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Peter Moormann
Anatomie einer Leidenschaft
Anmerkungen zu Bernardo Bertoluccis transgressivem Liebesfilm
DER LETZTE TANGO IN PARIS
Mit Ultimo tango a Parigi gelang
Bernardo Bertolucci ein Skandalerfolg Anfang der siebziger Jahre. Begünstigt
durch Gerüchte um extreme Sexszenen, gerichtliche Klagen und Verbote,
spielte der Film, dessen Budget lediglich bei 1,2 Millionen Dollar lag
(vgl. David Thompson: Last tango in Paris.
London 1998, S. 16), insgesamt über 40 Millionen Dollar ein (vgl.
Dietrich Kuhlbrodt: L´ultimo tango a Parigi. In: Peter W. Jansen
/ Wolfram Schütte: Bernardo Bertolucci. München 1982, S. 170).
Obwohl Ultimo tango a Parigi in den USA als Pornofilm vermarktet wurde
(vgl. ebd.), erkannte die Filmkritik schon früh seine künstlerische
Qualität. Die amerikanische Kritikerin Paul Kael sah in ihm gar „the
most powerfully erotic movie ever made“ (Pauline Kael: Last Tango
in Paris. In: The New Yorker 47, Nr. 10 (Oktober 1972), S. 130) und verglich
seine Bedeutung für die Filmge-schichte mit der Stellung von Strawinskys
Le Sacre du Printemps für die Musikgeschichte
des 20. Jahrhunderts (vgl. Pauline Kael. a.a.O., S.130). Bertolucci ver-zichtet
auf die explizite Darstellung von Sexualität und präsentiert
abnorme Sexualpraktiken stets als Simulationen. Dennoch geht von den Sexszenen
eine enorme Intensität aus, die Moral- und Gesetzeshüter zum
Handeln veranlasste. Großen Anteil daran, dass die Bilder Bertoluccis
als so verstörend und schockierend wahrgenommen wurden, hat die Arbeit
des Malers Francis Bacon, dessen Bildäs-thetik eine zentrale Stellung
in diesem Werk Bertoluccis einnimmt.
Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung wird daher
zunächst der Einfluss Bacons auf Bertolucci stehen, der sich auf
unterschiedlichen Ebenen des Films manifestiert. Anschließend werden
einzelne mythische Strukturen des Filmes erarbeitet. Insbesondere wird
dabei auf die Rolle des Orpheus-Mythos´ eingegangen. Ein weiteres
Kapitel widmet sich der dargestellten Erotik im Film, die im Hinblick
auf ihre transgressive Kraft analysiert wird. Anschließend soll
die Rolle des Tangos im Film erörtert werden. Im Fazit werden dann
die einzelnen Kapitel zusammengeführt, um zu einer stimmigen Interpretation
des Films zu gelangen.
Bacon und Bertolucci
Bertolucci unterlegt den Vorspann mit zwei Gemälden
des irischstämmigen Malers Francis Bacon und signalisiert damit die
zentrale Bedeutung seines Werkes für den Film. Sie spiegeln nicht
nur die Psyche der Hauptfiguren wider, sondern bilden auch die Grundlage
für die visuelle Gestaltung des Films (vgl. Robert Phillip Kolker:
Bernardo Bertolucci. London 1985, S. 128). Untermalt
werden diese Reproduktionen von schwermütigen Tangoklängen des
Komponisten Gato Barbieri, die die depressive Stimmung, die von den gezeigten
Porträts ausgeht, inten-sivieren.
Bei dem ersten Bild handelt es sich um den linken Teil des
Diptychons „Double Portrait of Lucian Freud and Frank Auerbach“
aus dem Jahr 1964. Ein Mann im fensterlosen, orangefarbenen Raum liegt
auf einem roten Diwan, dessen vorderes Ende zu Boden zu fließen
scheint. Sein Gesicht ist völlig deformiert, die Extremi-täten
nehmen abnorme Stellungen ein. Seine Haut wirkt wachsgleich, einzelne
Muskelstränge werden besonders betont. Das zweite Gemälde, „Study
for a Portrait (Isabel Rawsthorne)“, ebenfalls aus dem Jahr 1964,
zeigt eine Frau, die inmitten eines ebenfalls fensterlosen Raumes mit
schwarzen Wänden zusammengekauert auf einem Stuhl hockt. Sie wendet
ihren Blick vom Betrachter ab. Auch ihr Körper ist deformiert und
wirkt leblos, wie totes Fleisch (vgl. Claretta Micheletti Tonetti: Bernardo
Bertolucci. The Cinema of Ambiguity. New York 1995, S. 126).
Bacon kreiert zerklüftete Körperlandschaften,
die inneren Schmerz, innere Zerrissenheit auf schockierende Art und Weise
veräußerlichen. Dabei sind anatomische Verzerrungen, Verschiebungen,
Auflösungen sowie die Abgeschlossenheit der Person im Raum zentrale
Bildmomente, die sich auch in der filmischen Arbeit Bertoluccis wiederfinden.
Insbesondere die Hauptfigur Paul (Marlon Brando) verkörpert
mit ihrer Mimik und Gestik die Figuren Bacons. Bertolucci selbst, der
im Vorfeld der Arbeiten zu Ultimo tango a Parigi
eine Bacon-Ausstellung in Paris besuchte, betont die Bedeutung
dieses Malers in Bezug auf die Persönlichkeitskonstruktion Pauls:
“I went back to see the show with Marlon [Brando];
I wanted him to compare himself with Bacon´s human figures because
I felt that, like them, Marlon´s face and body were characterized
by a strange and infernal plasticity.
I wanted Paul to be like the figures that obsessively
return in Bacon: faces eaten by something coming from the inside.”
(zitiert nach: Claretta Micheletti Tonetti. a.a.O., S. 126)
Gleich in der ersten Einstellung verwandelt sich Brando
in eine der schmerzerfüllten Figuren Bacons. Die erste Aufnahme zeigt
Paul auf einer Brücke in Paris, während über ihm eine Metro-Bahn
mit Getöse vorbeirollt. Er hält sich die Ohren zu, schaut schmerzverzerrt
zum Himmel auf und schreit „Fucking god!“. Dieser Aufschrei
erinnert nicht nur an Edward Munchs berühmtes Gemälde „Der
Schrei“, sondern vielmehr an ein Gemälde Bacons mit dem Titel
„Study of Pope Innocent X by Velasquez“ aus dem Jahr 1953.
