Christian Hißnauer

Wie die Gesellschaft mit Terrorismus umgeht

Aus gegebenen Anlass eine etwas längere Buchbesprechung (März 2004)

Am 11. März 2004 – genau 2 ½ Jahre oder 30 Monate nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 – explodierten zehn Sprengsätze in Vorortzügen der spanischen Hauptstadt Madrid. Fast 200 Tote und 1400 Verletzte wurden ein Tag später gezählt. Es ist der verheerendste Terroranschlag in Spanien (vielleicht sogar in Europa).

Es dauerte nicht lange, bis nach den morgendlichen Explosionen zwischen 7.35 und 7.55 Uhr die ersten Deutungsversuche in den Medien kursierten: Die ETA war’s! Drei Tage vor den spanischen Parlamentswahlen wertete man dies als eine Attacke gegen die Demokratie der baskischen Separatisten. Doch bereits am Abend gab es erste Hinweise auf einen anderen Täterkreis: Al-Qaeda. Noch steht nicht fest, welche Gruppe für die Anschläge verantwortlich ist. Damit ist aber auch die sinnhafte Deutung der Anschläge unklar: Könnte ein ETA-Anschlag der Partei des bisherigen Ministerpräsidenten Aznar dienen, der sich durch eine harte Politik gegen den Terrorismus ausgezeichnet hat, so wird vermutet, dass eine Täterschaft der al-Qaeda ihm eher schaden würde, denn die Anschläge würden als Vergeltungsaktion der islamischen Fundamentalisten für die Kriegsteilnahme Spaniens gelesen werden. Diese Teilnahme in der „Allianz der Willigen“ war aber in Spanien mehr als nur umstritten. Es wundert daher nicht, dass die Regierung sofort davon ausging, dass die ETA für die Anschläge verantwortlich sei. Dies zeigt, in welchem Maße Terroranschläge gegen die gesellschaftliche Ordnung gerichtet sind und wie schnell gesellschaftlich versucht wird, interpretativ, symbolisch und diskursiv solche Anschläge zu verarbeiten. – Nachdem sich die Anzeichen für eine islamistische Täterschaft verdichteten, haben die Sozialisten die Wahl gewonnen: Das Volk fühlte sich von Aznar belogen. Und vielleicht könnte man es noch mehr zuspitzen: Das Volk sah in Aznars Irakpolitik die Ursache für die Anschläge.

Der Soziologe Ronald Hitzler und der Kommunikationswissenschaftler Jo Reichertz haben nun einen Band vorgelegt, der sich mit der gesellschaftlichen Verarbeitung von Terrorismus auseinandersetzt: „Irritierte Ordnung“. Im Mittelpunkt stehen dabei die Reaktionen auf die Anschläge des 11. Septembers, die sich wie kein anderer Terroranschlag durch live Übertragung und endlose Fernsehloops in das weltweite kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. – Baudrillard sprach davon, dass die Twin Towers des World Trade Centers ihr „Verschwinden als Symbol“ hinterließen. Diesen symbolhaften Aspekt von Terroranschlägen betont der Band mit seinem Coverfoto: Wir sehen das nächtliche New York. Dort, wo einst die Twin Towers standen, durchschneiden riesige Lichtkegel den nächtlichen Himmel und lösen sich letztendlich in der Dunkelheit auf: Ein flüchtiges Mahnmal .

„Terror bringt in der Regel die symbolische Ordnung einer Gesellschaft und manchmal auch deren Ordnung der Symbole (Twin Towers) handgreiflich zum Einsturz. Terror zerstört so die – relative Verhaltens- und Erwartungssicherheit konstituierende und sichernde – Erfahrung alltäglicher Normalität. Deshalb muss nach dem Terror der Terror selbst gedeutet und in die symbolische Ordnung einer Gesellschaft eingearbeitet und eine neue Ordnung der Symbole errichtet werden.“ (S. 8) In diesem Band geht es somit nicht um die Ursachen und die manifesten politischen Auswirkungen der Anschläge, sondern um die unterschiedlichen Formen der gesellschaftlichen Verarbeitung von „Terror“. Dieser Begriff wird vorab durch die beiden Herausgeber definiert: „Terror soll heißen die absichtliche, angekündigte oder unangekündigte, mit instrumentellen und/oder symbolischen Mitteln erzeugte Verbreitung von Schrecken durch alle Arten von kollektiven und individuellen Akteuren gegenüber bestimmten Personen, Personengruppen oder jedermann, – in einem (von den potentiellen Adressaten) nicht vorherseh-, erwart- und kalkulier- bzw. kontrollierbaren Ausmaß.“ (S. 8) Diese Definition ist recht allgemein und differenziert nicht zwischen Terror und Terrorismus, wie z.B. Peter Waldmann 1998 herausgestellt hat:

„Hier spielen zum Teil semantische Unterschiede in den verschiedenen Sprachen eine nicht unwichtige Rolle. Beispielsweise hat es sich im angelsächsischen Sprachgebrauch eingebürgert, sowohl vom Staatsterrorismus als auch von aufständischem Terrorismus zu sprechen. Demgegenüber stellt der Begriff ‚terror’ bei angelsächsischen Gewaltforschern primär auf den durch terroristische Anschläge erzeugten sozialpsychologischen Effekt allgemeiner Furcht und Panik ab. Für den deutschen Sprachgebrauch empfiehlt es sich dagegen, nicht dem angelsächsischen Beispiel zu folgen, sondern den Terrorismus als eine bestimmte Form des Angriffs gegen den Staat und die staatliche Ordnung vom Terror als staatliche Schreckensherrschaft abzugrenzen.“

Hier hätte sich eine solche Unterscheidung angeboten, da die symbolhafte Verarbeitung des Staatsterrors wahrscheinlich teilweise anderen Mechanismen und Motiven unterliegt. Auch die gesellschaftliche Funktion ist eine gänzlich andere.
Das Buch ist unterteilt in fünft Abschnitte. Die ersten beiden befassen sich mit theoretischen Aspekten des Terrorismus. Teil drei und vier sind den Deutungen und Bearbeitungen der Anschläge vom 11. September gewidmet und der fünfte Teil beschäftigt sich mit der „Welt nach dem Terror“ (was auch immer damit gemeint sein soll ). Ich möchte hier etwas ausführlicher auf einige Beiträge des dritten und vierten Teils eingehen, die sich konkret mit den gesellschaftlichen Verarbeitungsprozessen der Anschläge vom 11. September auseinander setzen.

Matthias Junge definiert in seinem Beitrag Bewältigung im soziologischen Sinne als „Bereitstellung von Deutungsrahmen“ (S. 127) und untersucht dies anhand der Darstellung und Deutung des 11. Septembers in ausgewählten deutschen Tageszeitungen, den sogenannten Leitmedien (Die Welt, Frankfurter Allgemeine, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung und die taz, sowie das Neue Deutschland). Mit Hilfe einer quantitativen Inhaltsanalyse wurden die Leitartikel und Kommentare zwischen dem 12. September und dem 8. Oktober 2001 untersucht. Er arbeitet heraus, dass als Ursache vor allem das kulturelle Verhältnis des Westen zum Islam thematisiert wurde. Dies ist nicht uninteressant, denn „obwohl durchgängig die These Huntingtons von einem Clash of Civilizations mit Skepsis beurteilt wird, so ist sie doch indirekt zu einem Grundpfeiler der Interpretation des 11.09. geworden.“ (S. 134) In Anlehnung an Thomas Meyer spricht Jung hier von einer „Politisierung kultureller Differenz“ (S. 134). Allerdings findet diese Politisierung durchaus in dem gewohnten Metarahmen der Links-Rechts-Positionierung der untersuchten Zeitungen statt:
„Deshalb ist zweitens festzuhalten, dass der 11.09. zu einer verstärkten Wiedererinnerung an grundlegende Wertpositionen des Metarahmens geführt hat. Der 11.09. erzeugte zwar evaluative und kognitive Unruhe, ohne aber dass diese Unruhe zu einer grundlegenden Veränderung der politischen Ausrichtung geführt hätte. [...] Kurz: Es dominiert die Semantik des ‚Gewohnten’ über die Erarbeitung einer ‚Semantik des Unfassbaren’. Bewältigung bedeutet also auch im Falle der Ereignisse des 11.09.: die Herstellung von Normalität. Oder anders: die Versicherung der Gültigkeit der gewohnten Weltanschauung.“ (S. 135)

