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Florian Schneider
Intimes Theater
Über Ulrich Seidls MODELS
Unnatürlich pralle Lippen pressen sich aufeinander
und nehmen Formen an, die jeder Ästhetik zu widersprechen scheinen.
Das Gesicht einer jungen, blonden Frau, verhangen von Unmengen Puder und
Kajal, strahlt aus größter Nähe dem Zuschauer entgegen.
Ihre Finger fahren immer wieder über den geschwollenen Mund, ähnlich
einem Mann der seinen fabrikneuen Wagen mit Politur konserviert. Zwischen
weißen Kacheln und Toilettenschüssel wird das Publikum unweigerlich
Zeuge des zwanghaften Schönheitswahns von einer Gruppe österreichischer
Models. Gesprächen über Brust-OPs, Sex und Koks wird in langen
Einstellungen still und heimlich beigewohnt. Dieses Gefühl verspürt
man bei Ulrich Seidls Film „Models“ (1999) immer und immer
wieder. Nie ganz sicher: ist es nun echt oder reines Theater? Bin ich
schockiert oder darf ich mich unterhalten fühlen?
1. Intimes Theater oder realer Schock?
„Models“ (1999) berichtet und erzählt zugleich von den
drei Models Vivian, Tanja und Lisa, deren vom Beruf bestimmtem und gezeichnetem
Alltag und ihren damit verbundenen Höhen und Tiefen.
Die eindeutige Zuordnung von Seidls Filmen in die Kategorie
der Dokumentation oder die des Spielfilms fällt oftmals schwer, insbesondere
wenn die Bedeutungen dieser beiden Begriffe bei genauerer Betrachtung
etwas konfus wirken können. Schnell läuft man Gefahr anzunehmen,
Dokumentationen bestünden aus unveränderter und lediglich widergespiegelter
Realität und der Spielfilm sei reine Inszenierung, ohne eine Verbindung
zu tatsächlichen Gegebenheiten. Ganz so trennscharf sind diese beiden
Richtungen jedoch nicht. Schnell überschneiden sich mehrere Aspekte
und es entsteht eine Grauzone. Nicht zuletzt beschreibt Seidl diesen Film
zwar im Großen und Ganzen als Dokumentation, gewann damit aber den
österreichischen Volksbildungspreis für den besten Spielfilm
(vgl. Online1). Da „Models“ (1999) weder das eine, noch das
andere zu sein scheint, könnte er wohl genau hier anzusiedeln sein
– in der Grauzone. Er ist womöglich vielmehr ein Hybrid:
„Ich glaube, meine Arbeit zeichnet sich dadurch aus,
dass man hin- und hergeworfen wird zwischen dieser Wirklichkeit, in die
man hineingleitet, und einer Künstlichkeit. […] Das möchte
ich erreichen. Und dazu brauche ich eine bestimmte Methode.“
(Online2)
Doch wie entsteht der Eindruck dieser Mischung aus Dokumentation
und Spielfilm? Welche „Methode“ setzt Seidl dafür ein?
Ist „Models“ (1999) nun ein Dokumentar- oder doch ein Spielfilm?
Und was bewirkt dieser Eindruck beim Zuschauer? Um diese Fragen zu klären
sollen drei ausgewählte Sequenzen aus „Models“ (1999)
einer genauen Betrachtung unterzogen werden.
2. Der Janus des österreichischen Autorenfilms
Zunächst sollte jedoch ein kurzer Blick auf den Werdegang
und das Leben Ulrich Seidls geworfen werden, um eine Idee seiner Motivation
zur filmischen Unentschlossenheit zu erhalten.
Geboren wurde Ulrich Seidl am 24. November 1952 im österreichischen
Ort Horn. In einem streng katholischen Umfeld suchte er fortan seinen
Weg. Entgegen dem Elternwunsch schlug Seidl nicht den Weg als Priester
ein, sondern studierte zunächst Publizistik, Theaterwissenschaft
und Kunstgeschichte. Während seines Studiums jobbte er in zahlreichen,
unkonventionellen Sparten, so zum Beispiel als Nachtwächter und als
Proband für die Medikamentenindustrie. Im Alter von 26 Jahren entschloss
er sich jedoch dazu, an der Wiener Filmakademie sein Glück zu versuchen.
