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Patrick Kilian
Dialektik der Transgression.
Ein Rückblick 35 Jahre nach Gründung von
Throbbing Gristle
Begriffe – das haben schon Gilles Deleuze und Félix Guattari
in ihrer Studie über das Wesen der Philosophie gezeigt – bilden
stets den Nukleolus einer Theorie oder eines Konzeptes. Nur das, was begrifflich
fassbar und benennbar ist, kann Gegenstand des Denkens werden. Allerdings
verorten die Autoren das Potential zur Begriffsschöpfung lediglich
im Bereich der Philosophie: „Der Begriff ist Sache der Philosophen
und nur ihre Sache.“ (Deleuze/Gauttari, 41). Begriffe werden aber
auch jenseits des akademischen Elfenbeinturms geschaffen und als Erklärungs-
und Deutungsinstrumente in unserem Denken etabliert. Sie haben eine Genese,
erleben Hochkonjunkturen, werden abgelöst und verschwinden nicht
selten nach einiger Zeit wieder im Orkus der Vergessenheit. Vor knapp
35 Jahren haben die unter dem Bandnamen Throbbing Gristle agierenden Künstler
einen Begriff in die Welt gebracht, der nicht nur für die Musikgeschichte
des späten 20. Jahrhunderts prägende Wirkung haben sollte, sondern
auch als Chiffre für die Moderne interpretiert werden könnte:
Industrial. In diesem Jahr wurden die ersten fünf Alben der Band
neu veröffentlicht: Anlass genug sich dem Werk und seinen vielfältigen
Facetten erneut zu widmen.
COUM Transmissions – Throbbing Gristle –
Industrial Records
Hervorgegangen sind Throbbing Gristle 1976 aus dem Künstlerkollektiv
COUM Transmissions, das seit 1969 durch transgressiv provokante Happenings
und Performances in England Schlagzeilen machte. Die Aktion „Prostitution“,
die am 18. Oktober 1976 im Institute of Contemporary Arts (ICA) in London
stattfand, veranlasste sogar das englische Parlament zu einer Debatte.
In diesem Zusammenhang wurde von der Presse der diffamierende Slogan „Wreckers
of Civilization“ aufgebracht. Die Musiker Genesis Breyer P. Orridge,
Cosey Fanni Tutti, Chris Carter und Peter Christopherson, die den engsten
Kern des Künstlerkollektivs bildeten, traten schon innerhalb des
COUM Kontextes als Throbbing Gristle auf, bevor sie die Band schließlich
eigenständig etablierten. Das Atelier im Londoner East End mit Namen
„Death Factory“, das bereits als Performance-Space für
COUM gedient hatte, sollte auch zur Inspirationsquelle für Throbbing
Gristle und deren eigenes Label „Industrial Records“ werden.
Im Logo des Labels taucht die „Todesfabrik“ wieder auf und
zeigt in stilisierter Form das Krematorium von Auschwitz. In dem sie die
Fabrik als Motor der Moderne und die fabrikhafte Tötung in Auschwitz
assoziativ miteinander verknüpfen, verbinden Throbbing Gristle zwei
Entwicklungslinien der Moderne. So entsteht ein Symbol, das sich gewissermaßen
als Anti-Ikone der Moderne in unser kulturelles Gedächtnis eingebrannt
hat. Georges Bataille schrieb schon 1947: „Von nun an ist das Bild
des Menschen unauflösbar mit dem einer Gaskammer verbunden“
(Bischof, 322); und noch 1995 schloss sich Giorgio Agamben diesem Befund
an, als er „das Lager als biopolitisches Paradigma der Moderne“
(Agamben, 125) identifizierte. Agambens – auf einer missverstandenen
Foucault-Interpretation beruhende – These zeigt trotz all ihrer
Verknappung die zentrale Stellung die Auschwitz als Zeichen in unserem
Denken einnimmt. Dass Throbbing Gristle dieses Bild wählten und „Industrial
Records“ 1977 sogar als Markenzeichen eintragen ließen, verweist
nicht nur auf eine individuelle Beschäftigung mit dieser Thematik,
sondern auch auf eine weitläufigere Tendenz innerhalb der Populärkultur
jener Zeit. Nur ein Jahr später (1978) wurde in Manchester das Label
„Factory Records“ gegründet. Obwohl sich dieses zwar
nicht explizit mit den Todesfabriken des Nationalsozialismus in Zusammenhang
bringen lässt, verwendet es eine ähnliche Ikonographie. „Factory“
– „Death Factory“ – „Industrial“ –
die Genese dieser drei Begriffe deutet einen neu entstandenen Diskurs
in der Subkultur an.
