre förmlich einschreibt. Und, wie
Thomas Elsässer es in seinem Fassbinder-Buch formuliert (1996 / 2001,
S. 412): „Wenn eine Vergangenheit so monströs ist wie jene,
über die sich Fassbinders Generation verpflichtet fühlte Rechenschaft
abzulegen, dann wird ihre sinnvolle Darstellung notwendigerweise Merkmale
dieser Monstrosität aufweisen.“ Doch ein solches Modell birgt
auch mehr: Es erzählt von der Dekonstruktion und Neuformierung eines
tragischen Helden, dessen Körper und Identität wie in einem
schamanischen Initiationstod „geschmiedet“ wird, und der sich
am Ende, dem Wahnsinn verfallen, in einem mythischen und sakralen Raum
wiederfindet, in dem er seinem Schicksal wie in einer Schleife ausgeliefert
ist.
Rainer Werner Fassbinders Oeuvre ist ein überbordendes
Lebenswerk, das viel zu früh vom Tode her betrachtet werden kann.
Der Filmemacher, der in jenem für seine künstlerische Selbstdefinition
so wesentlichen letzten Kriegsjahr 1945 geboren wurde, starb bereits 1982
- vermutlich in Folge seines unbändigen Arbeitswahns und seines exzessiven
Drogenkonsums. Sein ganzes Wirken hatte er dem deutschen Kino und der
Bühne gewidmet, mal mit großem, mal mit weniger großem
Erfolg, immer aber schien er für einen Skandal gut zu sein. In der
Gesamtperspektive kommt gerade seiner Fernsehserie Berlin Alexanderplatz,
einem aus vielerlei Gründen zutiefst persönlichen Autorenwerk,
große Bedeutung zu. Dieser 15-stündige Film ließe sich
in seiner Gänze betrachtet durchaus als die Summe des Fassbinderschen
Oeuvres bezeichnen.
Zahlreiche Motivketten ziehen sich von den frühesten
Beispielen an durch Fassbinders Filme und Bühnenstücke: das
Gangstermilieu, die unmögliche Liebe, der Komplex Sexualität,
Gewalt und Macht, das deutsche Trauma des Nationalsozialismus‘ und
nicht zuletzt die Auslieferung des Individuums angesichts eines tragischen
Daseins. „Das wichtigste ist, scheint mir, Unbehagen an den Einrichtungen
des Bürgertums zu schaffen.“ (Motto seiner „Ajax“-Inszenierung,
1968) Dieser Satz erklärt Fassbinders Wendung weg vom Bürgertum
der Nachkriegszeit, mit dem er in einigen Filmen abrechnet, am Radikalsten
wohl in Warum läuft Herr R. Amok?, hin zu den Ausgestoßenen
der Gesellschaft, den Abjekten, Existenzen am Rande, die um so mehr unter
ihrem Dasein zu leiden haben: Gastarbeiter, Transsexuelle, Arbeitslose,
allesamt Opfer. Standen zu Beginn die Rituale und Gesten der klassischen,
oft amerikanischen Filmhelden im Mittelpunkt, fand Fassbinder bald zu
einem eigenen Kosmos, in dem vor allem Frauen und Männer einander
in einem nahezu auf Dominanz und Unterwerfung basierenden System ausgeliefert
sind. Das grausame Melodrama Martha (1974) führt diesen Komplex exemplarisch
vor: ein zynischer Ehemann zelebriert die systematische Unterwerfung seiner
Frau. Von der Freiwilligkeit und dem gegenseitigen Einverständnis
des sadomasochistischen Spiels ist hier nichts zu finden. Für Fassbinder
ist die Geschlechterbeziehung Politik, ausgetragen auf dem Spielfeld der
Körper. Das Verhältnis von Mann und Frau, später häufiger
auch von Mann zu Mann lässt sich als konsequente body politic beschreiben,
in der sich der/die Schwächere dem Stärkeren unterzuordnen hat.
Und zugleich ist immer eine Wehmut spürbar, ein Blick für die
Opfer dieser grausamen Körperpolitik, die wiederum als Außenseiter,
als Abjekte des konstatierten Systems Fassbinders Interesse erwecken.