Auch wenn sich Seidl und die Akademie wenig später im gegenseitigen
Einverständnis dazu entschlossen sich zu trennen, entstanden in dieser
Zeit schon seine ersten, für seinen späteren Werdegang immens
prägenden und kennzeichnenden, Filme. (vgl. Online3)
Sein Erstlingswerk „Einsvierzig“ (1980) soll,
so hat es den Anschein, den Alltag und das Umfeld eines kleinwüchsigen
Mannes dokumentarisch widerspiegeln, tut dies jedoch auf eine stark inszenierte
Art und Weise. So wurde der portraitierte Protagonist tableauhaft inmitten
eines Feldes positioniert, um das Größenverhältnis besser
darstellen zu können, wenngleich auch so an der Illusion des Realen
gekratzt wird. (vgl. Online4)
Das Interesse für Randgesellschaften und dessen unverblümte,
wenn auch inszenierte, Darstellung manifestierte sich also bereits in
seinen Anfängen. So wie Seidl selbst zwischen beschaulicher Vorstadtidylle
und der Neugier auf das subkulturelle Großstadtleben hin und her
geworfen wurde, so scheint er sich auch in seinen Filmen nie mit nur einer
Facette zufrieden zu geben. Wie der römische Gott Janus scheint auch
Seidl und ebenso seine Filme über zwei Gesichter zu verfügen.
Obwohl in „Models“ auf den ersten Blick scheinbar der Glitzer
und Glamour des Laufstegalltags gezeigt wird, überrascht er auf den
zweiten Blick plötzlich mit Bulimie und Kokain.
3. Dokumentation oder schon Fiktion?
Die äußerlichen Facetten von „Models“
führen nun unvermeidlich zu der Überlegung wie dieser Film nun
einzuordnen ist. Seidl selbst will sich nicht den Konventionen unterwerfen
und bezeichnet seine Werke, welche vor seinem ersten Spielfilm „Hundstage“
entstanden, lediglich als „Filme“ und scheint hiermit eine
genauere Definition des möglichen Hybridenstatus elegant umgangen
zu haben:
„Ich habe meine früheren Filme selber nie als
Dokumentarfilme bezeichnet, sondern einfach als Filme und es anderen überlassen,
sie zu etikettieren. Es waren natürlich Dokumentarfilme, die aber
in weiten Bereichen auch Fiktion mit einbezogen haben.“
(Online2)
Dennoch hat der Film Tendenzen zu bestimmten Klassifizierungen
und sollte nicht schlicht als „Film“ abgespeist werden, denn
die detaillierte Analyse und der Versuch der Zuordnung wird dem vollkommenen
Verstehen des Werks sehr zuträglich sein.
Es gibt die unterschiedlichsten Interpretationen davon,
was genau eine Dokumentation ausmacht und die sind bei weitem nicht identisch.
Dennoch provozieren einige Gemeinsamkeiten einen unfreiwilligen Verdacht:
nämlich den, dass nahezu jede Art der Dokumentation auch fiktionale
Elemente birgt und eine Fiktionalisierung im gewissen Maße unumgänglich
ist. Man muss sich nur die Frage stellen, was man als fiktional ansieht.
Ist es das Beeinflussen der Rezipientensichtweise durch Eingriffe von
außen in das Tatsachengeschehen, so ist es bereits in den Ursprüngen
des Dokumentarfilms behaftet.
Geprägt wurde der Begriff der Dokumentation erstmals
durch John Grierson in den 1920er Jahren. Als Grundlage für seine
Thesen bezieht er sich vor allem auf die Filme Robert Flaherty’s,
der mit „Nanuk, der Eskimo“ (1922) ein Werk schuf, welches
denen von Seidl in vielerlei Hinsicht ähnelt. Der Protagonist „Nanuk“
wurde beispielsweise von einem waschechten Inuit verkörpert und auch
die Kulisse und Umgebung war sein tatsächlicher Lebensraum. Allerdings
wurde das Igludach abgetragen, um ein adäquates Licht für die
Kamera zu erhalten oder auch moderne Jagdwaffen durch schon längst
überholte Speere ersetzt. (vgl. Berg 1981: 50f) Dennoch gilt „Nanuk,
der Eskimo“ als Mitbegründer des Dokumentar- und nicht des
Spielfilms, wenn auch die Gegebenheiten angepasst und dadurch zum Teil
inszeniert wurden. (vgl. Nichols 2010: 13)
Grierson präsentierte 1932 zudem drei Grundsätze
den Dokumentarfilm betreffend. Zum einen solle die „freie“
Kamera nicht mehr ortsgebunden genutzt werden, sondern an den Ort des
Geschehens herangetragen werden. Zum anderen sollten die Charaktere nicht
von Schauspielern, sondern von „Originaldarstellern“ verkörpert
werden und zuletzt sollte das Geschehen nach Möglichkeit spontan
erfolgen und der Bildausschnitt willkürlich ausgewählt werden,
um so eine möglichst reale und intime Wirkung zu erreichen. (vgl.