Neben diesen begrifflich-ikonischen Überschneidungen
zwischen „Industrial Records“ und „Factory Records“,
lassen sich noch weitere Parallelen aufzeigen: So veröffentlichte
die Gruppe Cabaret Voltaire auf beiden Labels und die „Factory“
Band Joy Division spielte sehr explizit mit faschistischer Symbolik. Nicht
nur, dass sich die Band nach den Konzentrationslager-Bordellen benannte
(Stiglegger, 50), auch das auffaltbare Artwork ihrer ersten EP „An
Ideal for Living“ (1978) mag hierfür als Beleg stehen: Das
Cover zeigt einen trommelnden Hitler-Jungen und im aufklappbaren Inneren
eine stilisierte Reproduktion der ikonischen Fotografie vom Wahrschauer
Ghettoaufstand 1943 (vgl. Bundesarchiv, Bild 183-41636-0002). Die Adaptionund
Verfremdung nationalsozialistischer Symbole und Ästhetik war zu diesem
Zeitpunkt Teil populärkulturellen Zeitgeists. Was jedoch vielfach
nur einen morbiden Chic generierte, hatte bei Throbbing Gristle durchaus
eine programmatische Funktion: durch die Konfrontation mit dem kollektiv
Verdrängten sollten gesellschaftliche 'Verkrustungen’ gelöst
werden.
Das Ende von Throbbing Gristle 1981 brachte auch „Industrial
Records“ zum Stillstand. Erst 2002 taten sich die ehemaligen Band-Mitglieder
wieder zusammen um über das Label die Verwaltung und Veröffentlichung
des TG Back-Katalogs zu organisieren. Ein erster Wurf war hierbei die
Veröffentlichung der CD-Box „TG24“, welche die frühen
Konzerte der Band dokumentiert. Im September 2011 begannen die verbliebenen
Musiker (Peter Christopherson verstarb am 24. November 2010) mit der Wiederveröffentlichung
der regulären Throbbing Gristle Alben.
Die Alben wurden nun sowohl als Doppel-CDs mit unveröffentlichten
Demos und seltenen Live-Versionen der Stücke, als auch als limitierte
Vinyl-Auflage mit großformatigen Booklets herausgegeben. Hierfür
wurden alle Werke von Chris Carter neu gemastert. Die Booklets wurden
von Cosey Fanni Tutti und Chris Carter gestaltet und enthalten das Original-Artwork,
unveröffentlichte Bilder und Dokumente aus den Privatarchiven der
Band sowie Liner-Notes. Eine kurze Notiz auf der Rückseite der Hefte,
die sich wie ein Verbraucherhinweis liest, synthetisiert die Ästhetik
von TG in verdichteter Form:
„Please Note.
The quality and content of this album should not be compared to conventional
commercial live or studio recordings. The Throbbing Gristle repertoire
consisted of a diverse range of intentional (and unintentional) tonalities,
timbres including: tape hiss, phase errors, white noise, distortion, clocks,
pops, extreme high and low frequencies and occasionally silence. Please
bear this in mind when listening to these recordings.“
(TG, The Second Annual Report, Indust. Rec. 2011, Booklet Rückseite)
Nicht weniger als eine musikalische Revolution verspricht
dieser Warnhinweis. In seinem Buch über das TG Album „20 Jazz
Funk Greats“ schreibt Daniel Drew über seinen ersten Kontakt
mit Throbbing Gristle dazu passend: „This was not a punk rock record;
this was not a rock record; this wasn’t even music.“ (Drew,
10); und weiter: „Throbbing Gristle were both less than music and
more than music at the same time“ (ebd., 13). Doch was macht diese
musikalische Revolution aus, die sich sogar über die Grenzen des
Akustischen ausdehnt, sich subversiv in den Kulturbetrieb einspinnt und
seine Ausläufer bis in den Mainstream schlagen wird?