Michael Schwab-Trapp untersucht am Beispiel einiger Äußerungen von Ulrich Wickert den „Zwang zum Konsens“ (S. 139). Wickert veröffentlichte am 4. Oktober 2001 einen Artikel in der Zeitschrift Max, in dem er George Bush mit Osama bin Laden vergleicht.
„Wickert spricht nicht im Namen einer spezifischen Diskursgemeinschaft oder für ein exakt bestimmbares politisch-kulturelles Milieu. Seine tägliche Präsentation der Tagesthemen und sein Erscheinungsbild verleihen ihm eher die Aura eines neutralen Beobachters, der über dem Parteienstreit steht. [...] Seine vermeintliche Neutralität und seine Stellvertreterposition verleihen ihm in der öffentlichen Wahrnehmung einen Legitimitätsbonus.“ (S. 142)

Wickert bezieht sich in seinem Artikel auf einen Beitrag von Arundhati Roy (FAZ vom 28. September 2001). Darin interpretiert Roy „die Terroranschläge als Reaktion auf den Imperialismus der amerikanischen Außenpolitik“ (S. 145) und bezeichnet bin Laden als den dunklen Doppelgänger, den brutalen Zwilling von Bush. In seinem Artikel paraphrasiert Wickert den Beitrag Roys und schreibt dazu: „Bush ist kein Mörder und Terrorist. Aber die Denkstrukturen sind die gleichen.“ (S. 145). In dieser Zuschreibung des gleichen intoleranten und simplifizierenden Denkens liegt das Eskalationspotenzial des Beitrages, der sich damit gegen die zu dieser Zeit vorherrschende Interpretation der Anschläge als Kriegserklärung an die zivilisierte Welt richtete. Die Bild-Zeitung verlangt dann auch die Absetzung Wickerts, der sich nach der medialen Aufruhe in den Tagesthemen entschuldigte:
„Die Entschuldigung Wickerts schreibt die Verantwortung für den umstrittenen Vergleich zwischen George Bush und Osama bin Laden Arundhati Roy zu. Aus dem zuvor kritisierten Präsidenten George Bush wird der ‚Führer der freien Welt’. Und aus dem Konflikt um Wickerts Artikel wird ein kommunikatives Missverständnis, das eher auf Fragen des Stils als auf inhaltliche Fragen zurückzuführen ist.“ (S. 147)

Wickert plädiert in erster Linie für Toleranz gegenüber dem Islam. Schwab-Trapp arbeitet heraus, dass Wickert mit seiner „Kritik an der Überheblichkeit und am Materialismus der westlichen Kultur“ (S. 148) eher eine Verneinung eines interdiskursiven Kontexts vornimmt. Dahinter verbirgt sich eine Globalisierungskritik, die „einen politischen Diskurs in Frage [stellt], der als interdiskursiver Kontext die politischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre dominiert und dank seiner Omnipräsenz die Deutungshoheit sowohl über die aktuellen Kriegsdiskurse als auch über wirtschafts-, sozial- oder kulturpolitische Diskurse besitzt“ (S. 148). Doch der politische Deutungsrahmen war zu dieser Zeit bestimmt durch die Interpretation der Anschläge als Angriff auf die zivilisierte Welt: Die Kampflinie war Zivilisation vs. Barbarei. Und damit stand auch die Teilnahme Deutschlands an Militäreinsätzen wieder auf der politischen Agenda. Wickerts „Plädoyer für Toleranz und seine Kritik am westlichen Materialismus stören das Sendungsbewusstsein einer Politik, die im Namen einer neuen 'Weltinnenpolitik’ die deutsche Beteiligung an militärischen Interventionen als Beitrag zur Entwicklung einer 'globalen Architektur des 21. Jahrhunderts’ begreift“ (S. 150).
Die kollektive Erschütterung war so kurz nach den Anschlägen noch so groß, dass keinerlei relativierenden Äußerungen oder Diskursbeiträge, die Amerika – zumindest indirekt – eine Mitschuld daran gaben, zustimmungsfähig gewesen wären. „Die Ermordung tausender unschuldiger Zivilisten produziert einen konjunkturalen Kontext, in dem sich der Schock über die Ereignisse von New York mit dem Bedürfnis nach der Vergewisserung darüber verbindet, dass die Welt auch nach dem 11.09. noch in Ordnung ist.“ (S. 152) Damit entsteht ein diskursiver Zwang zum Konsens. Allerdings ist dabei auffällig, das Roys Beitrag in der FAZ, der weitaus schärfer formuliert und aufmerksamkeitsstärker positioniert war, weitaus weniger Eskalationspotenzial besaß als Wickerts Beitrag:

„Roys Diskursbeitrag ruft vor allem deshalb keine Empörung hervor, weil seine Trägerin nicht unter die Konsenspflicht fällt, die die Diskussion in unmittelbaren Anschluss an den 11.09. beherrscht. [...] Wolf Biermann bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt: ‚Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy darf so etwas, Wickert nicht’. Die Person des Autors als Teil des Äußerungskontexts und der diskursive Kontext produzieren damit noch drei Wochen nach dem 11.09. ein Eskalationspotenzial, das eine Eigendynamik entwickelt, die eher dem Kontext als dem Inhalt der skizzierten Diskursbeiträge geschuldet ist.“ (S. 153f.).

Joan Kristin Bleicher beschäftigt sich in ihrer Artikel „Terror made in Hollywood“ mit der fiktionalisierten Faktenvermittlung. Sie geht davon aus, dass die Terroristen ihre Anschläge ganz bewusst in Hinblick auf ihre mediale Verbreitung hin inszeniert haben. „Einzelne Bildsequenzen der Live-Übetragung des Fernsehens waren unfreiwillige Zitate populärer Filmerzählungen.“ (S. 160) Mit dieser Analogie interpretiert sich die deutsche TV-Berichterstattung des 11. Septembers 2001:

„Zentralen Teil der narrativen Struktur populärer Filme bilden Personen als Handlungsträger. Ihre Motivation ermöglicht erst die Kausalität einer Plotstruktur. Diese Personenbindung wurde am 11.09. als Strukturprinzip der Live-Übertragung genutzt. Ereignisse sind nicht mehr kontingent auf der Zeitachse aneinander gereiht, sondern werden in der Live-Berichterstattung in die an Personen gebundenen Strukturierungselemente Intention, Aktion und Reaktion überführt.“ (S. 160)

Nachdem „Die Macht des Bösen“ einen Namen – Osama bin Laden – bekommen hat, wird es durch Fotos und Archivmaterial medial fassbar und visuell repräsentierbar. Dabei erinnert die Darstellung bin Ladens an das „Figurenklischee des Arabers im populären Film der 90er Jahre“ (S. 161).

Sie bezeichnet die Anschläge (resp. ihre mediale Repräsentation) als ein Genremix aus Action-, Katastrophen- und Kriegsfilm, geht aber oft über eine Aufzählung von Filmtiteln nicht hinaus. Gelegentlich wird sie zugunsten ihrer Analogie ungenau: „Loops zählen als Bildschleifen zum visuellen Erzählrepertoire populärer Filme, sie repräsentieren Zerstörung und Kampfszenen in Actionfilmen wie Die Hard. Die gleiche Explosion ist immer mehrfach aus unterschiedlichen Kameraperspektiven zu sehen.“ (S. 164f.) Nur sind Loops die Wiederholung des Immergleichen, eine Wiederholung der Darstellung aus einer anderen Perspektive ist ein anderes stilistisches Mittel.

Bleicher resümiert, dass faktenorientierte Nachrichten und fiktionale Filme wechselseitig „immer neue Bilder für das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft [liefern]. Es entsteht eine Medialisierung des kollektiven Gedächtnisses, da Geschichte in gemeinschaftlichen Medienbildern erinnert wird“ (S. 170). Für mich schließt sich hier die Frage an, ob das kollektive Gedächtnis nicht in erster Linie aus Bildern besteht. Mit Susan Sontag ließe sich argumentieren, dass es keine Medialisierung des kollektiven Gedächtnisses gibt, geben kann: „Was man als kollektives Gedächtnis bezeichnet, ist kein Erinnern, sondern ein Sicheinigen – darauf, daß dieses wichtig sei, daß sich eine Geschichte so und nicht anders zugetragen habe, samt den Bildern, mit deren Hilfe die Geschichte in unseren Köpfen befestigt wird.“ Dieses Sicheinigen ist aber ein fortwährender Aushandlungsprozess. Und: Das kollektive Gedächtnis kann nur als medialisiertes „Gedächtnis“ entstehen, weil es eben sehr stark auf Bilder rekurriert. Dass die Berichterstattung des 11. Septembers sehr filmisch arbeitet, liegt u.a. auch daran, dass es hier überhaupt (Live-)Bilder des Anschlages gab. In der Berichterstattung über die Anschläge von Madrid war die Berichterstattung mangels (Live-)Fernsehbildern weniger filmisch.