Grierson 1946: 120) Er spricht allerdings in keinem Punkt davon, dass
eine Inszenierung in einem gewissen Rahmen dem entgegenwirke. Eine „vorsichtige“
Lenkung in bestimmte Bahnen durch den Filmemacher, wie im Falle von Flahertys
„Nanuk“, scheint also durchaus vertretbar zu sein. Daher treffen
von Griersons Grundsätzen einige Punkte bei „Models“
zu, andere womöglich nicht. So drehte Seidl seine „Filme“
stets an Originalschauplätzen, ließ die drei Hauptcharaktere
sich selbst, also von realen Models und „Nicht-Schauspielerinnen“,
darstellen (vgl. Online6) und gab nur wage Anweisungen: „Ich glaube,
dass Spontaneität sehr wichtig ist, dass jeder mit seinen Vorstellungen
die Szene spielt und spricht.“ (Online7)
Was jedoch den Grundsätzen Griersons widersprechen könnte, ist
die schon nahezu pedantische Auswahl seiner „Cadrage “. Auch
wenn er gerne lediglich das Bild einrichtet und dann abwartet was sich
darin abspielt, so „ist die Cadrage der Bilder sehr genau überlegt,
das ist meine [=Seidls] Handschrift.“ (Online7) Eben diese ausführliche
Bildkomposition könnte bereits als zu starker Eingriff in das Geschehen
gesehen werden und nach Grierson dem Erscheinungsbild einer Dokumentation
entgegenwirken. Somit wäre der Film in diesem Punkt viel mehr der
Fiktion, also dem Spielfilm, zuzuordnen. Jedoch ist die Hauptaufgabe einer
Dokumentation nach Grierson so geschaffen, dass auch die penible Bildgestaltung
seitens Seidl, dem eigentlichen Sinn eines Dokumentarfilms nicht widerspräche:
„[…] erstmal 1926 in einer Besprechung des Engländers
John Grierson […] registriert […], sollte der Begriff [= Dokumentarfilm]
zunächst eine besondere Qualität des Authentischen unterstreichen,
die keineswegs im Widerspruch zu erkennbar narrativen Überformungen
der Wirklichkeit und zu inszenatorischen Eingriffen in das aktuelle >>Tatsachenmaterial<<
stand.“ (Heller (a) 2002: 149f)
Das Verständnis von der Beschaffenheit einer Dokumentation
veränderte sich jedoch im Laufe der Zeit und spaltete die ursprüngliche
Vorstellung (von Grierson) in unterschiedliche Sichtweisen und damit einhergehende
Kriterien auf.
Auch wenn diese beiden Modelle des Dokumentarfilms parallel
in den 1950er/60er Jahren entstanden, so bestehen sie nicht nur aus Gemeinsamkeiten.
Es haben sich feine aber auch ausschlaggebende Differenzen ergeben, welche
nicht unberücksichtigt bleiben sollten. Reclams Sachlexikon des Films
(vgl. Heller (b) 2002: 141ff / Müller 2002: 118f) beschreibt die
Gemeinsamkeiten und Unterschiede wie folgt in zusammengeraffter Fassung:
Beide Richtungen verlangen von sich selbst einen höchstmöglichen
Grad an Authentizität und Wahrhaftigkeit, wodurch beide sozialkritisch
Probleme in der Gesellschaft zu Tage fördern wollen. Als Mittel hierzu
wird sich der Handkamera und einem damit wackligen und körnigen Bild
bedient. Zudem wird völlig auf Drehbücher, interpretierende
Audiokommentare seitens des Filmemachers und ausführliche Drehplanung
verzichtet, um ein Höchstmaß an Spontaneität und Realismus
zu erzielen. Auch auf untermalende Musik wird verzichtet, die eher dem
Spielfilm zuzuordnen sei, auch wenn Flaherty sie bei seinen Dokumentarfilmen
nutzte.