Die Geburt des Industrial – The Second Annual
Report
Mit der Veröffentlichung des „The Second Annual
Report“ beginnt 1977 nicht nur die Discographie von Throbbing Gristle,
sondern auch 2011 der Reigen der Reissues (IRL 001). Die Erstauflage war
damals auf 785 Exemplare limitiert. Für die Vinyl Reissue wurde diese
Geste zwar beibehalten, jedoch auf 2000 Stück erweitert. Beibehalten
wurde auch das schlichte Artwork der Platte: Lediglich ein kleiner Schriftblock
ziert das ansonsten blütenweiße Cover des Albums, das so mehr
wie eine Testpressung und weniger wie eine echte Veröffentlichung
anmutet. Die Platte beginnt mit einem Intro, dem dann drei Versionen des
Songs „Slug Bait“ und vier Versionen von „Maggot Death“
folgen. Abgeschlossen wird das Werk von dem zwanzigminütigen „After
Cease to Exist“ – dieses hatte schon als Soundtrack zu dem
gleichnamigen Film von COUM Transmission gedient. Dieser Film dokumentiert
eine der COUM-Performances und ist von verstörenden Fetisch- und
Pseudo-Kastrationsszenen geprägt. Damit präfigurieren diese
Bilder eine Ästhetik, die Mitte der 80er Jahre in New York im Umkreis
des sog. „Cinema of Transgression“ um Nick Zedd und Richard
Kern wieder aufgegriffen werden sollte. In einem Manifest zum CoT schreibt
Nick Zedd 1985: „We propose transformation through Transgression
– to convert, transfigure and transmute into a higher plane of existence
in order to approach freedom in a world full of slaves“ (Petros,
81). Die Vorstellung durch Grenzüberschreitung und Tabuverletzung
gesellschaftliche Neustrukturierungen herbeiführen zu können
und eine Transformation des Subjekts zu bewirken, findet sich nicht nur
schon bei Nietzsche und Bataille (Wiechens, 70f), sondern ist auch Teil
der Programmatik von Throbbing Gristle (Hegarty, 110). Vor allem der Text
des Stücks „Slug Bait“ transportiert dieses Konzept emblematisch:
„I look at your big heavy stomach -?It's already moving a little
bit with your baby -?I use the carving knife from your kitchen -?I start
to perform the operation“. Wider alle Tabus werden hier Szenarien
erzeugt, die weit über die üblichen Grenzen der bürgerlichen
Kunsttoleranz hinausgehen. In der Verschmelzung von Geburt (Leben) und
gewaltsamer Körperöffnung (Tod) vermischen sich die antagonistischen
Grenzzonen der menschlichen Existenz. Diese Überschreitung gehört
zu einem der schärfsten – und wenn man so will heiligsten –
Tabubereiche der Menschheitsgeschichte. Die Frage nach der Grenze zwischen
Leben und Tod, die auch eine Problematisierung der Grenze zwischen Kunst
und Leben implizieren kann, wurde seit den 60er Jahren immer wieder in
unterschiedlichsten Kontexten gestellt. Der menschliche Körper wurde
hierfür als Austragungsort dieser Beschäftigung gewählt.
In radikalster Form bildete der Wiener Aktionismus mit seinen Protagonisten
Hermann Nitsch, Otto Muehl und Günter Brus einen Nährboden für
diese Ansätze und strukturierte gewisse Darstellungskonventionen,
die dann auch für COUM und Throbbing Gristle prägend waren.
Doch nicht nur die Hochkultur dieser Zeit auch das exploitative Kino überschritt
die Grenzen des Erträglichen. In der Hochphase des Mondo-Films schockte
Ruggero Deodatos „Cannibal Holocaust“ (1980) mit vorgetäuschten
Snuff-Sequenzen und schonungsloser Brutalität. Auch hier ist eine
dezidierte Körper-Fokussierung zu verzeichnen und durch die Chiffre
„Holocaust“ wird eine assoziative Verknüpfung zu jenem
Negativ-Paradigma der Moderne erzeugt. Jedoch gerade in der plastischen
Zurschaustellung des Todes kann der „Wunsch hinter das Geheimnis
des Sterbens zu kommen“ (Kuczok, 32) erkannt werden, der eben jene
Grenze zwischen Leben und Tod tangiert und Teil hartnäckiger Tabus
ist.
Provokation ist das zentrale Instrument in der Strategie von Throbbing
Gristle, welches sich nicht nur durch die Texte, sondern auch durch die
Kompositionen zieht. Zwar erinnern einige Elemente auf „The Second
Annual Report“ noch an die psychedelischen Improvisationen von Pink
Floyd und die durch einen Fuzz bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Gitarre
lässt entfernt an Jimi Hendrix’ Abgesang auf den Summer of
Love denken („Star Sprangled Banner“ live in Woodstock 1969),
allerdings werden diese Versatzstücke von einem Sounddesign absorbiert,
das jenseits der vertrauten Hörgewohnheiten liegt. Rhythmisches Rauschen
und Dröhnen, kühl gesprochene Texte, modulierte Instrumente
und eingeflochtene Samples und Loops bilden eine unverkennbare Klang-Ästhetik.