Ein sich selbst verzehrendes System zwischenmenschlicher
Abhängigkeiten schildert Fassbinder immer wieder, und es verwundert
kaum, dass seine Filme von den frühesten Beispielen an häufig
im Selbstmord enden. Eine Flucht ist nur temporär möglich, gerät
meist zur Illusion. Am Ende steht der Tod oder die Vereinnahmung des Fremden
durch die Gesellschaft. Liebe könnte dabei bleiben als die romantisch
besetzte Idee der Revolte gegen das System, doch für Fassbinder ist
die Liebe „das beste, hinterhältigste und wirksamste Instrument
gesellschaftlicher Unterdrückung“, wie er über sein Vorbild
Douglas Sirk schrieb. Die bürgerliche Utopie der Liebe ist bei ihm
die schleichende Affirmation eines Unterwerfungssystems. Zugleich bleibt
Fassbinders Geschlechter-Diskurs kontrovers: „Die meisten Männer
können nur nicht so perfekt unterdrücken, wie die Frauen es
gerne hätten,“ schrieb er einmal.
1972, mit Händler der vier Jahreszeiten, begann Fassbinders
kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts,
hier noch verortet in der Adenauer-Ära, jenem Siegeszug des Kleinbürgertums
in der Bundesrepublik Deutschland. In mehreren Filmen widmete er sich
dann der Vorgeschichte und der Zeit des Nationalsozialismus‘. Nimmt
man all diese Motive und Interessen zusammen, musste der Weg Fassbinders
schließlich zurück zu jenem Roman führen, der ihn als
jungen Mann so fasziniert und geprägt hatte: Alfred Döblins
in der Weimarer Republik angesiedelte Arbeitertragödie „Berlin
Alexanderplatz“ (1929).
Auch hier, in der Fernsehserie Berlin Alexanderplatz, bekommen
wir einen einfachen, nahezu naiven Mann vorgestellt: Franz Biberkopf ist
ein ins Dasein geworfener, der einen lebenslangen Kampf um das und für
das Leben führt, ohne einen Sinn darin zu finden. Statt dessen zerstört
er das Leben anderer Menschen, die er verletzt oder gar tötet - wie
seine Lebensgefährtin Ida. Biberkopf ist ein Mann von massivem Wuchs,
einer etwas bequemen Schwere, aber auch einer erstaunlichen Stärke.
Sein oft verständnisloser Gesichtsausdruck vermittelt diese oberflächliche
Stärke letztlich als fast kindliche Unsicherheit. Die zutiefst als
verstörend empfundene Unvollkommenheit des Selbst, des Körpers
wie der Psyche, auch das ist ein immer wiederkehrendes Thema in Fassbinders
Werk. „‘Ich ertrage es nicht, meinen Körper nicht selbst
gestaltet zu haben‘, sagt Artaud. Die Kunst liegt darin, wieder
auszugehen von der primären sozialen Bindung, von der die Gesichter
verzerrenden Angst: Martha, Effi Briest, Veronika Voss, Franz Biberkopf,
am Anfang von Berlin Alexanderplatz [...]. Aus der angstvollen Verzerrung
formt Fassbinder die Figur - um von neuem mit dem Körper zu beginnen,
auch auf die Gefahr hin, die Zerstörung nicht überwinden zu
können“ (Nicole Brenez, „Die Anti-Körper“).
Die Zerstörung, Schändung und letztlich die Wiedergeburt des
Körpers also feiert Fassbinder in diesem programmatischen Werk.
Mütter und Huren
In einer Betrachtung des vielschichtigen Systems von body
politics in diesem Werk bleibt es nicht aus, zunächst die Beziehung
der Geschlechter zu untersuchen. Meist werden die Frauen in Berlin Alexanderplatz
als Huren etabliert, um sich dann als Mutterfiguren zu entlarven. Die
Prostituierte, die Biberkopf nach seiner Entlassung aufsucht, ist eine
sexuelle Kontrollinstanz, unter deren Überlegenheit sich Biberkopfs
Männlichkeit nicht entfalten kann. Er flüchtet förmlich
aus ihrem Apartment, um in der spontanen Dominanz über Minna, die
Schwester seiner toten Frau, die Kontrolle über seine Männlichkeit
wiederzuerlangen. Der Bruch des schwachen Widerstandes während der
Vergewaltigung motiviert sich auf seiten der Frau fast durch mütterliches
Mitleid, das sie dem verzweifelten, wenn auch gewalttätigen Mann
entgegenbringt. Die Serie legt in einem fatalen Schluss nahe, dass den
Frauen kaum etwas anderes übrig bleibe, als sich der Aggressivität
und Unberechenbarkeit der Männer zu beugen, sie zu akzeptieren als
Triebwesen von kindlichem Gemüt.