Einen sehr interessanten Beitrag liefert Heinz Steinert, der am 11. September 2001 selbst in New York war. Anders als andere Beiträge des Bandes, beschreibt er damit die Reaktionen in Amerika, in New York.

Relativ schnell hatte sich die politische Interpretation des „act of war“ durchgesetzt. Als Urheber wurden allgemein Osama bin Laden und die Taliban gesehen. Damit war es nur eine Frage der Zeit, wann Amerika einen Angriff auf Afghanistan starten würde:
„Die Notwendigkeit dafür wurde in der Bevölkerung vor allem aus einer Männlichkeits- und Krieger-Logik abgeleitet. [...] Auch wenn das Wesen von Kapitalismus friedlicher Austausch ist, so besteht doch das, was Männer beschäftigt und unterhält, fast ausschließlich aus dem Erproben, Erwerben und Üben von kriegerischen Attributen und Fähigkeiten. In Sport, Spielen, Zurichtung der Körper und modischer Ausstattung pflegen und bewundern wir kämpferische Eigenschaften in allen Arten von Männlichkeits-Konkurrenzen. Die wirklich riskanten Tätigkeiten sind in der bürgerlichen Gesellschaft der Unterschicht-Männlichkeit vorbehalten – unter verlässlicher Disziplin und Führung, versteht sich,“ (S. 206.

In den von Steinert geführten Interviews findet sich „die Logik der Männlichkeit umso deutlicher ausgesprochen, je unterschichtiger der befragte Mann ist“ (S. 206). Er beschreibt aber auch, wie in der öffentlichen Wahrnehmung die sozialen Unterschiede der Opfer negiert wurden und wie dies funktionalisiert wurde:

„Das kollektive Opfer der Untat sind New York und die Vereinigten Staaten, aber individuell wurden besonders die Opfer aus den unteren Schichten hervorgehoben: Gesprochen wurde vom Personal des Restaurants im obersten Stockwerk, von den Fensterputzern und anderem Reinigungspersonal, von den Handwerkern und den Sekretärinnen, die in den Türmen ihre ganz normale Arbeit getan hatten. Sie wurden die ‚wirklichen Opfer’, so wie die über 300 Feuerwehrleute, die erschlagen wurden, die 'wirklichen Helden’ sind. Es ist Durchschnitts-Amerika, das im Kollaps der Türme tapfer kämpfend und tragisch umgekommen ist. - Öffentlich wurde alles getan, um dieses Unglück nicht als besonderen Verlust der Reichen und der Oberschicht erscheinen zu lassen“ (S. 207)

Doch Steinert analysiert die in der New York Times veröffentlichten 1.800 Nachrufe, in denen aller Regel nach der Beruf genannt wurde. So errechnet er, dass „1.500 bis 2.000 Personen aus dem Finanz-Establishment New Yorks zu Tode gekommen [sind], darunter viele aus Spitzenpositionen“ (S. 207). Wie stark hier Klassenunterschiede negiert werden – Steinert spricht gar von Leugnung – zeigt auch, „dass diese Leute mit dem 18-Stunden-Arbeitstag“ (S. 208) ausschließlich in privaten Bezügen in den Nachrufen dargestellt werden, nicht als arbeitende Menschen. „Durch Familisierung und Absenkung der betroffenen Schicht wurde ‚middel America’ und in der Folge ‚ganz Amerika’ zum Opfer der Angriffe erklärt.“ (S. 208) Damit wurde die Aufmerksamkeit vom „Untergang eines Teils der Finanz-Subkultur der Stadt“ (S.209) abgelenkt. Steinert bezeichnet dies als eine Art Schadensbegrenzung, um „die empfindliche Welt der Finanzspekulation nicht weiter zu verunsichern“ (S. 209): „Es gehört zu den elementaren Prinzipien von Herrschaft, dass sie nie schwach und in Not gesehen werden darf. Diese Rolle gebührt der Unterschicht, die gerade wegen ihrer Verletzlichkeit als heroisch gilt.“ (S. 209) Auch die Betroffenheit anderer Nationalitäten sowie bestimmter ethnischer und religiöser Gruppen wurde – so Steinert – überbetont. Leider liefert er dazu keine Zahlen.
Steinert geht es darum, wie solche Mechanismen durch eine populistische Politik genutzt werden kann:

„Populistische Politik ist nicht einfach Manipulation, sie bringt vielmehr die Leute dazu, tatsächlich gegen ihre eigenen Interessen zu handeln, indem sie an vorhandenen Gefühlen und Ressentiments ansetzt. Sie führt (auf Zeit) Interessengegensätze in der Bevölkerung zusammen, indem sie auf eine tatsächliche 'kleinste Gemeinsamkeit’ (am abstraktesten ein gemeinsamer Feind) rekurriert. Sie verwendet dazu starke private Erfahrungen (z.B. Männlichkeit, Familie) und hebt sie als politische Metapher in die Öffentlichkeit.“ (S. 211)

Man kann das, was in New York (und Amerika) passiert ist, als einen Versuch der Vergemeinschaftung bezeichnen. Ziel ist die Generierung von Folge- und Zustimmungsbereitschaft (z.B. für einen unabsehbar langen Anti-Terrorismus-Krieg). Dafür war „allerdings gelegentlich das Absehen von Aspekten der Realität [nötig]. Man kann das auch Verleugnung nennen.“ (S. 214)

Daniela Klimke und Rüdiger Lautmann begeben sich in ihrem Beitrag auf die „Suche nach der verlorenen Ordnung“. Sie beschreiben die anfängliche Verortung der Terroristen vom 11. September aufgrund des anfänglichen Informationsmangels als imaginativ: „Der Terroranschlag ist so nicht mehr der Auftakt von Bedrohung, sondern ein Wirklichkeitsabschnitt in der Kette der Imagination von terroristischer Gefahr.“ (S. 242) Dabei wurde die Täterschaft dem „Bösen“ zugeordnet. Im Prinzip blieb es dabei, wie Bushs Äußerungen über die „Achse des Bösen“ zeigen: „Zwar lassen sich mit dieser Wegbeschreibung einige barbarische Phantasmagorien nähren, jedoch bleibt die tatsächliche Gefahr diffus sowohl in ihrer Verortung als auch in ihrer Gestalt. Gleichzeitig bietet dieses unklar konstruierte Bild des Bösen ein ausreichendes Fundament für eine fast beliebige Erweiterung der terroristischen Bedrohung“ (S. 243). Diese – man kann fast sagen – Mystisierung der Täter hat aber auch gravierende Folgen für die Bekämpfung der Terroristen, resp. des Terrorismus: „Mit der Rede vom 'Kreuzzug’, in dem die Welt vom Bösen erlöst werden sollte, kündigte Bush nicht nur eine gründliche Rache an, sondern beschwor in christlich-fundamentalistischer Manier die strikte Sphärentrennung von Gut und Böse.“ (S. 243)

Klimke und Lautmann gehen davon aus, dass sich die Wiederherstellung der symbolischen Ordnung auf drei Ebenen vollzieht: Öffentliche Rede, symbolhafte (nonverbale) Handlungen und Medienberichterstattung. Diese ist zunächst retrospektiv auf die „Wiederbelebung bestehender Vorstellungen von gesellschaftlicher Bedrohung auf der einen Seite und der symbolischen Ordnung auf der anderen Seite“ gerichtet. Erst dann setzt nach und nach die eigentliche Deutung der Geschehnisse ein. „Die kollektive Abwehr der erlittenen Bedrohung wurde allmählich aufgegeben zugunsten einer intensiven Spurensicherung und ihrer Interpretation.“ (S. 246). Sie beschreiben die Deutungsprozesse von Terroranschlägen als wechselseitige Sinnproduktion:

„Die Terroristen agieren unabhängig von der deutenden Gesellschaft und vice versa. Jedoch muss jede Sinnproduktion notwendigerweise die Gegenseite mit einbeziehen, um überhaupt Sinn herstellen zu können. Die Angreifer müssen, um mehr als bloße Gewalt darzustellen, ein terroristisches Skript entwerfen, das die bestehende symbolische Ordnung der Gesellschaft zu attackieren imstande ist. Auf der anderen Seite greift die aufgeschreckte Öffentlichkeit eben diese Elemente der Inszenierung auf, um sich über das Geschehene und die zu ergreifenden Gegenmaßnahmen Klarheit zu verschaffen. Erst in dem Prozess der diskursiven Auseinandersetzung mit dem Terrorakt [...] erhält Terror seine letztendliche Gestalt und Wirkung.“ (S. 247).