Im Gegensatz zum Direct Cinema jedoch, legt das Cinéma
Vérité vor allem Wert auf die Funktion der Interviews und
Diskussionen vor der Kamera. Zudem verzichtet es vollkommen auf eine emotionalisierende
und dadurch vielleicht lenkende Montage und „poetische“ Bilder
oder Inszenierungen. In „Models“ sucht man im gesamten Film
vergebens nach einem direkten Interview.
Das Direct Cinema hingegen, möchte sowohl Protagonisten als auch
Zuschauer die Kamera vollkommen vergessen lassen. Hier wird auf alles
verzichtet, was in gewissem Maße den Fluss des Geschehens verändern
könnte, somit auch auf Interviews. Jedoch wird sich hier, ähnlich
wie bei Dziga Vertov, auch der strukturgebenden Montage und ungewöhnlicher
Perspektive bedient. (vgl.Vertov 1923: 79f).
Auf Fragen nach dem scheinbar ungewissen Wechsel zwischen
Fiktion und Dokumentation in seinen Filmen, nutzte auch Ulrich Seidl die
beiden Modell-Begriffe in der Vergangenheit. So sprach er in einem Interview
von 2004 mit der Zeitung Der Standard:
“Das war von Anfang an da, schon bei meinen frühen
Filmen - einerseits ein Interesse am Dokumentarischen im Sinne eines Cinéma
Vérité und auf der anderen Seite der Hang zur Inszenierung.“
(Online7)
Wenige Jahre darauf, im Jahre 2010, erzählte er in
einem Videointerview dem Fernsehsender Arte jedoch:
„Offensichtlich waren da immer zwei Intentionen in
mir. Nämlich wie gesagt sozusagen das Cinema Direct, also einfach
die Kamera aufzustellen und sie einzuschalten und warten was daher kommt,
und auf der anderen Seite, sehr stark den Wunsch auch, Bilder zu gestalten.“
(Online4)
Vor allem durch das eingeschobene Wort „sozusagen“
und die Umkehrung der Worte „Direct“ und „Cinema“,
die allein dadurch schon eine starke Bindung zu dem Begriff des Cinéma
Vérité aufweisen, scheint Seidl im Arte-Interview hervorheben
zu wollen, dass er die Grenzen nicht so klar zieht. So kann man festhalten,
dass Seidl sich womöglich gerne aus beiden Paradigmen des Dokumentarfilms
(Direct Cinema und Cinéma Vérité) bediente und nach
Belieben nutzte. Doch die Einflüsse des Gestaltens und somit des
Fiktionalen blieben stets bestehen.
Eben diese Mischung aus Spiel- und Dokumentarfilm manifestiert
sich in den Modellen der Mockumentary und des Doku-Dramas. Wo ersteres
eine Tendenz zum Dokumentarischen besitzt, ist das Doku-Drama stärker
im Bereich des Fiktionalen anzusiedeln. Beide werden jedoch in dem Begriff
der „Docufictions“ untergebracht. So werden in der Mockumentary
fiktionale Inhalte in einem dokumentarischen Stil vermittelt, wohingegen
im Doku-Drama dokumentarische Inhalte im Stile eines Spielfilms rekonstruiert
werden. (vgl. Docufictions 7f).
Für die „Rekonstruktion dokumentierter oder
erlebter Realität von Personen und Ereignissen mit dem Anspruch,
das vergangene Geschehen so zu dokumentieren, dass es den Eindruck von
Authentizität und Wahrhaftigkeit erhält […]“ (Reclam)
bedient sich das Doku-Drama vorzugsweise Schauspielern oder zumindest
Laiendarstellern. Die erlebte Realität versucht auch Seidl stets
in seinen Filmen einzufangen und wiederzugeben:
„Jeder Film heißt für mich, in eine Welt
hineinzugehen, in dieser Welt etwas zu erleben, etwas zu suchen und zu
finden.“ (Online7)
Wo ein Doku-Drama noch eine gewisse Ernsthaftigkeit an den
Tag legt, indem es Tatsachen versucht zwar spielfilmisch zu verpacken,
aber keineswegs deren Aussagekraft und Beschaffenheit zu verfälschen,
vermittelt die Mockumentary ihre Botschaft meist auf einem satirischen
und ironischen Wege (vgl. Rhodes/Springer 2006: 9). Die Mockumentary führt
damit die Glaubwürdigkeit einer reinen Dokumentation ad absurdum,
da sie sich deren Mittel bedient um frei erfundene Inhalte zu vermitteln.