Die ganze Serie ist von einem System des seriellen Partnertauschs
dominiert, wobei wechselweise Männer und Frauen zum sexuellen Tauschobjekt
geraten können. Die männlichen wie weiblichen Protagonisten
werden auf einer endlosen Suche nach Doppelgängern und Surrogaten
gezeigt, wobei gerade der Protagonist zunächst scheinbar kein Problem
damit hat, selbst zum Tauschobjekt zu werden: In Episode 3 zeigt sich,
wie angreifbar gerade Franz Biberkopf in seinem naiven Versuch ist, geradeheraus
und anständig zu bleiben, völlig unbewußt aber mit gefährlichen
Mechanismen spielt. Beim Schnürsenkelverkauf an der Haustür
wird er von einer vereinsamten Witwe eingeladen und verführt, da
er so große Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Gatten habe
- sie nimmt ihn also im Tausch gegen den verstorbenen Partner. Biberkopfs
spätere Aufschneiderei vor dem Kollegen Lüders führt folgerichtig
zu dessen Überfall auf die wehrlose Witwe, die er zunächst verbal
demütigt, als sie sich nicht auch ihm sexuell gefällig zeigen
will. Lüders will die Frau wie eine Trophäe mit Biberkopf teilen.
Als Biberkopf von den destruktiven Auswirkungen seines Vertrauens in den
vermeintlichen Freund hört, verliert er fast den Verstand. Er kann
die selbstverschuldete Korruption nicht verkraften, kann nicht glauben,
wie sein Vertrauen missbraucht wurde, wie er mitschuldig am Leid der einsamen
Witwe geworden ist. Doch er wird später selbst Teil eines rücksichtslosen
heterosexuellen Ausbeutungssystems werden.
Am Ende dieser 2. Episode kommt es erstmals zu einem gewollten
Frauentausch: Biberkopfs Freund Meck ‚übernimmt‘ die
Geliebte Lina. In der Konsolidierung der männlichen Protagonisten
erscheinen die Frauen als sexuelle Tauschware, was sie einem permanenten
Kampf zwischen Suche nach Liebe und Auslieferung aussetzt. Größere
Ausmaße nimmt dieser Frauentausch in der 5. Folge an: Dort wird
das Verhältnis zwischen Biberkopf und Reinhold etabliert. Die Männer
werden als grundverschiedene Widergänger, Antipoden, eingeführt,
zwischen denen sich eine brüderliche Hassliebe ausprägt. Für
Biberkopf verkörpert Reinhold die Männlichkeit und Härte,
die er ersehnt und bewundert. Auch äußerlich scheint er ihn
anziehend zu finden: So beschreibt er verzückt dessen „traurige
Augen“. Reinhold dagegen ist irritiert von Biberkopfs Menschenfreundlichkeit,
die er im Verlauf prompt ausnutzt. Reinhold sieht in Biberkopf einen schwächeren
Bruder, den es zu schützen aber auch zu demütigen gilt, um die
eigene Stärke herauszustellen. Zugleich schwingt hier eine vage Hoffnung
mit, dass ihn Biberkopf aus seiner emotionalen Verhärtung befreien
könnte... Reinhold wird von seiner früheren Geliebten Cilly
beschrieben als ein Mann, der weder Liebhaber noch Zuhälter ist,
sondern einer Manie verfallen ist, eine Frau nach der anderen zu erobern,
sie dann aber nach kurzer Zeit wieder fallenzulassen. Er kleidet sich
gepflegt und kann tanzen, wie sie erzählt. Biberkopf als etwas tumber
Proletarier hat dagegen nur eine scheinbare Verlässlichkeit und Solidität
zu bieten, die er in seinem Vertrauen auf Reinhold jedoch selbst untergräbt.
Das System des seriellen Frauentauschs, das sogleich zwischen den beiden
Männern etabliert wird, scheint diese Freundschaft zunächst
zu festigen. Biberkopf vertraut auf Reinholds Klagen, die seine Beziehungsproblemen
offenlegen. „Du nimmst die Weiber ja wirklich ernst...“ verlacht
er ihn. Wie in existentieller Not bittet ihn Reinhold, Fränze ihm
‚auszulösen‘: „Nimm sie mir ab! Du kannst sie ja
später laufen lassen.“ Als es um Cilly, die zweite Frau, geht,
beteuert Biberkopf, er sei eigentlich ganz zufrieden mit Fränze,
die ihn hausfraulich umsorgt, mit der „es auch im Bett funktioniere“.
„Eigentlich wollt‘ ich mir erst im Frühjahr eine neue
Braut suchen,“ sagt er. In dieser Straßenszene umkreist Reinhold
Biberkopf langsam, als wolle er ihn in sein Netz einflechten, und in der
Tat: Biberkopf wird Fränze auf abstoßende Weise vergraulen.