Bacon visualisiert in diesem Bild einen entsetzlichen Schrei unendlichen
Schmerzes und totaler Resignation. Die Papst-Figur sitzt auf einem Thron,
seine unteren Gliedmaße fehlen. Der Körper scheint lediglich
aus Knochen und Haut zu bestehen. Der Mund des schmerzver-zerrten Gesichtes,
das in roten, weißen und violetten Tönen gehalten ist, ist
so weit geöffnet, dass das Innere der Figur nach außen zu treten
scheint. Gerade diesen veräußerlichten Schmerz verkörpert
Paul in der ersten Einstellung des Films und seine Worte verbalisieren
den Inhalt des Gemäldes von Bacon (vgl. Claretta Micheletti Tonetti.
a.a.O., S. 126f).
Einen weiteren Verweis auf Bacon liefert die Kleidung Pauls.
Mit Pauls hellbraunem Mantel zitiert Bertolucci die Selbstporträts
von Bacon Ende der 60er Jahre, in denen sich der Künstler selbst
mit braunem Mantel abbildete (vgl. David Thompson. a.a.O., S. 28). Ebenso
spiegeln sich Bacon und seine Figuren in Pauls Körperhaltungen wider.
Insbesondere bei den Szenen im leeren Appartement lassen sich Analogien
zu den im Vorspann präsentierten Porträts herstellen. Mal sitzt
Paul zusammengekauert, wie die weibliche Figur an der Wand, mal liegt
er auf dem Boden, das eine Bein über das andere geschlagen, wie in
der männlichen Studie (vgl. Robert Phillip Kolker. a.a.O., S. 129).
Auch die Gestaltung der Innenräume erinnert stark an Bacon. Bertoluccis
Figuren befinden sich ebenfalls in Räumen, in denen der Kontakt zur
Außenwelt aufgehoben zu sein scheint. Die Fenster und Fensterläden
sind geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Wie bei Bacon geben die
Innenräume im Film Auskunft über das psychische Befinden der
Figuren, die sich in einem Zustand der inneren Deformation und Auflösung
befinden. Mittels Spiegeln und Glasscheiben versucht Bertolucci das morbide
Innenleben seiner Figuren zu veräußerlichen. Er selbst verweist
hierbei auf Bacon:
„I took Vittorio Storaro to see Bacon´s
paintings, and Fernando Scarfiotti, and Gitt, the costume designer, and
they were all very impressed. Vittorio and Fernando ended up playing a
lot with frostes glass, and I remember we did these close-ups of Marlon
behind the glass, which were very like Bacon. I would say, today we´ll
do a Bacon, bring the glass!”
(zitiert nach: David Thompson. a.a.O., S. 28)
In der Bar, gleich zu Beginn des Films, wird Paul durch
die milchige Glastür einer Telefonkabine photographiert, seine Konturen
sind völlig verschwommen. Auch als Paul später das Bad betritt,
in dem seine Frau zuvor Selbstmord begangen hat, tritt er hinter eine
diffuse Opalglasscheibe, die seine Konturen völlig aufzulösen
scheint. Hinzu kommen das Blut an der Scheibe, das durchdringende Geräusch
fließenden Wassers und die todbringende Rasierklinge, die den Raum
in ein Schlachthaus verwandeln, eine Assoziation, die sich auch bei Bacon
finden lässt (vgl. David Thompson. a.a.O., S. 37). In einer anderen
Szene spiegelt sich ein Freier in der Fensterscheibe, durch die Paul schaut.
Beide Gesichtskonturen verschwimmen miteinander zum bizarren Zerrbild
(vgl. Robert Phillip Kolker. a.a.O., S. 145).
Auch Jeanne (Maria Schneider) wird mit solchen Deformationen in Beziehung
gebracht. Vor der Telefonkabine in einer Bar beobachtet sie eine alte
Frau, wie sie ihr Gebiss im Waschbecken reinigt, es mit einem unangenehmen
Geräusch wieder in den Mund einsetzt und sich im Spiegel betrachtet.
Ihre Augen werden durch Brillengläser vergrößert, ihre
Zahnprothese wirkt beim Einsetzen monströs. Daraufhin blickt die
junge, bildschöne Jeanne in den Spiegel und streicht sich mit der
Hand über ihr makelloses Gesicht, als ob sie sich ihrer selbst vergewissern
müsste. Denn das zuvor Betrachtete ist bereits zum Zerr- und Schreckensbild
ihrer selbst geworden. Ebenso zur Fratze wird das Gesicht der Pförtnerin
des Hauses. Als Jeanne nach dem Zweitschlüssel greifen will, umklammert
die Pförtnerin plötzlich ihre Hand und setzt zu einem höllischen
Gelächter an. Noch weitaus schockierender für Jeanne ist die
Konfrontation mit einer toten Ratte, die Paul in der Wohnung findet und
ihr zum Verzehr anbietet. Diese Szene zitiert wiederum die weibliche Studie
Bacons, denn auch dort ist im Bildvordergrund, die Silhouet-te einer Ratte
auszumachen (vgl. Robert Phillip Kolker. a.a.O., S. 140). Der
plötzliche Aufschrei Jeannes gleicht dem der Figur.
Am Ende des Vorspanns blendet Bertolucci beide Porträts
gleichzeitig ein und verweist im Nebeneinanderstellen dieser zwei Gemälde
von Mann und Frau auf das Verhältnis zwischen männlicher und
weiblicher Hauptfigur und deren Projektionen im Film. Weltverlorene Figuren
finden sich bei Bacon wie bei Bertolucci in Räumen wieder, die von
der Außenwelt hermetisch abgeschlossen zu sein scheinen. Wie Bertolucci
die separaten Gemälde nebeneinander setzt, so werden die Hauptdarsteller
von Kameramann Vittorio Storaro durch Rahmen, Wände, Türen,
Fenster, Spiegel und Räume physisch voneinander getrennt photographiert,
wodurch ihre Isoliertheit betont wird. Robert Phillip Kolker sieht gerade
hierin eine Parallele zu Bacon:
„The viewer must therefore actively relate the
various parts of the divided compo-sition, which are analogous to Bacon´s
two- and three-panel canvases in which a figure is seen in different perspectives,
or different figures are juxtaposed in an painterly version of cinematic
montage. For Bertolucci, the divided frame pro-duces an internal montage,
separating and connecting the figures simultaneously.”
