Seduktionstheorie des Films V
Marcus Stiglegger

Das Böse wird zur ästhetischen Versuchung für diejenigen, die, der Wonnen des Gewöhnlichen überdrüssig, das Überirdische nun im Unterirdischen suchen.
Rüdiger Safranski, Das Böse oder Das Drama der Freiheit

I went to cover the war and the war covered me; an old story, unless of course you’ve never heard it.
Michael Herr, Dispatches

Malediction resurrected -
Ins finstere Herz von Apocalypse Now - Redux

Martin Sheen

Vor über zwanzig Jahren erregte Francis Ford Coppola mit seinem atemberaubenden, visionären Vietnamfilm Apocalypse now (1979) weltweit Aufsehen: In beklemmenden, packenden und irritierenden Bildern, untermalt von dem Doors-Klassiker „The End“ erzählte er von der Reise des Armee-Agenten Willard (Martin Sheen) durch den Dschungel, um den offenbar grössenwahnsinnigen Colonel Kurtz (Marlon Brando) zu liquidieren. Nun kommt Coppolas Meisterwerk erneut in die Kinos: Redux - noch einmal zum Beginn gehen, um das Geschehen um fünfzig Minuten erweitert neu zu sehen.
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Seit über zwanzig Jahren nun konfrontiert uns Apocalypse Now mit einer perfiden Verführung zum Bösen, die in dieser vielschichtigen Intensität filmisch als einsames Monument steht. Es lohnt sich, um dem Rätsel dieses Films auf die Spur zu kommen, einen vergleichenden Blick auf Karl Heinz Bohrers Thesen über Das Böse - eine ästhetische Kategorie in Nach der Natur (1988) zu werfen, die interessante Bezüge zum filmischen Kontext aufwerfen: „Dem Bösen kam innerhalb der dem Aristoteles folgenden mittelalterlich-neuzeitlichen Philosophie [...] kein eigenständiger, onthologischer Begriff zu.“ Dennoch habe schon Augustinus die ästhetische Faszination des Bösen erkannt, könne gar als „erster Ästhet des Bösen“ begriffen werden. „Was Kleist und Nietzsche für das 19. Jahrhundert fordern, ist nichts anderes, als dass die Ausgrenzung des Bösen ästhetisch wieder rückgängig gemacht werde.“ Bis dahin wäre das Böse auch als „hermeneutische Kategorie unterschlagen“ gewesen, es sei denn in spezifischer ideologischer oder zumindest narrativer Konnotation. Doch das Böse liege eigentlich im ‘Negativen‘, einer sich der Definition entziehenden Kategorie. Immer wieder wurde in einer aufklärerischen Gegenbewegung versucht, das Böse inhaltlich einzugrenzen - auf diesem Pfad kommt Bohrer zu seiner zentralen Frage: „Wer die Ästhetik des Bösen, wer den Befund des Bösen [...] erkennen will, sollte von solchen liebgewonnenen Plausibilisierungen Abschied nehmen. [...] Gibt es das böse Kunstwerk?“
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Redux: Mitten im Gemetzel drückt eine Vietnamesin ihr schwerverwundetes Baby in die Arme des todesverachtenden Col. Kill/Gore (Robert Duvall), der es umgehend ins Lazarett fliegen lässt...
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Joseph Conrads Afrika-Roman Heart of Darkness (1902), der Coppolas Film als Ausgangspunkt dient, mündet in ein Szenario des Todes, in dem der berüchtigte Elfenbeinagent und selbsterklärte Gottkönig Kurtz sterbend folgende Worte ausstösst: „The Horror! The Horror!“ Was Kurtz hier zugrunde gehen lässt, ist nicht die Verzweiflung an der eigenen Fähigkeit, die Finsternis rituell zu leben. Das eigentliche Grauen liegt darin, dass sich der Dschungel, der zu ihm „wispert“, jeder rationalen Sinnzuschreibung entzieht. Als Kurtz das „Herz der Finsternis“ erreicht hat, sieht er sich dem existenzialistischen „Nichts“ gegenüber. Er macht die Erfahrung des Abgrundes, wie er bei Nietzsche als Alptraum auftaucht: Die Erkenntnis, keine Bedeutung zu haben, Nichts zu sein inmitten des Nichts. Kurtz ist im Moment seines Todes zu einer Erkenntnis gelangt, die ihn jenseits moralischer Kategorien von Gut und Böse verortet. Den heidnischen Bombast wie Kannibalismus, Orgien und Blasphemie hat er dann bereits hinter sich gelassen. Und tatsächlich konnte dieser Versuch, das kulturell konnotierte Böse zu leben, den Widerspruch zur zivilisierten Welt zu verkörpern, ihn nicht auf jene finale Begegnung mit dem vorbereiten, was er in seinen letzten Worten als „das Grauen“ umschreibt.