Bei einem gemeinsamen Nachmittagskaffee mit Fränze und einem Freund,
bricht er einen selbstzweckhaften Streit vom Zaun, der die erschütterte
Frau in die Arme des vereinsamten Freundes treiben soll. Fränze ist
somit unfreiwillig ein mütterliche Frau, die von Biberkopf aus Solidarität
mit Reinhold zur Hure gemacht wird. Die Frauen in dieser Episode werden
in all ihrer Verschiedenheit gleichsam als Spielbälle männlicher
Händel geschildert. Nur die tanz- und vergnügungssüchtige
Cilly kann sich mit einem hysterischen Anfall zunächst durchsetzen.
Auf einem Toilettengespräch in Folge 6 erklärt Reinhold, warum
er nun auch Trude loswerden möchte: „Wirklich, Franz, ich ertrag
die nich mehr, die Trude, ich ertrag sie nich mehr. Versteh doch, die
ekelt mich an, die ekelt mich ganz einfach an. Wenn die kaut, dann hör
ich das - wie Explosionen, oder wenn sie schluckt oder wenn sie mich anschaut,
dann könnt ich ihr, ich weiß nich, den Hals könnt ich
ihr einfach umdrehn. Sie is mir über, Franz sie is mir ganz einfach
über, und ich muss sie loswerden, ich muss. Und ich muss sie heute
schon loswerden.“ Es ist die schiere körperliche Präsenz
der Frau, die Aggressionen erzeugt. Erst in diesem Kontext kann sich Biberkopf
von Reinholds Forderungen emanzipieren: „Ich stoß die Cilly
nich ab, hat sich schön bei mir eingelebt, die Cilly, und is n anständiges
Stück Weib. Und du, das sag ich, du solltest auch mal n bißchen
bremsen, wie sich das gehört fürn anständigen Menschen.
Mensch, Reinhold, das kann doch einfach so nich weitergehn.“
Die mütterliche Frau wird als Pol der Bequemlichkeit
von Biberkopf gerne gesehen, doch als Geliebte taugt eher das quirlige
Tanzlokalgeschöpf. Ohnehin zieht es Biberkopf immer wieder zu seiner
alten Zimmerwirtin Frau Bast, einer Ersatzmutter, die ihn offenbar mag
und sich um ihn sorgt. Als Reinhold Biberkopf beweisen will, dass er es
auch länger mit Trude aushält, zeigt sich dieser zufrieden und
formuliert sein Frauenbild: „Weiber sind gut und können Spass
machen. Aber siehst du, wenn du mich fragst, was ich noch davon denke,
von die Weiber, dann sag ich: nich zu wenig davon, aber auch nich zu viel.
Wenn zuviel is, dann wird’s gefährlich, die Finger davon. Da
kann ich ein Lied von singen.“ Ein Beispiel für die Katastrophe
der seriellen Promiskuität zeigt die Sequenz aus Folge 6, in der
Reinhold seine Freundin Trude mit brutaler Gewalt demütigt und aus
der Wohnung wirft, woraufhin sich Cilly ihm erneut annähert mit den
Worten: „Im Grunde war sie doch ne ziemlich faule Person, hat sich
nie so recht um was gekümmert, nich?“ Sie umarmen sich und
tanzen. Auch unter den Schicksalsgefährtinnen gleichen Geschlechts
herrscht keine Solidarität.
Später soll Biberkopf doch noch die ersehnte Liebe
finden: Das Mädchen Sonja, das er Mieze nennt, sorgt sich zärtlich
um ihn und wird dafür wie eine Ersatztochter vergöttert. Aus
Liebe zu ihm prostituiert sie sich, womit er nie wirklich zurechtkommt.
Doch das fragile Glück dieser zunächst ausgeglichenen Beziehung
wird jäh bedroht, als Biberkopf wiederum Kontakt zu Reinhold knüpft.
In Folge 11 wird eine drohende Katastrophe vorbereitet. Reinhold überrascht
Mieze vor ihrer Wohnungstür, lauert ihr förmlich auf. Gegen
das hell erleuchtete Fenster, vor dem er steht, wirkt seine Präsenz
diffus und bedrohlich, um so bedrohlicher, je mehr sich das Mädchen
seinen Kontrollversuchen entzieht. Später wird sich Reinhold wiederum
auf das gemeinsame Tauschsystem berufen: Er und Biberkopf hätten
alle Frauen getauscht, warum nicht auch sie? Doch die junge Frau, die
aus tatsächlicher Liebe agiert, verweigert sich diesem System, was
eine Katastrophe beschwört.