Bass und Gitarre können oft nicht klar differenziert werden und sind
aus den klassischen Rock- und Popkonventionen losgelöst worden. Die
verrauschte und unsaubere Aufnahme, die eine zusätzliche Übersteuerung
bewirkt, verweist am ehesten auf das von Andy Warhol produzierte Velvet
Underground Debütalbum („The Velvet Underground & Nico“,
1967). Strukturierende Elemente wie Strophen und Refrains beginnen in
den Kompositionen zu verschwinden und sich in fast rituell anmutenden
Noise-Mantras zu verflechten. Das Element des Rituals bzw. der Schwellenphase
taucht auch immer wieder in Batailles Gedanken auf. Hier verortet er den
Raum der Transgression und der Selbstüberwindung. Tabuübertretung
und die Auflösung gesellschaftlicher Strukturen haben hier gleichermaßen
ihren Platz. Jacques Attali vermutet gar den Ursprung aller Musik im archaischen
Ritualmord, in dem der Lärm der Gewalt geordnet und kanalisiert wird:
„Music has been, from its origin, a simulacrum of the monopolization
of the power to kill, a simulacrum of ritual murder“ (Attali, 29).
Wenn man diese These nicht als die Beschreibung historischer Realität,
sondern lediglich als Denkmodell aufnimmt, so ließe sich zugespitzt
formulieren, dass Throbbing Gristle wieder dort beginnen, wo die Geschichte
der Musik ursprünglich ihren Anfang nahm: An der Grenze der unmittelbaren
Ununterscheidbarkeit zwischen Ritual und Gewalt, zwischen Signifikant
und Signifikat, Simulakrum und Original oder allgemeiner zwischen Kunst
und Leben.
Ein Schritt weiter – D.O.A: The Third and Final
Report
Nur ein Jahr nach „The Second Annual Report“
veröffentlichten Throbbing Gristle 1978 ihr zweites Studioalbum „D.O.A:
The Third and Final Report of Throbbing Gristle“. Dieses nimmt auch
im Katalog der nun erschienenen Neuveröffentlichungen die Nummer
zwei ein (IRL 002). In dem Zusatz „Final“ im Titel des Albums
lässt sich eine Tendenz zur Desinformation und Täuschung erkennen,
die eine gewisse Signifikanz für Throbbing Gristle wie für das
gesamte Industrial Genre hat. Schon durch das erste Album, das den missverständlichen
Titel „Second Report“ trägt und einige Rezipienten in
den Plattenläden nach einem verborgenen (allerdings nicht existenten)
„First Report“ suchen ließ (Drew, 10), passt in diesen
Kontext. Der Zusatz „Final“ kündigt ein Ende an, obwohl
Throbbing Gristle nur ein Jahr später das nächste Album veröffentlichen
werden. Das Konzept der Verwirrung hat sich seine Wirkung bis in die jüngste
Vergangenheit bewahren können: Im Jahr 2001 veröffentlichte
das italienische Label „Get Back“ zwischen 1975/76 aufgenommene
Throbbing Gristle Tracks unter dem Titel „The 1st Annual Report“,
die aber schon 1987 unter dem Titel „Very Friendly“ erschienen
waren. Das von Genesis P-Orridge verkündete Diktum vom freien und
offenen Zugang zu Informationen (Hegarty, 107), den schon der nüchterne
Titel „Report“ suggeriert, wird hier ambivalent. Information
vs. gezielte Verwirrung, die Veröffentlichung aller Live-Aufnahmen
bei gleichzeitig strenger Limitierungen der LPs – Throbbing Gristle
beginnen eine eigene Dialektik zu entwickeln. „Although our financial
position is getting stronger it has always been our policy to produce
a limited amount of material that is exactly as we want it rather than
to sacrifice quality to profit“ – diese Zeile aus den Original
Liner-Notes des „Third Annual Report“ verweist auf den Spagat
zwischen freiem Zugang und einem elitären Underground-Ethos.
Eine dialektische Form ist jedoch nicht nur in der Außenrepräsentation
und Distribution, sondern auch innerhalb der Musik selbst erkennbar: „Since
the last report many things have changed“ – so der schlichte
Kommentar in den eben erwähnten Liner-Notes. Nicht nur, dass „The
Third Annual Report“ vier Solo-Kompositionen der einzelnen Musiker
enthält, auch der Gesamtsound ist höchst heterogen. Neben den
verstörenden Stücken „Weeping“ und „Hamburger
Lady“ oder dem brachialen „Walls of Sound“, ist die
Stimmung in „Dead on Arrival“ und vor allem „AB/7A“
deutlich positiver. Die Elemente der Transgression – so eine mögliche
Erklärung – stehen nicht mehr singulär für sich,
sondern wurden durch Gegen-Elemente kontextualisiert. So wie auch bei
Bataille die Entgrenzung des Subjekts nur ein flüchtiger Moment bleiben
kann und das Tabu aufrechterhalten werden muss, um gelegentlich überschritten
werden zu können, so entwickeln TG nun ebenfalls ein System der Kontraste.