(Robert Phillip Kolker. a.a.O., S. 133)
Einen weiteren Hinweis auf Bacon liefern Storaros Kamerabewegungen,
die die Verschiebungen und Verzerrungen aufgreifen. Immer wieder werden
im Bild etablierte Mittelachsen wie Türen und Wände durch die
Kamerafahrt unterlaufen, so dass stabile Blickverhältnisse im Raum
verschwimmen (vgl. Karsten Witte: Der späte Manierist. In: Peter
W. Jansen / Wolfram Schütte (Hg.): Bernardo Bertolucci. München
1982, S. 57). Storaro visualisiert auf diese Weise das unstete erotische
Verhältnis der Figuren zueinander und setzt damit eine zentrale These
Georges Bataille filmisch um, die dieser in seinem Werk „Der heilige
Eros“ wie folgt formuliert: „In der Erotik geht es immer um
die Auflösung schon gebildeter Formen“ (Georges Bataille: Der
heilige Eros. Berlin 1979, S. 18). Gerade diesen Auflösungsprozess
versucht Storaro auf baconeske Weise einzufangen.
Das von Bacon betitelte „Double Portrait of Lucian
Freud and Frank Auerbach“ gibt zudem Aufschluss über die Figurenkonstellation
in Ultimo tango a Parigi. Denn wie dem Gemälde
„Lucian Freuds“ als rechte Hälfte des Diptychons das
von „Frank Auerbach“ zugeordnet ist, so werden auch im Film
verschiedene Figuren miteinander in Beziehung gebracht. Sie erscheinen
sogar als Spiegelungen einer Figur. Solche Persönlichkeitsspaltungen
finden sich ebenso bei Paul und Jeanne, denen jeweils Doppelgänger
zugeordnet werden können. Pauls Persönlichkeit spiegelt sich
einerseits im Liebhaber seiner Frau, Marcel (Massimo Girotti), wider.
Als die beiden in der Wohnung Marcels nebeneinander sitzen und über
den Charakter Pauls verstorbener Frau Rosa sprechen, tragen sie die gleichen
Morgenmäntel, die Rosa für sie gekauft hatte, und favorisieren
dieselbe Whiskeymarke. Marcel wird als passive Seite von Paul, als sein
bürgerlicher Antipol, etabliert, dessen Hobby es ist, in seinem sauberen
Appartement Zeitungsartikel auszuschneiden. Während Paul seine Gefühle
in der leeren Wohnung auszuleben versucht, zieht Marcel sich völlig
zurück. Als weiteres Fragment von Pauls Persönlichkeitskonstruktion
erweist sich Jeannes Freund Tom (Jean-Pierre Léaud). Beide werden
Spiegelungen der Form, die sie kreiert. Während der bürgerliche
Tom besessen davon ist, sich selbst vor der Kamera zu präsentieren,
versucht der Antibürger Paul/Brando der Welt des Kinos zu entfliehen
(vgl. Robert Phillip Kolker. a.a.O., S. 136f.). Jeanne im weißen
Hochzeitskleid findet ihr visuelles Echo in Pauls toter Frau Rosa, die
ebenfalls im weißen Kleid aufgebart liegt. Ein weiteres Element,
das die beiden weiblichen Figuren miteinander verbindet, sind die Blumen.
Die Veilchen, die Jeanne zu Beginn des Films im Hut trägt, rahmen
das Totenbett von Rosa (vgl. Karsten Witte. a.a.O., S. 15). Auch in der
leeren Wohnung nimmt sie die Rolle von Rosa an, in dem sie deren ritualisierte
Hand-lungen vollzieht. Sie geht auf die Toilette, diskutiert über
den Standort der Mö-belstücke und telefoniert mit Paul (vgl.:
T. Jefferson Kline: Bertolucci´s Dream Loom. Amherst 1987, S. 111).
Einen ebenso entscheidenden Einfluss Bacons ist bei der
Farbgestaltung des Films auszumachen. Bertoluccis Farbpalette gleicht
der Bacons und reicht von intensivem Orange, kaltem Grau und Weiß,
bis hin zu Rottönen, die mit hellen Braun- und Cremetönen kombiniert
werden. Bertolucci selbst betont die Bedeutung Bacons für die Farbgebung:
“During the winter in Paris, even during the
day, the lights of the stores are on, and there is a very beautiful contrast
between the leaden gray of the wintery sky and the warmth of the show
windows. In those days there was at the Grand Palais a Francis Bacon show,
and the light in the paintings was the mayor source of inspiration for
the style we were looking for.”
(zitiert nach: Claretta Micheletti Tonetti. a.a.O., S. 126)
Aus der Farbpalette hervorgehoben wird immer wieder Orange.
Auch Bertoluccis Kameramann Storaro betont die zentrale Rolle dieser Farbe
für den Film: „I did not have the slightest idea that an orange
film could be born. We needed another kind of emotion. […] It was
the case of Last Tango” (zitiert nach:
Franca Faldini / Goffredo Fodi: Il cinema italiano dóggi. Mailand
1984, S. 145). Orange spiegelt sich in den Fenstern der vorbeifahrenden
U-Bahnen, erfüllt die von außen photographierten Innenräume
der Pariser Häuser, den Tanzsaal und die leere Wohnung. Wie in den
Gemälden Bacons birgt Orange auch bei Bertolucci eine ambivalente
Qualität in sich. In dieser Farbe ausgeleuchtete Innenräume
werden zu pränatalen, uterusgleichen Orten der Geborgenheit (vgl.
Peter Bondanella: Italian Cinema. New York 1991, S. 310). Insbesondere
die leere Wohnung wird so zu einem von der Welt hermetisch abgeschlossenen
Raum, der die Figuren gleichsam wie ein Körper umhüllt, Wärme
spendet und sie vor der kalten, grauen Großstadt schützt. Orange
unterstreicht ebenso die erotische Leidenschaftlichkeit der Figuren. Andererseits
betonen Bacon wie Bertolucci mit der Farbe Orange den Verfall und nahenden
Tod. Orange wird in diesem Kontext zur Farbe der Einsamkeit, der Destruktion,
des Schmerzes und der Hoffnungslosigkeit.