Von der Zärtlichkeit in der Gewalt
Sexualität ist in Berlin Alexanderplatz immer verknüpft
mit einem Zug der Gewalt und Domination. Franz Biberkopfs primärer
Ausdruck von Begehren zahlreichen Geliebten gegenüber ist ein vampirischer
Gestus: ein schmerzhafter Biss in den Hals. Lina akzeptiert bereits in
der ersten Folge schnell diesen gewalttätigen Zuneigungsbeweis und
lässt sich auch später immer wieder dadurch von der Kontinuität
von Biberkopfs Zuneigung überzeugen. Dass solchen intimen Gesten
keine Exklusivität innewohnt, wird sich bei jedem weiteren Verführungsakt
zeigen, denn Biberkopf nutzt diese animalische Geste, um eine physische
Überwältigung der potentiellen Partnerinnen einzuleiten. Zugleich
deutet sich in diesem vampirischen Akt auch das ‚Aussaugen‘
der Partnerinnen an, die ihn alle nur eine gewisse, von ihm selbst festgelegte
Zeitspanne begleiten werden. Er nutzt ihre unterschiedlichen Qualitäten,
seien sie nun mütterlicher oder sinnlicher Art, solange er diese
benötigt. Sein körperliches Verhalten ist stets gleich: ungestüm
und grob, nie unternimmt er den Versuch, auf die Individualität seiner
Frauen einzugehen.
Dieses Verhalten ändert sich erst, als Biberkopf das
Mädchen Mieze kennenlernt. Fassbinder inszeniert dies als einen fragilen
Moment traumhafter Schönheit. Biberkopf ist hingerissen, als sie
zum ersten Mal vor ihm steht in ihrem weißen Kleid und mit ihrer
mädchenhaften Frisur. Er verbringt einen idyllischen Tag am See mit
ihr. Zum ersten Mal in der Serie kreiert Fassbinder hier Eindrücke
einer zwischenmenschlichen Idylle. Lange Nahaufnahmen, lichtüberflutet,
sogar im Freien des Waldes inszeniert, vermitteln dem Zuschauer Biberkopfs
Gefühle. Erstmals äußert sich sein Begehren in zärtlichen
Gesten, erstmals behandelt er die Frau nicht als Hure, sondern eher wie
eine Tochter, die er nie hatte. Doch auch hier werden bereits Brüche
inszeniert: Da er durch Reinholds Schuld einen Arm verlor, muss Biberkopf
mühsam das Paddel des Ruderbootes von einer Seite auf die andere
wuchten. Dieser Kraftakt wird erst in Heranschnitt in die halbnahe Einstellung
deutlich. Beim Blinde-Kuh-Spiel im Wald stürzt er und verletzt sich
am Kopf. Als Mieze ihn umsorgt, wird der distanzierte Kamerablick verstellt:
Blätter schieben sich vor die Totale. Solche Momente der Nähe
bleiben stets labil und unzuverlässig. Auch häufen sich hier
die eingeblendeten Schrifttafeln, die Biberkopfs Innenleben beschreiben,
als wäre den Bildern alleine nicht zu vertrauen. Und tatsächlich
wird es Fassbinder bei diesem kurzen Traum belassen: Als Biberkopf einen
Liebesbrief von Miezes Freier findet, sehen wir einen langen, sehr blutigen
Rückblick, in dem Biberkopf Ida erschlägt.
Biberkopfs Versöhnung mit Mieze in Folge 9 findet wie
die vorangegangenen ersten Liebesszenen im hellen Tageslicht statt. Er
beobachtet sie aus dem Verborgenen, kauft ihr einige Blumen und läuft
auf sie zu. Auch Mieze ist sichtlich erleichtert, ihn mit dieser Geste
der Versöhnung zu sehen, sie schwankt zwischen Tränen und Lachen.
Später poliert sie seine Schuhe, wobei er sie beobachtet. Als sie
vor ihm kniet, um ihm in den Schuh zu helfen, zieht er sie stürmisch
an ihrem Haar nach oben, will sie in den Hals beißen, wie er es
bei seinen anderen Geliebten gerne getan hatte, doch er hält inne.