Nur wenige Tage nach den Anschlägen war klar, dass Amerika einen Krieg gegen den Terrorismus führen werde. Dies erlaubte vom Ort der Anschläge abzulenken und eine militärische Überlegenheit zu demonstrieren. Aber: „Mit der kriegerischen Zieldefinition der globalen Vernichtung von tatsächlichen und potenziellen Terroraktivisten lässt sich das Bedrohungs- und Handlungsszenario derart vage halten, dass hierunter bequem auch ganz anderen Interessen als der Schutz nationaler Sicherheit legitimatorisch Unterschlupf finden.“ (S. 251) Damit wird der Krieg gegen den Terrorismus zu einem fast beliebigen Machtinstrument. Durch die eilige Festlegung auf plakative Gut/Böse-, Freund/Feind-Schemata wurde uneingeschränkte Gefolgschaft unter die hegemonialen Interessen Amerikas gefordert: „Eine unilaterale Kriegsführung mit diffusem Feindbild stand von vornherein fest, ohne je Gegenstand eines internationalen diskursiven Deutungsprozesses werden zu können.“ (S. 254). Und diese Verweigerung eines gesellschaftlichen Deutungsprozesses sehen Klimke und Lautmann nicht nur auf der internationalen, sondern auch auf der nationalen Ebene:

„Der anfänglichen Rettung der symbolischen Ordnung durch plakative Rahmungen ist kaum ein gesellschaftlicher Diskurs über die verschiedenen Deutungen des Geschehens am elften September gefolgt. Stattdessen richtet sich ein tiefes Misstrauen gegen das Böse im Inneren der us-amerikanischen Gesellschaft. Auch hier weisen repressive Maßnahmen [z.B. dem US Patriot Act, Anmerkung C.H.] vermeintlich den Weg zur Einheit.“ (S. 255).

Viele Aufsätze gehen kaum über die Reaktionen auf den 11. September hinaus. Dies ist nach Zielsetzung des Buches wahrscheinlich angemessen, doch gerade unter dem recht allgemeinen Untertitel „Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror“ hätte ich hier durchaus einige Vergleiche mit anderen Anschlägen oder (nach der oben aufgeführten Definition) mit Formen von Staatsterror erwartet . Aufgrund der Begrenzung auf den 11. September sind dann auch einige Aussagen in den einzelnen Artikeln redundant. Gerade im ersten Teil finden sich zudem einige sehr schlecht redigierte Artikel. Tippfehler, doppelte Fußnoten und fehlerhafte Sätze erschweren dort das Lesen beträchtlich.

Der 11. September und jüngst auch der 11. März haben gezeigt, wie die gesellschaftliche Deutung und Verarbeitung von Terroranschlägen politisch nutzbar gemacht wird. Selten ist es so offensichtlich wie derzeit in Spanien. Dort versuchten Aznar und seine Partei, die PP, die Anschläge als „Angriff auf die Demokratie“ zu deuten. Kurz vor den Wahlen sollte so die Wählerschaft mobilisiert werden, die PP als Partei des Kampfes gegen die ETA wiederzuwählen. Eine Wahlkampfinterpretation aus dem Stehgreif, obwohl Aznar selbst auf der Vorderbühne der Politik den Wahlkampf ausgesetzt hat. Man mag dies moralisch kritisieren, überraschend ist das nicht. Auch George Bush hat die Anschläge des 11. Septembers für seine Politik benutzt. Der vorliegende Band zeigt jedoch auch, dass nicht nur die Politik, sondern auch die Medien und die öffentliche Meinung breitwillig solche Prozesse mit in Gang setzten: „Gelingende populistische Politik ist unter Verwendung der kulturellen (patriarchalen) Selbstverständlichkeiten in den Komplexen von 'Familie, Gemeinde’ und 'Feind, Krieger’ imstande, die wichtigsten persönlichen Wünsche und Bereitschaften, die in der Situation entstehen, durch Aufnehmen und Umlenken zu integrieren. Weil diese kulturellen Selbstverständlichkeiten von Politikern, Journalisten und Bevölkerung geteilt werden, ist dafür weder besonderer Machiavellismus noch gar eine Verschwörung nötig, allerdings gelegentlich das Absehen von Aspekten der Realität. Man kann das auch Verleugnung nennen.“ (S. 214)

Literatur:
Ronald Hitzler, Jo Reichertz (Hrsg.), 2003: Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror. Konstanz. UVK.