Die Momente der Grenzüberschreitung in Ton und Text werden dialektisch
durch eingängige Momente gebrochen. Das System des Alterierens zwischen
Extremen wird die Band auf dem nächsten Album „20 Jazz Funk
Greats“ konsequent weiterführen.
Unter der Oberfläche – 20 Jazz Funk Greats
Das gekonnte Spiel mit Provokation und Transgression auf
der einen und zugänglicheren Momenten auf der anderen Seite, wird
1979 auf „20 Jazz Funk Greats“ (IRL 003) schon im Cover antizipiert.
Zu sehen sind die vier Künstler auf einer grasgrünen Wiese.
Cosey Fanni Tutti und Chris Carter lächeln fast kitschig in die Kamera;
insgesamt strahlt das Bild eine idyllische Sonntagsausflugs-Stimmung aus,
die auch durch das Auto im rechten Bildhintergrund verstärkt wird.
Einzig die Steilklippen im linken Bildrand stören die Ausflugs-Idylle
und machen den Ort identifizierbar: Das Foto wurde unweit von Brighton
bei den Klippen von Beachy Head an der englischen Südküste geschossen
– einem Ort der vor allem für seine hohe Suizidrate landesweit
berüchtigt ist. Im gleichen Jahr, in dem das Album veröffentlicht
wurde, thematisierte auch ein weiteres Werk der englischen Pop-Kultur
diesen nunmehr fast ikonischen Ort: der Film „Quadrophenia“
(1979, R: Franc Roddam, siehe Foto). In diesem Kultfilm der englischen
Jungendkultur, der seinen Status nicht zuletzt dem Soundtrack von The
Who verdankt, nimmt sich der Protagonist Jimmy nach einer längeren
Sinnkrise das Leben indem er mit seinem Scooter über die Klippen
fährt (in der letzten Einstellung sieht man jedoch lediglich den
Roller, so dass offen bleibt, ob Jimmy nicht doch vorher abgesprungen
ist).
Der Fotoalbum-Look und das entspannte Lächeln der Künstler
täuschen den Betrachter – unter der Oberfläche liegt das
Grauen und symbolisch steht die Band am Abgrund. Im Übergang von
den 70ern in die 80er war diese Abgrund- oder auch Untergangsstimmung
innerhalb vieler unterschiedlicher Strömungen der Jugendkultur zu
finden. Nach dem Ende des Vietnam-Kriegs 1973 und mit Einmarsch der sowjetischen
Truppen in Afghanistan 1979 sowie der Unterzeichnung des Nato-Doppelbeschlusses
im selben Jahr, begann die letzte Phase des Kalten Kriegs, die im Zeichen
hemmungsloser Nuklearaufrüstung stand. In England bedeutete die Regierungsübernahme
von Margaret Thatcher (1979-1990) einen politischen Kurswechsel, der bald
unter dem Sigle des Thatcherismus zusammengefasst wurde. Radikalisierung
der Märkte und Verschlankung des Wohlfahrtsstaates waren hierbei
nur einige der damit verbundenen Veränderungen. In der Subkultur
wurden diese Bewegungen sehr sensibel wahrgenommen und durch radikalisierte
Reaktionen kommentiert. Dass der Summer of Love gescheitert war und die
Ideale der Hippie- und Friedensbewegung keine passenden Deutungsmuster
für die aktuellen Probleme mehr darstellten, besangen schon Lou Reed
und Iggy Pop. Eine Weltuntergangsstimmung in Form eines zukunftspessimistischen
Nihilismus entwarf jedoch zuerst die Punk-Bewegung: Im Song „God
Save the Queen“ (1977) der Band The Sex Pistols wurde schließlich
der Slogan artikuliert, der zum Glaubensbekenntnis der Punk-Kultur werden
sollte: „No Future“. In unterschiedlichen Formen wird diese
Message, die sich zur Kern-Ideologie entwickeln sollte, in immer neuen
Formen dekliniert und re-aktualisiert. Die in New York entstandene No
Wave-Bewegung um James Chance und Lydia Lunch, aus der später auch
Sonic Youth hervorgehen werden, trägt das „NO“-Paradigma
schon im Titel. Begründet wurde diese Szene durch einen 1978 von
Brian Eno produzierten Sampler mit dem Titel „No New York“
(Masters, 13). Obwohl zeitgleich zum Punk entstanden, orientierte sich
diese Spielart eher an den Noise Collagen von Lou Reeds „Metal Machine
Music“ (1975) (ebd., 25), das vielfach als eines der ersten Noise-Alben
gesehen wird. Ästhetisch steht diese Bewegung, die durch dissonante,
dilettantische und a-musikalische Kompositionen provozieren wollte, der
aufkeimenden Industrial-Kultur um Throbbing Gristle wohl näher als
dem englischen Punk. Auch das schon angesprochene Cinema of Transgression
fand im No Wave Cinema seinen Ursprung (ebd., 139f).