Sie küsst ihn leicht und beide trennen sich. „Eins musst du
wissen, du kannst machen, was du willst, aber weglassen wird ich dich
nie, niemals,“ beteuert er. Die Sequenz endet mit einem Blick auf
den Vogel hinter seinen Käfiggittern, den ihm Mieze selbst geschenkt
hatte. Auch wenn die ursprüngliche begehrliche Gewalt einer zaghaften
Zärtlichkeit gewichen scheint: Franz Biberkopf weiss, wie er die
Kontrolle behalten kann. Mieze, ist zu seinem kleinen Vogel geworden,
dem er erst den Wunschnamen gab, und der nun gefangen in seinem Zimmer
den Unwägbarkeiten des Lebens ausgeliefert ist. Biberkopfs Gefühle,
die ihn von Gewalt zur Zärtlichkeit gebracht haben, erscheinen hier
weniger als Liebe, denn als väterlich-inzestuöse Obsession.
Doch auch diese Beziehung wird bald von Gewalt und Grausamkeit
eingeholt. Mieze gesteht, dass sie sich in einen Freier verliebt habe,
woraufhin Biberkopf sich in eine ähnliche Wut hineinsteigert, die
einst Ida das Leben kostete. Mit dieser Szene kommen die Beteiligten einer
drohenden Tragödie zusammen: Frau Bast steht in der Tür und
beobachtet fassungslos, wie sich Biberkopfs Totschlag an Ida nahezu wiederholt.
Reinhold dagegen verfolgt von einem Versteck aus, wie ihm sein vermeintlicher
‚Freund‘ nach dem eigenen Arm noch ein zweites Opfer bringt.
Im letzten Moment kann er den Totschlag abwenden. Mieze bleibt angesichts
dieses Wahnsinns nur ein hemmungsloser Ausbruch in die Hysterie. Mit dem
Blick zur Decke schreit sie schrill und durchdringend, zuckt mit den Armen
wie eine Marionette, und auch Biberkopf wirft sich in seiner Ohnmacht
zu Boden.
Körpersprache
Fassbinder lässt die Kamera meist sehr nah am Gesicht
der Protagonisten. Trotz zahlreicher inszenatorischer Distanzierungsmechanismen,
etwa, wenn in Schlüsselszenen der Blick verstellt wird, baut er doch
eine Intimität zwischen Protagonisten und Zuschauer auf. Auch die
Körper werden explizit ins Blickfeld gerückt. Im Amüsierlokal
„Neue Welt“ treffen Biberkopf und Lina auf einen Gewichtheber,
der dem Mann anbietet, für 20 Pfennig seine Stärke zu erproben,
denn „das ist es, was eine Frau nie herausfinden kann, wie stark
ein Mann ist.“ Vorerst verzichtet Biberkopf, doch diese diffuse
Idee der im Körper manifester männlichen Stärke wird seinen
Leidensweg begleiten, vor allem in der Begegnung mit Reinhold. Während
des Einbruchs in Folge 6, bei dem Biberkopf unwissentlich teilnimmt, demonstriert
Reinhold seine körperliche Überlegenheit, was von Biberkopf
prompt bewundert wird: „Mensch, Reinhold, hab ich gar nich gedacht,
dass du so stark bist, hat ganz schön wehgetan dein Schlag auf den
Arm vorhin.“ Tatsächlich nimmt diese Anspielung den kompletten
Verlust dieses Armes vorweg, den Biberkopf wenig später durch Reinholds
Schuld erleiden wird.
Der sich selbst verzehrende Körper im Delirium wird
in mehreren Episoden zum Thema. Die sehr handlungsarme, wenngleich ungeheuer
intensiv gespielte 4. Episode etabliert nachhaltig die dominierende Körpersprache,
mit der Fassbinder häufig arbeitet, nicht zuletzt um die Kommunikationsunfähigkeit
der Protagonisten zu vermitteln. Den täglichen Müßiggang
des permanent alkoholisierten Franz Biberkopf‘ unterlegt Fassbinder
mit einer komplexen Montage aus Radiomeldungen, Atmogeräuschen, Gesprächsfetzen,
Chorälen und einem beunruhigenden. Orgelpunkt, der über die
Tonebene durchdringende physische Wirkung auf den Betrachter erzielt.