Mythische Strukturen
Zu Beginn des Films befinden sich die beiden Hauptfiguren
auf einer Brücke in Paris. Die Kamera konzentriert sich zunächst
auf Paul, um dann Jeanne zu folgen, die ihn von hinten einholt, kurz zu
dem weinenden Paul hinüberblickt und ihn dann passiert. Ihre erste
Begegnung bleibt flüchtig und wortlos. In der Totalen ist darauf
die Brücke in Gänze sowie die Seine zu sehen. Am Ende der Brücke
angelangt, fokussiert die Kamera noch einmal Paul. Die Kamera fährt
von der Seite auf den Brückenbogen zu, unter dem sich nun Paul befindet,
und verharrt dann in einer zentralperspektivischen Einstellung, sodass
die Brücke durch die in die Tiefe gestaffelten Verstrebungen gleichsam
zum Tunnel wird. Jeanne läuft auf einen Straßenkehrer zu und
überspringt mit kindlicher Leichtigkeit dessen Besen, so als ob sie
mühelos ein Hindernis überwunden hätte. In kurzen Einstellungen
werden Polizisten aufgenommen, die sich unterhalb der Brücke befinden.
Die Brücke wird hier zum Symbol der Passage, der Grenzüberschreitung.
Sie stellt den Übergang von einem Zustand in einen anderen dar –
von Leben zu Tod. Die Figuren befinden sich auf dem „Quai des Passy“.
Der Name verweist sowohl auf den Moment der Passage als auch den Moment
des Todes [franz.: trépasser=sterben] (vgl. T. Jefferson Kline.
a.a.O., S. 109).
Die nächste Einstellung zeigt Jeanne, die vor einer
großen, mit Eisenbeschlägen verzierten Eingangstür in
der „Rue de Jules Verne“ steht. Sie schaut zunächst hinauf
zu den Wohnungen der oberen Etagen und dann auf ihre Uhr. Es folgt eine
Subjektive Pauls, der ebenfalls zu den Obergeschossen des Hauses emporschaut.
Der griechischen Mythologie nach musste man den Fluss Styx überqueren,
um zu den Toren der Hölle zu gelangen. Bezieht man diesen Mythos
auf den Film, so wird die Überquerung der Brücke für die
Hauptfiguren zum Übergang vom Reich der Lebenden zum Reich der Toten
und die Tür, durch deren Glas orangefarbenes Licht nach außen
scheint, zu eben dieser Höllenpforte. Mit dieser Bildsymbolik nimmt
Bertolucci bereits das tragische Ende Pauls vorweg, dessen Schicksal schon
zu Beginn besiegelt zu sein scheint.
Interessant ist zudem, dass sich die „Rue des Jules
Verne“, in der sich das Haus befindet, in Wirklichkeit keineswegs
in der Nähe von „Quai des Passy“ befindet. Bertolucci
kreiert ein imaginäres Paris und nimmt sich damit Jean Cocteau zum
Vorbild. Aus dessen Film Orphée (1950)
zitiert Bertolucci die Polizisten, die bei Cocteau die Wächter des
Totenreiches repräsentieren. Ein weiter Verweis auf Orphée
bildet der Name der Metrostation, Grenelle, in der es zum Streit zwischen
Tom und Jeanne kommt. Orpheus steigt an diesem Ort aus seinem Wagen. Ein
weiteres Mal zitiert Bertolucci Cocteau, wenn Jeanne auf ihre Uhr blickt.
Auch in Orphée hält die Prinzessin, der Orpheus durch Paris
folgt, mehrmals inne, um nach ihrer Uhr zu schauen. Auch die Wahl des
Straßennamen „Rue de Jules Verne“ ist eng mit dem Orpheus-Mythos
verbunden. Verne liefert mit seine Novelle „Le Château de
Carapathe“ eine Neuinterpretation dieses Mythos (vgl. T. Jeffer-son
Kline. a.a.O., S. 109f.).
Ebenso mythisch verankert ist die Figur der Pförtnerin,
der Jeanne in der Eingangshalle begegnet. Der griechischen Mythologie
nach werden die Vorhallen zur Hölle von den Eumeniden bewacht, die
in Käfigen sitzen. Auch bei Bertoluc-ci findet sich das Moment des
Käfigs wieder. Die Pförtnerin reicht Jeanne den Schlüssel
durch eine kleine Öffnung in der Glasscheibe, deren zahlreiche Metallverstrebungen
betont werden. Durch die Verglasung dringt wiederum orangefarbenes Licht
nach außen. Gleich den Eumeniden erschreckt sie den Neuankömmling,
indem sie Jeanne für kurze Zeit gefangen hält und mit hysterischem
Geläch-ter begrüßt (vgl. T. Jefferson Kline. a.a.O., S.
110).
Während des Gesprächs zwischen Jeanne und der
Pförtnerin stellt jemand eine leere Flasche vor die Tür. Lediglich
seine Hand ragt aus dem Spalt hervor, bevor die Tür wieder lautlos
geschlossen wird. Szenen wie diese betonen die Unwirk-lichkeit des Raumes.
An diesem zeitlosen, mythischen Ort scheint es keine realen Personen zu
geben. Selbst die Pförtnerin bekommt nichts von der Außenwelt
mit (sie gibt an, nichts von einer Wohnungsannonce zu wissen).
Jeanne steigt in einen alten eisernen Aufzug und fährt
aufwärts. Bertolucci pervertiert mit diesem Bild nicht nur die christliche
Auffahrtsikonographie, sondern visualisiert eine erneute Grenzüberschreitung,
die Jeanne mit dem Etagenwechsel vollzieht. Denn die leere Wohnung, die
sie dann erreicht, wird in der Folge der Ort, an dem die soziale und sexuelle
Grenzüberschreitung realisiert und der von Bataille bezeichnete „heilige
Eros“ (vgl. Georges Bataille. a.a.O.) zerstört werden wird.
In der Wohnung wird die umhergehende Jeanne einerseits direkt von der
Kamera aufgenommen, andererseits indirekt über ihr Spiegelbild. Wie
in Cocteaus Orphée wird der Spiegel zum Symbol der Grenzüberschreitung,
zur Pforte die zwei Welten bzw. Figurenwelten miteinander verbindet. Bertolucci
präsentiert Paul und Jeanne im Spiegel und vereint die Unvereinbaren
dort.
Nach dem ersten abrupten Geschlechtsakt fragt Jeanne nach Pauls Namen.
Dieser reagiert außer sich vor Wut und formuliert einen regelrechten
Gesetzestext, der die Bedingungen für ihr Zusammensein absteckt.