Die Überschneidungen und Beeinflussungen sind vielfältig:
Der Geruch des Untergangs lag gewissermaßen in der Luft. Ob in England
oder New York, die Jungend formierte einen künstlerischen Widerstand
gegen das als Bedrohung empfundene Establishment.
In Throbbing Gristles „20 Jazz Funk Greats“
ist diese Untergangs-Stimmung allerdings wesentlich subtiler enthalten
als in den meisten Produktionen dieser Jahre – keine agitative Polemik,
sondern ein Foto am Steilhang verweist auf die sich am Abgrund befindende
Gesellschaft. Indirekt und gewissermaßen dialektisch beginnt auch
das Album: Das erste Stück „20 Jazz Funk Greats“ besteht
aus einem stoischen Dub-Beat und transportiert eine fast Lounge-artige
Lässigkeit. Im zweiten Song, dessen Titel „Beachy Head“
auf das Cover verweist, verwandelt sich die Atmosphäre komplett.
Düstere Drones und bedrohliche Synthesizer-Flächen zeichnen
eine trostlose und post-apokalyptische Stimmung. Wenn am Ende des Stückes
dann noch Möwen als Field-Recording eingespielt werden, ist die Botschaft
überdeutlich: Nihilismus dampft aus jeder Pore. Mit „Hot on
the Heals of Love“ schlägt die Stimmung dann wieder um und
Disco-Rhythmen und gehauchter Gesang erzeugen eine regelrechte Euphorie-Atmosphäre,
die dem Club-Sound von Madonna ähnelt. Poetisch endet das Album mit
„Six Six Sixties“, dessen Titel sich auf die ambivalente Verbindung
zwischen dem Mode-Satanismus und der Hippie-Bewegung der 60er Jahre bezieht.
Diese gefährliche Mischung aus „Flower-Power“- Idylle
und okkulter Ideologie fand ihren traurigen Höhepunkt 1969 in der
Ermordung Sharon Tates durch die Manson Family. Die Zeile „This
is the world now – Move a fin and the world turns“ zeugt wie
ein Seismograph von den Erschütterungen dieser Zeit und kündet
von einer fragilen und unsicheren Zukunft. Auch in der globalisierten
und schnelllebigen Welt des 21. Jahrhunderts hat diese Einschätzung
nichts von ihrer Wirkung verloren.
Zwei Schritte zurück – Heathen Earth
Mit „Heathen Earth“ (1980) bewegten sich Throbbing
Gristle wieder in Richtung ihrer früheren Werke. Die glatte Oberfläche
von „20 Jazz Funk Greats“ mit den klaren und synthetischen
Beats sowie der transparenten Produktion wird auf „Heathen Earth“
durch kalte, dichte und aggressiv verzerrte Elemente konterkariert. „Industrial“
wird nun immer mehr wörtlich interpretiert und umgesetzt –
die Rhythmen erscheinen blechern und Lärm wird zur dominierenden
Kategorie der Kompositionen. Nur ein Jahr später erscheint auch das
erste Studioalbum der Einstürzenden Neubauten „Kollaps“
(1981), das exzessiv auf den Einsatz von Industriegeräten und nichtmusikalischen
Klanggebern setzte um eine „industrielle“ Klang-Ästhetik
zu generieren. Dass sich Throbbing Gristle mit „Heathen Earth“
wieder stärker auf ihre Wurzeln beziehen, macht auch die Limitierung
der Erstauflage der LP deutlich: Genau wie der „Second Annual Report“
war „Heathen Earth“ auf 785 Exemplare beschränkt.
„...can the world be as sad as it seems?“ –
diese Frage ziert das Cover des Albums und steht emblematisch für
die Stimmung der Songs. Allerdings entstammt dieser Satz auch dem Charles
Manson Song „Eyes of a Dreamer“ (Album: „Lie“
1970) und deutet somit erneut direkt auf die dunkle Seite des Summer of
Love. Dies bleibt nicht der einzige Manson-Verweis auf „Heathen
Earth“: Das Stück „After Cease to Exist“ nimmt
nicht nur Bezug auf den COUM Transmission Film, dessen Soundtrack schon
auf dem „Second Annual Report“ verewigt wurde, sondern auch
auf einen weiteren Charles Manson Song. Mit „Cease to Exist“
schrieb Manson 1968 ein Stück, das später unter dem Titel „Never
Learn Not to Love“ von den Beach Boys interpretiert wurde, die zeitweilig
mit Manson sympathisierten.