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Redux: In einem monsunartig verregneten, chaotischen Grenzcamp treffen die Soldaten wieder auf die Playboy-Mädchen aus der früheren Stripshow. Lance (Sam Bottoms) beginnt, sich und eines der Mädchen mit Tarnschminke zu bemalen, bevor er sie zärtlich in die Arme schliesst...
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Coppolas Adaption von Conrads Roman geht in mancherlei Hinsicht weiter als die Vorlage und dringt beharrlich tiefer in jene dort schon angelegte Verführung (des Protagonisten) zum Bösen vor. Was zu Beginn wie eine lediglich zeitlich in die 1960er Jahre verlegte Transformation ihren Anfang nimmt, mündet fast unmerklich in eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Mythos des Bösen, was sich vor allem darin zeigt, dass der Film Apocalypse Now der finalen Begegnung zwischen Willard (Martin Sheen) - so heisst Marlowe in diesem Fall - und dem abtrünnigen Col. Kurtz (Marlon Brando) vergleichsweise viel Zeit einräumt. - In Kurtz‘ Reich ist der Mythos nicht mehr nur eine Denkform, sondern unbestreitbare Realität, als wolle er letztlich auch den Zwiespalt zwischen mythischem und logischem Denken an sich aufheben. Die Qualität des Mythos‘ ist seine offenbar allgemeine Gültigkeit, seiner Beständigkeit im Kern, mit der der Ursprung der Welt und deren folgende Transformationen nicht nur erklärbar, sondern immer neu erfahrbar werden. Die Ethnologie nennt diesen dem Raum-Zeit-Kontinuum entzogenen Raum ‘sakrale Zeit‘. Kurtz hat also die ‘profane Zeit‘ durch seine blutige Diktatur in eine ‘sakrale Zeit‘ transformiert. Das Geschehen dort wird zum ewigen ‘Anfang‘ und somit auch zum ewigen Ende, einem ersten Verweis auf den Wunsch nach der „Apokalypse jetzt!“, wie sie analog zum Titel des Films als Aufschrift auf der Tempelwand zu sehen ist.
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Redux: Auf einer Plantage begegnen Willards Männer Franzosen, die seit dem Indochinakrieg ihre koloniale Heimat nie verlassen haben. Ein verwitwete Frau (Aurore Clement) raucht mit Willard eine Pfeife Opium und verführt ihn im Hauch eines Schleiers aus Moskitonetzen...
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Das Verführerische an der Konfrontation Willards und des Publikums mit Col. Kurtz ist in einer ersten Instanz die Verführung zum mythischen Denken als ein bewusster Aufstand gegen das rationale, aufgeklärte Denken: „Das mythische Grauen der Aufklärung gilt dem Mythos,“ schreiben Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung. Insofern sich Kurtz selbst zum Gott erklärt und die ‘sakrale Zeit‘ ausgerufen hat, da er sich allen Gesetzen des aufgeklärten Humanismus entgegenstellt, verkörpert er den Antipoden zu einem westlich-zivilisierten Kulturbegriff: Seine Blutrituale voller Verschwendung, Opfer und Kannibalismus brechen systematisch die Tabus eines christlich geprägten Humanismus‘, stellen gar in einer letzten Instanz sämtliche Grundrechte des Menschen in Frage. In Kurtz kulminiert der Aufstand gegen die auf die Entfaltung des Individuums ausgerichtete Moderne. Kurtz hat den Endpunkt des totalitären Staates erreicht, ein Stadium des allgegenwärtigen Krieges, an dessen Ende nur der eigene Untergang stehen kann, der einzig die