Paul untersagt jede Form von Identität und verlangt von ihr, ihren
Namen, ihre Vergangenheit und alles andere zu vergessen. Mit diesem absoluten
Diktat verweist Bertolucci auf den Befehl, den Orpheus von den Göttern
erhalten hat. Will er Eurydike wiedersehen, so darf er sich nicht nach
ihr umschauen. Wie Orpheus bricht Paul die aufgestellte Regel. Er ist
es, der Jeanne später nach ihrer Vergangenheit fragt, seine eigene
Identität preisgibt und am Ende des Films die Brücke in entgegengesetzter
Richtung überquert. In dem Augenblick, in dem Jeanne ihren Namen
ausspricht, erschießt sie ihn. Sie trifft ihn im Genitalbereich
und seine letzten Worten lauten „Our children!“, bevor er
auf dem Balkon zu Boden sinkt und in fötaler Haltung stirbt. Auch
Jeannes Tötungsakt verweist auf den Orpheus-Mythos. Denn als Orpheus
Eurydike erblickt, verwandelt sie sich in Mänade, die ihn zur Strafe
kastriert (vgl. T. Jefferson Kline. a.a.O., S. 112).
Bertolucci bedient sich des Orpheus-Mythos, um deutlich
zu machen, dass jeder Versuch Pauls, aus der realen Welt auszubrechen,
zum Scheitern verurteilt ist. Jede Form der Grenzüberschreitung bleibt
letztlich vergebens. T. Jefferson Kline geht in seiner Interpretation
noch einen Schritt weiter und vergleicht das Kino selbst mit diesem Mythos:
„Through the voyage enacted in this film, we
may better understand the degree to which cinema itself is an Orphic experience:
to descend into the darkness of a protracted space in an effort to retrieve
through images a lost origin.“
(zitiert nach: David Thompson: a.a.O., S. 58)
Erotik der Grenzüberschreitung
Bertolucci etabliert mit der leeren Wohnung einen Ort der
Anonymität, an dem sexuelle Phantasien außerhalb der sozialen
Realität ausgelebt werden können. Bertolucci geht es jedoch
nicht darum, diesen Raum dafür zu nutzen, den Zuschauer über
die Bilder auf einer erotischen Ebene zu verführen. Denn trotz aller
Drastik der Darstellung verzichtet Bertolucci auf explizite Aufnahmen
primärer Geschlechtsorgane oder anderer nackter Körperregionen,
durch die der Zuschauer stimuliert werden könnte. Vielmehr vollzieht
sich Bertoluccis Verführungsstrategie auf einer intellektuellen Ebene.
In Ultimo tango a Parigi etabliert er ein Modell einer grenzüberschreitenden
Erotik, die sich gegen die kulturellen Konventionen des Bürgerlichen
richtet. Bertolucci setzt damit Marcuses „theory of liberation“
filmisch um. Marcuse sieht in der Phantasie und Utopie „the possibility
of a non-repressive development of the libido under the conditions of
mature civilization“ (Herbert Marcuse: Eros and Civilization: A
Philosophical Inquiry into Freud. Boston 1955, S. 47).
Gerade durch die von Paul geforderte Negation von Identität
wird der Geschlechtsakt zum transgressiven, existenziellen Ereignis. Durch
den Verzicht auf verbale Kommunikation wird eine Verführung über
die Sprache außer Kraft gesetzt. Kulturelle Normen und moralische
Schranken werden auf diese Weise niedergerissen. Der Körper selbst
wird in den Mittelpunkt gerückt und das unmittel-bare körperliche
Begehren betont (vgl. Dietrich Kuhlbrodt. a.a.O. S. 162f.).
Doch das von Bertolucci vorgestellte erotische Modell bleibt
eine Utopie, die zum Scheitern verurteilt ist. Als Jeanne später
in der Liebeswohnung von ihrem Vater erzählt und auch Paul von seinen
Eltern berichtet, wird die Autarkie ihrer Beziehung und des Ortes nach
und nach aufgebrochen. Beide transportieren über ihre Erzählungen
ein Stück der Außenwelt, ein Stück bourgeoiser Wirklichkeit
mit allen Konventionen und Beschränkungen in den zuvor hermetisch
abgeriegelten Raum. Bertolucci visualisiert dieses Durchbrechen von Realität
über die Lichtinszenierung. Das Tageslicht dringt horizontal in den
Raum ein, die Schatten der Jalousien und Vorhänge werden an die Wand
geworfen. „Queres Tageslicht also liegt auf dem Arsch der Schneider“
(Dietrich Kuhlbrodt. a.a.O., S. 164), als Jeanne vor dem sie beobachtenden
Paul masturbiert, sich auf dem Boden hin und her wälzt und schließlich
eine fötale Haltung einnimmt. Ihn trifft die Grausamkeit der Körpersprache:
er hat ebenfalls eine fötale Position eingenommen und weint, während
er sich einen kaputten Lampenschirm vor das Gesicht hält, dessen
Form und Farbe der Lampe in der Wohnung seiner Frau ähnlich sind.
Jeannes Selbstbefriedigung symbolisiert das Scheitern ihrer Beziehung,
seines Konzeptes. Jeanne befreit sich durch den Akt der Onanie von Pauls
Diktat und kehrt damit in ihre bourgeoise Welt, die eng mit Tom verbunden
ist, zurück. Die Tränen, die über Pauls Wange rollen, sind
das bittere Eingeständnis für die somit vollzogene erotische
Trennung. Bertolucci selbst interpretiert diese Szene wie folgt:
„He cries because at that moment he is sincere
about himself, he sees that he is trying to find in sex a lost innocence
– above all, to find through sex an ideal relationship. At that
moment, he understands that this is impossible.”
(zitiert nach: Guy Flatley: Bertolucci is All Tangoes Out. In: The New
York Times. 11. Februar 1973)
Die Einsamkeit der Figuren und ihre Negation einer geistigen
Dimension in ihrer Beziehung finden einen visuellen Ausdruck in dem mit
weißen Tüchern verhüllten Gegenstand. Beim ersten Aufeinandertreffen
der beiden in der leeren Wohnung hebt Paul kurz die weiße Decke
an, ohne jedoch den Inhalt unter ihr zu lüf-ten. Das Objekt wird
so zu einem kuriosen Geheimnis, ebenso wie Paul, der seine Identität
verbirgt. Jeanne ist es, die bei ihrem letzten, alleinigen Besuch in der
Wohnung die Decke entfernt und einige wertlose Holzstücke und Reste
einer alten Tür aufdeckt. Sie symbolisieren Pauls inneren Zustand
der Zerbrochenheit und geben gleichzeitig einen Hinweis auf das Ende ihrer
Beziehung, das Schei-tern seines Konzeptes, das baldige Ende seines Lebens.