Das setzt sich in der visuellen Ebene fort: Im Alkohol-Delirium verliert
sich Biberkopf in Tagträumen, die jedoch nicht für den Zuschauer
inszeniert werde. Vielmehr bleibt die Kamera Zeuge eines Menschen, der
sich in seinen eigenen Halluzinationen verloren hat und in einer mythischen
Parallelwelt zu wandeln scheint. In wenigen Momenten spiegelt sich diese
Irritation in der Inszenierung: Etwa wird hier vermehrt der Starlight-Filter
eingesetzt, der in einer visionären-religiösen Szene begleitet
von sakralen Chorälen eine hellstrahlende Glühbirne fast schon
zur Epiphanie geraten lässt. Zweimal werden völlig unvermittelt
fotografische Eindrücke aus den Berliner Schlachthöfen einmontiert,
wobei im zweiten Einschub ein alter Mann, der ein junges Kalb tötet,
als enigmatische Heiligenfigur inszeniert wird. Der religiöse Subtext,
der immer wieder in Fassbinders Filmen anklingt, wird dann im mythologisch
überbordenden Epilog ausführlich aufgegriffen und gipfelt in
der Analogie des geschändeten und gekreuzigten Körpers.
Drastisch im Einsatz der Körperlichkeit sind vor allem
die zwischengeschlechtlichen Auseinandersetzungen. Als Reinhold in Folge
6 alkoholisiert in seine Wohnung zurückkehrt, wartet dort die besorgte
Trude auf ihn. „Ich liebe dich,“ beteuert sie mit weit aufgerissenen
Augen. Einen Moment verharrt er erstaunt. Sein Gesicht ist in dieser Nahaufnahme
unmittelbar vor ihrem zu sehen. „Also das ist die Höhe,“
bricht es aus ihm heraus. „Wie kann ein Mensch solche Worte in den
Mund nehmen. Wissen Sie, was ich Ihnen sage, gnädige Frau? Sie sind
eine Drecksau.“ Und er spuckt der Frau ins Gesicht. Fassungslos
weicht sie zurück. Sie habe nur Angst gehabt. Reinhold reißt
sie hoch. „Um mich hat keiner Angst zu haben, verstanden!“
brüllt er und schleudert sie zu Boden. Sie springt förmlich
auf und wirft sich um seinen Hals: „Ich hab dich doch lieb!“
stammelt sie mehrfach. Er reißt sie an den Haaren herum. „Ich
hab dich satt! ... ich ekle mich vor dir. Du sollst abhauen!“ Diese
brutale Handgreiflichkeit, die völlig ohne Gegenwehr bleibt, geht
weiter, bis es Reinhold gelungen ist, Trude hinauszuwerfen.
Die Körper der Protagonisten von Berlin Alexanderplatz
werden primär in ihrer Interaktion in sexuellen und gewalttätigen
Akten definiert, wobei sie von Bild und Ton in all ihren Eigentümlichkeiten
und Entäußerungen beobachtet werden. Hier erreicht die Serie
eine für das Medium Fernsehen ungewöhnliche Intensität:
wenn die zusammengeschlagene Mieze wie eine defekte Puppe zuckt und dann
grunzend nach Luft schnappt, während ihr Blut und Schleim aus dem
Mund fließen. Oder wenn während eines Alptraumes eine langsame
Kamerafahrt nackte, zerstückelte Körper erkundet, über
die eine Spinne kriecht. In ihrem Tauschsystem nähern sich die Menschen
nähern sich die Liebenden und Begehrenden zusehend dem Ende des Tausches,
der irreversiblen Gabe: ein Teil des eigenen Körpers reicht nicht
mehr aus, in einem letzten Schrift muss das Leben selbst geopfert werden,
um die Grenze des Systems zu erreichen.
Homosexueller Subtext
„Zu einer Liebe, da gehört schon ein Schmerz,“
ist ein Satz, der in Fassbinders früherem Film Katzelmacher fällt,
und der auf erstaunlich simple Weise Biberkopfs unterschwelliges Dilemma
deutlich macht. In ehrlicher und offener Zuneigung, dem starken Bedürfnis,
ihn wiederzusehen, sucht Biberkopf in Folge 9 Reinhold in dessen Wohnung
auf. Reinhold reagiert verstört, bedroht ihn gar mit einer Pistole,
die lange Zeit im Bildvordergrund zu sehen ist, während Biberkopfs
freundliche, offene Mine jede Befürchtung entkräftet. Dann vermutet
Reinhold, Biberkopf wolle ihn erpressen. Doch Rachegedanken spielen für
Biberkopf keine Rolle. Einfach ihn wiedersehen habe er gewollt. Der Schlüsselmoment
der Begegnung dieser beiden so unterschiedlichen Schicksalgenossen kommt
mit Reinholds Bitte, ihm die Armwunde zu zeigen. Eine lange Nahaufnahme
zeigt den grob vernarbten, unregelmäßig verwachsenen Armstumpf.