Vielschichtige Selbst- und Fremdreferenzen ziehen sich wie Rhizome (Deleuze/Gauttari,
Rhizom) durch das Œuvre der Band. Throbbing Gristle kombinieren „verschiedenste
Codierungsarten“ und verschalten diese zu „kollektiven Aussageverkettungen“
(Deleuze/Guattari, Rhizom 12). Diese sind aus verschiedenen Perspektiven
les- und deutbar und nicht auf ein binäres System zu reduzieren.
Allerdings bleibt diese verästelte Mikro-Systematik sich überschneidender
und stets ambivalent bleibender Aussagen in ein großes dialektisches
Modell eingeschrieben. Hier alteriert die Band zwischen unbändigem
Noise und klaren Beats, aggressiven und poetischen Texten und schließlich
Provokation und Eingängigkeit. „Heathen Earth“ ist Symbol
dieser Bewegung und führt die Band nach „20 Jazz Funk Greats“
wieder auf den Pfad des archaischen Rituals. Um Jacques Attalis Gedanken
erneut aufzugreifen, der den Ursprung der Musik im Ritual-Mord vermutet
und in der Ordnung des Lärms die Überwindung des wilden Tötens
zugunsten eines ritualisierten Opfers konstatiert (Attali, 29): „Heathen
Earth“ kann genau in diesem Grenzbereich verortet werden und steht
am Scheideweg zwischen wildem Lärm und Ordnung. In dem Stück
„Subhuman“ mit seinen ungezügelten Schreien und seiner
sich zersetzenden Struktur ist dieses Modell in verdichteter Form erkennbar.
Re-Releasing Transgression – Greatest Hits
„Greatest Hits – Entertainment Through Pain“,
so der vollständige Titel der 1980 bei Rough Trade erschienen Best-Of
Kompilation, bildet den Abschluss der Re-Releases. In diesem Titel sind
gleich mehrere Gegensätze und Widersprüche enthalten, die jedoch
auch elementarer Bestandteil der Ambivalenz von Throbbing Gristle sind.
Die Gegensätze „Entertainment“ und „Pain“
werden nicht nur in eine gemeinsame Matrix gebracht, sondern erhalten
darüber hinaus sogar Kausalzusammenhang. Erst der Schmerz bringt
das Vergnügen hervor und wird somit zu einem Teil der Unterhaltungskultur.
Betrachtet man die Nazi-Exploitation- und Mondo-Filme der 70er Jahre oder
die aktuellen Terror-Filme, so zeigt sich, dass die Verbindung von Angst
und Lust oder Schmerz und Befriedigung eine gewisse kulturelle Durchsetzungskraft
hat (vgl. Stiglegger, Terrorkino). Throbbing Gristle sind sich darüber
im Klaren, dass ihre Musik durchaus ein gewisses Unterhaltungspotential
besitzt und nicht nur als komplexes Kunstwerk, sondern auch im Pop-Kontext
rezipiert werden kann. Der selbstironische Titel „Greatest Hits“,
den man eher von Madonna oder den Bee Gees erwartet, spielt mit diesem
Dilemma. Ein Kunstwerk, das zunächst in ein System der kompromisslosen
Provokation eingebettet war und das kollektiv Verdrängte mit Themen
wie Holocaust, Serienmord oder Kastration konfrontierte, läuft Gefahr
in der Pop-Rezeption affirmativ verstanden zu werden. Throbbing Gristle
wissen um die trivialisierende und entkontextualisierende Macht der Kulturindustrie
und reagieren ihrerseits nicht mit Rückzug, sondern Angriff. Im Stile
einer Überidentifikation enttarnt die Band über das Vehikel
des „Greatest Hits“ Albums die Wirkungsweisen der Populärkultur
und ihrer Tendenz zur Vereinnahmung. Allerdings sind auf „Greatest
Hits – Entertainment Through Pain“ tatsächlich einige
der bedeutsamsten Titel der Band enthalten, von denen viele auch in diesem
Essay behandelt wurden. Mit diesem Album beschließt Industrial Records
sein Quintett der Neuveröffentlichungen und rundet den TG-Back-Katalog
mit einem Überblick ab.