Jean Baudrillard schreibt über das Geheimnis:
„Das Geheimnis. Verführerische, initiatorische
Qualität dessen, was nicht gesagt werden kann, weil es keinen Sinn
hat, dessen, was nicht gesagt wird, obgleich es zirkuliert. So kenne ich
das Geheimnis des anderen, sage es aber nicht, und dieser wiederum weiß,
daß ich es weiß, lüftet jedoch nicht den Schleier: die
Intensität, die zwischen beiden herrscht, ist nichts anderes als
dieses Geheimnis um das Ge-heimnis.“
(Jean Baudrillard: Von der Verführung. München 1992, S. 110)
Gerade im Akt des Aufdeckens wird die Qualität des
Geheimnisses um das weiße Objekt zerstört. Pauls Verführungskraft,
die gerade von der Verschleierung seiner Identität ausging, hat nun
für Jeanne jede Wirkung verloren.
Die Idee der sexuellen Grenzüberschreitung findet bei
Bertolucci auf vielfältige Weise statt. Im Mittelpunkt stehen Sadomasochismus,
Analverkehr, Vergewaltigung, Masturbation und Andeutungen des Inzests.
Bereits beim ersten Aufeinandertreffen der beiden Figuren
im leeren Appartement liefert Bertolucci Hinweise auf ein inzestuöses
Verhältnis. Jeanne wird plötzlich von Pauls erotischer Obsession
ergriffen. Nahe der geschlossenen Jalousie findet der erste Geschlechtsakt
statt. Wie ein Kind umklammert sie mit Armen und Beinen den Körper
Pauls. Durch den enormen Altersunterschied wird die Assoziation von Vater
und Tochter zusätzlich verstärkt. Ihre Körper bleiben von
der Kleidung verhüllt. Der Beischlaf würde geradezu theoretisch
und simuliert anmuten, wenn der Zuschauer nicht zuvor dem Toilettengang
von Jeanne entnehmen könnte, dass sie keine Unterwäsche trägt.
Im Laufe des Films wird Paul mehr und mehr zum Vaterersatz für Jeanne.
Wie ein kleines Mädchen lässt sie sich in der Badewanne von
Paul mit einem Waschlappen säubern. Am Schluss des Films macht Bertolucci
noch einmal die Bedeutung des Inzests klar. Jeanne erschießt Paul
genau in dem Augenblick, in dem er den Offiziers-Képi ihres Vaters
trägt. Jeanne tötet somit nicht nur Paul, sondern auch die Imago
ihres Vaters und überwindet damit das angedeutete inzestuöse
Verhältnis zwischen Vater und Tochter (vgl. Karsten Witte. a.a.O.,
S. 35).
Vielmehr noch als der Inzest wird die Bedeutung des Analverkehrs
bei der sexuellen Grenzüberschreitung betont. Beim dritten Treffen
in der Wohnung befiehlt Paul Jeanne, Butter aus der Küche zu holen,
die dieser als Gleitmittel bei der fol-genden analen Penetrierung Jeannes
benutzt. Paul zerrt Jeanne zu sich, vergewaltigt sie und zwingt sie, seine
Flüche auf die Institutionen Familie und Kirche zu wiederholen. Auch
in dieser Szene geht es Bertolucci darum, den Zuschauer auf intellektueller
Ebene zu verführen und nicht auf erotische Weise. Zusammen mit Pauls
Geschichte über seine von Kuhexkrementen beschmutzten Schuhe etabliert
er eine bäuerliche Ebene, die dazu dient, die sakramentale Qualität
von Erotik zu durchbrechen. Die anale 'Vergewaltigung' richtet sich nicht
in erster Linie auf die Demütigung von Jeanne, sondern vielmehr gegen
den der Figur innenwohnenden bourgeoisen Hintergrund. Paul mutiert zur
dämonischen Parodie des unterdrückenden Vaters, der phallischen
Autorität (vgl. Yosefa Loshitzky: The Radical Faces of Godard and
Bertolucci. Detroit 1995, S. 76). Die anale Penetrierung wird so zum revolutionären
Akt eines Antibürgers gegen das kapitalistische System, deren gesellschaftliche
Institutionen, wie die bourgeoise Familie und Kirche, von Paul und darauf
von Jeanne verflucht werden:
„Holy family ... Where the will is broken by
repression … Where freedom is as-sassinated … You fucking
fucking family! … You fucking family! Oh God, Jesus!”
(englische Originalfassung)
Jean Baudrillard weist in seinem Werk „Von der Verführung“
auf die Folgen des Kapitalismus für die Sexualität hin: „[...]
das Sexualmodell ist die Erscheinungs-form des Kapitals auf der Ebene
des Körpers“ (Jean Baudrillard. a.a.O., S. 59). Gerade in der
Analität wird die vom kapitalistischen System geforderte Produktivität
der Sexualität unterlaufen und der Lustgewinn am unproduktiven Akt
betont. Paul erfährt gerade durch dieses Sakrileg seine Befriedigung.
Ein weiterer analer Akt wird von Jeanne an Paul vollzogen.
Er fordert sie auf, ihre Fingernägel zu schneiden, um ihn dann ohne
Verletzungsgefahr mit ihren Fingern anal zu befriedigen. Wiederum wird
die Szene von Pauls perversen Sodomie-Obsessionen begleitet, die die sadomasochistische
Qualität ihrer Sexualität betonen. Folgt man dem traditionellen
patriarchalen Modell Freuds, wonach der Sadismus dem Maskulinen und der
Masochismus dem Femininen zugeordnet wird (vgl. Yosefa Loshitzky. a.a.O.,
S. 74), so pervertiert Paul diese Zuschrei-bungen, indem er seine phallische,
männliche, sadistische Macht an Jeanne über-gibt und selbst
die ansonsten weibliche, masochistische Rolle der Penetrierten einnimmt.