„Sieht eklig aus,“ ist Reinholds Reaktion. Wie Biberkopfs
milde, freundschaftliche Reaktion Reinhold unangemessen scheint, passt
auch diese Verkrüppelung des früheren Partners nicht in sein
Weltbild der unbedingten männlichen Stärke. Er mag Krüppel
nicht, denn die seien zu nichts gut, sagt er unumwunden. Biberkopf gibt
ihm recht. Sichtlich aufgeregt macht sich Reinhold dann an dem leeren
Jackenärmel zu schaffen, um eine Simulation der Ganzheit zu erzeugen,
denn den Anblick des durch ihn zerstörten Körpers kann er kaum
ertragen. Und im selben Moment gibt er Biberkopf die „Schuld“
zurück, denn er ist der Krüppel, dessen Anblick nun ihn, Reinhold,
belastet. Doch Biberkopf bleibt duldsam, denn er mag Reinhold...
„Die Schlange in der Seele der Schlange“: Bereist
am Ende von Folge 10 wird dieser Satz eingeblendet. Folge 12 greift ihn
im Titel wieder auf, doch wird endlich deutlich, dass diese „Schlange“
nicht Biberkopf, sondern Reinhold ist, der seinem vermeintlichen Freund
eine zweite Lebenskrise bescheren wird: Erst ist er Schuld am Verlust
des Armes, jetzt nimmt er ihm die vergötterte Geliebte, die Biberkopf
selbst als seine „Puppe“, sein „kleines Mädchen“
bezeichnet. Als Reinhold bei der Begegnung mit Mieze im Wald seine Amboß-Tätowierungen
zeigt, die er als sein Wappen bezeichnet, stellt er seine grausame Philosophie
klar, ohne dass das Mädchen ihn versteht. Er selbst prägt die
Menschen mit Gewalt nach seinem Willen: Er war der Schmied, auf dessen
Amboss Biberkopfs Leben mit eisernen Schlägen geformt wurde. Hier
löst sich zugleich auf erschreckende Weise die Ankündigung aus
Folge 5 ein, die Reinhold als einen „Schnitter mit der Gewalt vom
Lieben Gott“ umschreibt, ein Satz, der mehrfach vom Erzähler
in Erinnerung gebracht wird und die Mordsequenz am Ende beschließt:
„Gewalt, Gewalt, ist ein Schnitter, vom höchsten Gott hat er
die Gewalt.“
Die Sequenz zwischen dem angehenden Mörder Reinhold
und seinem Opfer in spe nimmt fast die Hälfte der Episode ein und
zeigt in langen Sequenzen die dramatische Entwicklung, die dieses immer
ernster werdende Spiel aus Annäherung und Zurückweisung nimmt.
Sie beginnt mit dem Blick auf ein Grabkreuz, das sie passieren, und gleitet
zusehends vom Sonnenlicht in ein nahezu mystisches Zwielicht, das während
des Mordes durch hereinziehende Nebelschwaden verstärkt wird. Hier
wird ein Bezug zur Morbidität der Schwarzen Romantik des 18./19.
Jahrhunderts gesucht: Die Schöne und das Biest, ihr Schritt vom Wege,
ihr kindliches Vertrauen auf das Gute, das ins Verderben führt. Die
Grausamkeit des Märchens reißt das naive und doch selbstbewußte
Mädchen aus ihrem getrübten Glück, unwissend, dass sie
nur das Opfer für eine unerfüllbare andere Liebe sein wird -
jene nach Fassbinder reine Liebe zwischen den Männern Reinhold und
Biberkopf, die man nicht einfach mit dem Begriff der Homosexualität
fassen kann. In der Tat scheint diese starke, wenn auch uneingestandene
Leidenschaft ihre sexuelle Ebene im Frauentausch zu sublimieren oder gar
ganz zu überwinden.
Angst, Schmerz, Tod, Identität und die verzweifelte
Suche nach einer sich immer wieder entziehenden Liebe: das sind die Schlüsselthemen
von Fassbinders Oeuvre, und sie könnten kaum deutlicher auftauchen
als in dieser vielschichtigen Fernsehserie, die eigentlich ein monumentaler
Spielfilm ist. „Zu einer Liebe, da gehört schon ein Schmerz.“
Der eigentliche Skandal an Berlin Alexanderplatz liegt nicht in seiner
formalen Exzessivität, nicht in expliziter Darstellung von Sexualität
und Gewalt. Der eigentliche Skandal liegt in seinem schmerzlichen Fazit:
die wahre und reine Liebe, die unerreichbare Liebe, ist Schmerz und zieht
eine Spur der geschändeten Körper hinter sich her in der Unmöglichkeit
einer Erfüllung.
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