Auch heute – das hat dieser Essay zu zeigen versucht – sind
die Werke von Throbbing Gristle von großem Wert für das Verständnis
der Populärkultur der letzten 40 Jahre. Die weitere Entwicklung des
Industrial-Genres in Musik, Kunst und Film aber auch verwandter Sub- und
Neben-Genres kann ohne Throbbing Gristle nicht verstanden werden. In ihrem
Werk sind zeithistorische, medienphilosophische und kulturkritische Aspekte
in einem komplexen Zeichensystem verwoben, das den Rezipienten immer wieder
neu herausfordert und stets nach neuen Interpretationen verlangt. Obwohl
der Begriff „Industrial“ wohl zuerst von dem Performance-Künstler
Monte Cazazza in die Welt gebracht wurde, der eine Postkarte mit der Aufschrift
„Industrial music for industrial people“ an Throbbing Gristle
schickte (Petros, 47), wurde er doch von TG geprägt und bekannt gemacht.
Unter diesem Signet versammelten sich in den kommenden Jahren dann so
unterschiedliche Künstler wie Whitehouse, Einstürzende Neubauten,
Genocide Organ, KMFDM, Nine Inch Nails, Marilyn Manson oder auch Rammstein.
Diese Aufzählung zeigt ein heterogenes Spektrum unterschiedlichster
Facetten, die teils in Widerspruch zueinander stehen, aber alle auf TG
verweisen.
Konzepte zur Deutung der Welt und zur Entwicklung von Lösungsangeboten
können ohne Begriffe nicht entwickelt werden – das postulierten
Deuleuze und Gauttari in ihrer Schrift „Was ist Philosophie?“.
Throbbing Gristle haben mit dem Begriff „Industrial“ einen
Prototypen entwickelt, der bis heute in vielfacher Form konzeptualisiert
wird. Allein dies ist Beleg ihrer nachhaltigen Bedeutung und Wirkmächtigkeit.
Mit den hochwertigen Neuveröffentlichungen der ersten Alben kann
diese Genese nun neu nachvollzogen werden. In umfassender Ausstattung
dokumentieren die Re-Releases die Entstehungsgeschichte der Werke und
ermöglichen so neue Einblicke in die Dialektik des Schaffens von
TG, in der die heterogene Rezeption und Kritik begründet liegt.
„Industrial“ ist heute nicht nur ein Begriff
um Konzepte innerhalb der Subkultur zu formulieren, sondern wird auch
als Trademark im Mainstream Pop verwendet. In einer Besprechung vom 15.
April 2011 der Single „Judas“ von Lady Gaga für das Musikmagazin
Spin schreibt der Rezensent Kevin O’Donnell: „True to form,
Gaga delivers a rowdy, industrial-disco banger“. Er reagiert damit
auf eine Selbststilisierung der Musikerin, die in Interviews immer wieder
auf Industrial Tendenzen in ihrer Musik verweist. Ganz gleich ob im Werk
Lady Gaga’s nun tatsächlich Industrial-Versatzstücke erkennbar
sind oder nicht, ob ihre Provokation echt ist oder nur ein marktstrategisches
Kalkül darstellt, der Pop beginnt den Begriff zu vereinnahmen und
für seine Zwecke zu interpretieren. Er scheint hier jedoch mehr dazu
zu dienen künstlerische Integrität und den Flair der Avantgarde
zu kommunizieren, als auf eine konkrete Traditionslinie oder Programmatik
zu verweisen. Es bleibt zu hoffen, dass nun die Neuveröffentlichungen
der ersten Throbbing Gristle Alben wieder dazu beitragen den Begriff trotz
all seiner dialektischen Ambivalenz vor einer Verwässerung zu bewahren:
nur so kann er auch in Zukunft weiterhin seine Konzeptfähigkeit behalten.
Literatur:
Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und
das nackte Leben, Frankfurt/M 2002.
Attali, Jacques, Noise. The Political Economy of
Music (= Theory and History of Literature 16), Minnesota 2009.
Bischof, Rita, Tragisches Lachen. Die Geschichte
von Acéphale, Berlin 2010.
Deleuze, Gilles / Guattari, Félix, Was ist
Philosophie?, Frankfurt/M 2000.
Deleuze, Gilles / Guattari, Félix, Rhizom,
Berlin 1978.
Drew, Daniel, 20 Jazz Funk Greats (33 1/3), New York
/ London 2008.
Hegarty, Paul, Noise/Music. A History, New York /
London 2008.
Kuczok, Wojciech, Höllisches Kino. Über
Pasolini und andere, Frankfurt/M 2008.
Masters, Marc, No Wave, London 2007.
Petros, George, Art that kills. A Panoramic Portrait
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