Anderseits besetzt er auf verbaler Ebene wiederum die Rolle des Sadisten,
wenn er Jeanne zur grenzenlosen Hingabe auffordert. Eine klare Rollenzuschreibung
ist somit nicht mehr möglich. Bertolucci löst das binäre
Zuordnungssystem auf und bringt die Begriffe von Sadismus und Masochismus
in Fluss, indem er ihre Gleichzeitigkeit im Maskulinen wie Femininen praktizieren
lässt.
Insbesondere Marcuse begrüßt die Praktizierung solcher sexuellen
Praktiken. Er sieht sie als integralen Bestandteil eines utopischen Prozesses
der Re-Erotisierung von Mensch und Kultur an, der in der Begründung
von libidinösen Beziehungen münden soll, um so den Prozess der
Zivilisation zu ersetzen, der aus dem Körper und dem Organismus ein
Arbeits- und Ausbeutungsinstrument gemacht hat. „[...] the perversions
uphold sexuality as an end in itself“ (Herbert Marcuse. a.a.O.,
S. 50). Gerade Tom verkörpert diese kapitalistische Gesellschaft,
wenn er Jeannes Körper für seinen Film ausbeutet und sie mit
der Kamera geradezu penetriert.
Der beim Verkehr von Jeanne und Paul zu beobachtende Rückzug
zum Animalischen wird auch durch die von beiden geprobte neue Form der
Kommunikation hervorgehoben. „Ich komme besser weg mit Stöhnen
und Grunzen als mit Namen“ (vgl. deutsche Synchronfassung), formuliert
Paul auf dem Bett und Jeanne stimmt mit tierischem Gackern und Geschnatter
ein. So werden sprachliche Tabus einer bourgeoisen Gesellschaft außer
Kraft gesetzt und das Triebhafte, Wilde ihrer erotischen Leidenschaft
hervorgehoben. Die Beziehung zwischen beiden Figuren ist rein körperlicher
Natur, physisch erfüllend, geistig jedoch nicht. Beide versuchen
die Intensität der Begierde und die Realität des Körpers,
fern jeglicher gesellschaftlicher Normen, zurückzugewinnen. Die praktizierte
Sexualität kommt dem Versuch gleich, den biblischen Sündenfall
im Garten Eden ungeschehen zu machen und einen paradiesischen Zustand
auf Erden herzustellen.
Bertoluccis Figuren folgen ihrem Wunsch nach Regression,
auf der verzweifelten Suche nach Identität, die ihnen abhanden gekommen
zu sein scheint. Georges Bataille ersetzt den Wunsch nach Identität
mit dem Begriff der Kontinuität:
"Wir sind diskontinuierliche Wesen, Individuen,
die getrennt voneinander in ei-nem unbegreiflichen Abenteuer sterben,
aber wir haben Sehnsucht nach der ver-lorenen Kontinuität. Die Situation,
die uns an eine Zufalls-Individualität, an unsere vergängliche
Individualität fesselt, ertragen wir nur schlecht. Zur gleichen Zeit,
da wir das geängstigte Verlangen nach der Dauer dieses Vergänglichen
hegen, sind wir von dem Gedanken an eine ursprüngliche Kontinuität
besessen, die uns allgemein mit dem Sein verbindet.“
(Georges Bataille. a.a.O., S. 14)
Für den Moment der sexuellen Grenzüberschreitung
heben Jeanne und Paul das Zeit-Raum-Gefüge auf und stellen einen
Augenblick der Kontinuität her, der jedoch erst im Tod Pauls seine
Vollendung findet.
Abschließend soll hier noch einmal auf die Interpretation
Bernd Kiefers hinge-wiesen werden, der die Befunde zusammenfassend dargestellt
hat:
„Bertolucci wollte schockieren, und er wußte,
wodurch sich die bürgerliche Kul-tur, die die „sexuelle Revolution“
(Wilhelm Reich) integriert hatte, noch scho-ckieren ließ: durch
die Darstellung kruder, emotional, ja personal abgelöster Sexualität.
Das Sakrale, die transzendierende Kraft, ist dem Sexus genommen worden;
es bleibt das wahnsinnig-verzweifelte Suchen nach dem Körper, dem
eigenen und dem des Partners, in einer fremd gewordenen Welt.“
(Bernd Kiefer: Bernardo Bertolucci. In Thomas Koebner (Hg.): Filmregisseure.
Stuttgart 1999, S. 67)
Der Tango
Vor dem tragischen Ende treffen Jeanne und Paul ein letztes
Mal in einem großen Tanzsaal zusammen, in dem gerade ein Tango-Wettbewerb
veranstaltet wird. Unter sternengleichen Lampenkugeln, die von der Decke
herabhängen, tanzen korrekt frisierte und gekleidete Paare fortgeschrittenen
Alters völlig steif und ohne eine emotionale Regung zu zeigen. Die
Kamera folgt ihren mechanischen Schritten am Boden entlang und betont
so ihre Absurdität. Nach dem Ende des Liedes verharren die Paare
regungslos in ihrer Position und erstarren förmlich zu leblosen Schaufensterpuppen.
Abseits der dekadenten Tanzgesellschaft sitzen Jeanne und Paul an einem
Tisch, angelehnt an den großen Spiegel im Hintergrund, der ihre
Gesichter widerspiegelt. Er redet von der romantischen Liebe, sie will
zurückkehren in ihre bürgerliche Welt. Völlig betrunken
stürzen sich Paul und Jeanne dann in diese bourgeoise Ordnung. Er
versucht sie, wie ein Vater sei-ne kleine Tochter, huckepack zu nehmen.
Doch sie sinkt langsam zu Boden und wird von ihm bis zur Mitte der Tanzfläche
geschleift, wo die von der Jury ausgewählten Paare völlig unbeeindruckt
vom betrunkenen Paar ihren letzten Tango im Wettbewerb tanzen. Im Gegensatz
zu den disziplinierten, einstudierten Tanzfiguren, bewegen sich Jeanne
und Paul völlig spontan und frei von Reglementierungen zur Musik.
Ihre parodistische Performance gleicht einem „Danse macabre“
(vgl. Bernd Kiefer: Der letzte Tango in Paris. In: Thomas Koebner (Hg.):
Filmklassiker. Stuttgart 2001. Band 3, S. 282). Ihre Bewegungen wirken
abstrakt und künstlich, als seien sie dem avantgardistischen Tanztheater
entlehnt. Wie ein Sterbender lässt er sich zu Boden fallen –
eine Ankündigung seines bevorstehen-des Todes – und wird von
ihr wieder aufgerichtet. Eng umschlungen drehen sie sich darauf um die
eigene Achse und küssen sich hemmungslos vor der Tanzjury, deren
hysterische Vorsitzende versucht, die beiden auseinander zu bringen und
von der Tanzfläche zu entfernen. Paul greift sich diese, dreht sie
herum und nimmt die wild um sich Schlagende wie eine Braut auf den Arm.