Hoffnung auf einen Neubeginn trüge - im mythischen Denken wohlgemerkt. All dies umschreibt einen Begriff, der nur aus einer Umkehr von Werten und immer neu definiert werden kann: das Böse. Und Coppolas Film ist eine rituelle Auslieferung an dieses Böse, der Blick in den ‘dunklen Spiegel‘ des modernen Menschen. Der Film erreicht einen Punkt, wo er mit den Mitteln des audiovisuellen Kunstwerks jenen Moment des Umschlagens von Aufklärung in Barbarei vermittelt, den Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung entwickeln. Kurtz repräsentiert exakt jenen Vertreter einer gebildeten westlichen Bürgerschicht, in dessen Zwiespalt sich das ‘rückläufige‘ Motiv abzeichnet. In seiner konsequenten Koppelung von Conrads Thematik mit dem Schrecken des importierten Dschungelkrieges ist Coppolas filmische Vision gerade in solchen Momenten sowohl kontroverser wie auch machtvoller, auch wenn er nicht so weit geht, Kurtz‘ Wunsch nach der umgehenden Apokalypse - „Drop the bomb. Exterminate them all!“ steht in grossen, krakeligen Lettern in seinen Unterlagen - wahr werden zu lassen, indem er Willard in letzter Instanz zu dessen Erben erklärt.
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Redux: Nachdem Kurtz‘ Armee die Waffen vor dem Königsmörder Willard gestreckt hat, verlässt er zusammen mit dem spirituellen Lance die Tempelanlage. Das Ende bleibt offen, kein Napalm wird den Tempel in ein Flammenmeer tauchen, wie es im Abspann der alten deutschen Fassung zu sehen war...
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Mit Bohrers Ausführungen über Gustave Flauberts Historienroman Salammbô öffnet sich ein Ansatz zu Apocalypse Now, der diesen Film zu einem „bösen Kunstwerk“ machen könnte: der exotische Schauplatz, das potentiell Fremde, Andere, und zugleich der in Flauberts Roman wie auch in Coppolas Film fabulierte ‘Molochismus‘. Col. Kurtz tritt gar als Inkarnation eines ‘Moloch‘, dem Menschenopfer gebracht werden, auf. Salammbô erscheint hier insofern konsequenter, indem der Autor die grausamen Ereignisse ‘entwurzelt: „Flauberts Roman verweigert auf der Ebene der Struktur und generellen Thematisierung jeden Sinn. [...] es fehlt der Ansatz zu einer geschichtsphilosophischen Perspektive - deshalb sind die Schlachtendarstellungen keine historisch oder psychologisch noch vermittelten Ereignisse, sondern Darstellungen des schieren Massakers.“ Apocalypse Now hat zu zwei Dritteln durchaus einen geschichtsphilosophischen Bezug - den Vietnamkrieg -, den er jedoch im letzten Teil verlässt, wodurch die filmische Imagination sowie Kurtz‘ Reden sich wie beschrieben einer irrationalen, mythischen Ebene nähern. Wie Flauberts Roman liesse sich Apocalypse Now in diesem Teil als „gegenaufklärerisch“ bezeichnen, da er einen „radikalisierten poetischen Diskurs darstellt, der sich Sinn herstellenden Eintragungen entzieht.“ - Wie das Böse der Literatur entzieht sich auch das Böse im Film einer klaren Definition: Nur Andeutungen oder Symbole und Zeichen umschreiben das Böse selbst. Das eigentlich Bedrohliche, das immer wieder in zeitgenössischen oder späteren Rezensionen Unverständnis und Ablehnung hervorrief, ist das Irrationale, nicht Definierbare dieses geheimnisvollen Bösen, das der Film genüsslich umspielt. Gerade das Rätsel des „Grauens“ verleiht Apocalypse Now jene schillernde Faszination, die den Film immer neu rezipierbar macht. Ein hermetischer Mikrokosmos des Bösen ist es, mit dem sich der Zuschauer hier konfrontiert sieht, eine risikoreiche Herausforderung, denn: „[...] wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse). Die Verführung dieses Films liegt darin, den Zuschauer mit seinem eigenen Abgrund vertraut zu machen.

Marcus Stiglegger