Beim Abgang von der Tanzfläche präsentiert er sein entblößtes
Hinterteil.
Noch einmal manifestiert sich in den tanzenden Paaren die
bourgeoise Gesell-schaft, deren erstarrtes Regel- und Normensystem von
Bertoluccis Figuren auf revolutionäre Weise durchbrochen wird. Tango
wird hier zum Indikator für den Zustand einer Gesellschaft. Karsten
Witte konstatiert:
„Tango als Chiffre der Morbidezza und der Dekadenz,
Paris als Chiffre existen-tieller Sehnsucht. Der Todeskampf in artistischer
Form, als grotesker Wettbewerb alternder Paare, dessen Form Marlon Brando
und Maria Schneider flagrant ver-letzen. Tango als höhnischer Verweis
und Todesmetapher.“
(Karsten Witte. a.a.O., S. 21)
Bertoluccis zu Puppen erstarrten Tangopaare visualisieren
eine moderne Gesellschaft, die zur produktiven Maschine verkommen ist.
Gefangen in einem dichten Regel- und Normenwerk, treten diese völlig
ignorant ihrer Umwelt gegenüber und sind gekennzeichnet durch emotionale
Blindheit.
„Von einem seiner Dichter beschrieben als ein
trauriger Gedanke, den man tanzen kann. In Europa bis zur Lächerlichkeit
entstellt, verflacht, sentimalisiert.“
(Raimund Hoghe / Ulli Weiss: Bandoneon – für was kann Tango
alles gut sein? Darmstadt 1981, S. 15)
So beschreibt Raimund Hoghe den Zustand dieser Tanzform
Anfang der 80er Jahre. Der Tango ist seiner erotischen Qualität beraubt
worden und Leidenschaft durch Sterilität ersetzt worden. Gerade mit
ihrer spontanen, regelwidrigen Per-formance durchbrechen Paul und Jeanne
diese sinnentlehrte Oberflächlichkeit. Wie bereits auf erotischer
Ebene steht auch hier die Grenzüberschreitung im Mittelpunkt, auf
der Suche nach Freiheit und Sinn.
Fazit
Alle hier erarbeiteten Ebenen des Films machen deutlich,
dass es sich bei Ultimo tango a Parigi keineswegs
um einen erotischen Film im engeren Sinne handelt. Nie bieten die Figuren
Bertoluccis eine Fläche für erotische Stimulation. Erotische
Handlungen werden zwar mit enormer Intensität dargestellt, aber stets
simu-liert. Dem Regisseur geht es vielmehr darum ein theoretisches Modell
von Erotik zu kreieren, um Kritik an der modernen Gesellschaft zu üben.
Bertolucci zeichnet in Ultimo tango a Parigi ein äußerst
pessimistisches Gesellschaftsbild. Seine Figuren, die in der modernen
Gesellschaft existieren müssen, sind zu deformierten, schmerzerfüllten
Kreaturen verkommen, auf der Suche nach Freiheit und Identität. Wie
die Welt in den Gemälden Bacons, ist Bertoluccis Realität gekennzeichnet
durch totale Hoffnungslosigkeit. Insbesondere wird dies über die
mythische Struktur des Films deutlich gemacht. Das Schicksal des orpheus-gleichen
Pauls ist schon zu Beginn des Films besiegelt. Jedes Aufbäumen gegen
sein Verderben ist vergebens, jeder Versuch, gegen die bourgeoise Welt
zu opponieren, zum Scheitern verurteilt. So wird am Ende der letzte Tango
zum Abgesang auf die moderne Gesellschaft. Jeder Funke Hoffnung, in der
Grenzüberschreitung, der Negation gesellschaftlicher Normen eine
identitätsstiftende Qualität zu entdecken, wird ausgelöscht.
Bertolucci hinterlässt mit Ultimo tango a
Parigi einen Scherbenhaufen, eine apokalyptische Vision.
Literatur
Bataille, Georges: Der heilige
Eros. Berlin 1979.
Baudrillard, Jean: Von der Verführung. München 1992.
Bondanella, Peter: Italian Cinema. New York 1991.
Faldini, Franca / Fodi, Goffredo: Il cinema italiano dóggi. Mailand
1984.
Flatley, Guy: Bertolucci is All Tangoes Out. In: The New York Times. 11.
Febru-ar 1973.
Hoghe, Raimund / Weiss, Ulli: Bandoneon – für was kann Tango
alles gut sein? Darmstadt 1981.
Kael, Pauline: Last Tango in Paris. In: The New Yorker 47, Nr. 10 (Oktober
1972), S. 130-133.
Kiefer, Bernd: Der letzte Tango in Paris. In: Thomas Koebner (Hg.): Filmklassi-ker.
Stuttgart 2001. Band 3, S. 282-286.
Kiefer, Bernd: Bernardo Bertolucci. In: Koebner, Thomas (Hg.): Filmregisseure.
Stuttgart 1999, S. 64-69.
Kline, T. Jefferson: Bertolucci´s Dream Loom. Amherst 1987.
Kolker, Robert Phillip: Bernardo Bertolucci. London 1985.
Kuhlbrodt, Dietrich: L´ultimo tango a Parigi. In: Jansen, Peter
W. / Schütte, Wolf-ram (Hg.): Bernardo Bertolucci. Reihe Film 24.
München 1982, S. 158-170.
Loshitzky, Yosefa: The Radical Faces of Godard and Bertolucci. Detroit
1995.
Marcuse, Herbert: Eros and Civilization: A Philosophical Inquiry into
Freud. Boston 1955.
Stiglegger, Marcus: Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel
und Sinnlichkeit im Film, Berlin 2006.
Thompson, David: Last Tango in Paris. London 1998.
Tonetti, Claretta Micheletti: Bernardo Bertolucci. The Cinema of Ambiguity.
New York 1995.
Witte, Karsten: Der späte Manierist. In: Jansen, Peter W. / Schütte,
Wolfram (Hg.): Bernardo Bertolucci. Reihe Film 24. München 1982,
S. 7-66.
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