Indem seine Filme und auch MODELS jedoch stets auf, zwar vorwiegend durch
Seidl selbst, aber dennoch wahrhaft Erlebtem beruhen, ist wohl der Begriff
der Mockumentary im Fall von Seidls Werken absolut unzutreffend.
Das Doku-Drama jedoch trifft in dem Punkt der Protagonisten
auch nicht ganz zu, da Seidl in „Models“ nicht auf Berufsschauspieler
zurückgriff. Die Frauen sind vielmehr eine Mischung aus sich selbst
und einem Hauch Laiendarsteller:
„Die 'Models’ spielen sich noch selbst, auch
wenn es fiktive Elemente gibt, sie bewegen sich in ihrer eigenen Welt,
der eigenen Wohnung, mit dem eigenen Freund.“ (Reiter 2006: 261)
4. MODELS seziert
Nachdem bisher dargstellt wurde, welche Eigenschaften die
unterschiedlichen Interpretationen und Richtungen von Dokumentarfilmen
besitzen, können nun drei repräsentative und verhältnismäßig
kurze Sequenzen des Films „Models“ betrachtet werden. Die
im Vorfeld bereits aufgezeigten groben Tendenzen, können nun im Detail
beleuchtet werden.
4.1 Sequenz #1: „Toilette in der Disco”
In der ersten Sequenz sehen wir Lisa und Tanja zusammen
in den sanitären Einrichtungen einer Diskothek, die bereits zuvor
im Film, immer wieder als Kulisse herhielt (1:46:55 - .1:48:42). Auch
in dieser Sequenz sind die Toiletten der Disko wieder der Ort, um nachzuschminken
und zu tratschen. Es ist schnell klar, dass wir uns auf einer Toilette
befinden, da man im Hintergrund vier direkt nebeneinander liegende, offenstehende
Türen vorfindet, die den Blick auf eine knapp einen Meter dahinter
liegende, gekachelte Wand eröffnen. Und genau an dieser Türkulisse
erkennt man bereits die Inszenierung durch Seidl. Auch wenn die beiden
Models nicht auf derselben Tiefenebene liegen und somit einen Symmetriebruch
erzeugen, wirkt der Hintergrund bis auf den letzten Zentimeter ausgemessen.
Eben diese tableauhafte Kulisse kann nicht auf spontaner und kurzfristiger
Kameraarbeit beruhen, wie sie bereits durch Grierson, Direct Cinema und
das Cinéma Vérité gefordert wurde. So scheint es
von der Kulisse her betrachtet vielmehr den Prinzipien eines Doku-Dramas
zu entsprechen, da nach außen der Schein eines Spielfilms dringt,
jedoch dokumentarischen Inhalt präsentiert.
Das jedoch Auffallendste an der Szene ist wohl die Blickrichtung der beiden
Damen, denn beide scheinen direkt in die Kamera und somit in die Augen
des Zuschauers zu blicken. Dieses Phänomen wird als „Durchbrechen
der 4. Wand “ bezeichnet und zieht den bis dahin unbeteiligten Betrachter
mitten ins Geschehen. Entgegen der Vorstellung des Direct Cinema und Vertov,
scheint die Kamera nicht „unsichtbar“ zu sein. Da jedoch das
Gespräch mit der Kamera selbst vermieden wird, treffen den Betrachter
zwar die Blicke der Frauen, diese gelten aber eigentlich nur Tanja und
Lisa selbst, ebenso wie deren Worte. Die direkte verbale Konfrontation,
wie in einem üblichen Interview bleibt also aus, nicht zuletzt weil
den Großteil der Zeit ein schon nahezu unangenehmes Schweigen herrscht.
Zudem nimmt der Zuschauer auch nicht die, für das Direct Cinema typische,
Rolle einer „Fly on the wall“ (vgl. Online 8) ein, sondern
vielmehr die einer „Fly on the lense“ und rückt somit
in einen Bereich von hoher Aufmerksamkeit und Involviertheit. Es scheint
eine indirekte und unbewusste Form eines Interviews zu sein, in dem aber
kaum gesprochen wird und somit lediglich im Ansatz eine Mischung aus Cinéma
Vérité und dem Direct Cinema darstellt.
Auch im Einstellungsbereich lässt sich einiges ausmachen.
So bewirkt die Nahaufnahme von Tanja und besonders die Grossaufnahme von
Lisa ein Eindringen in die Privatsphäre der Protagonistinnen. Natürlich
tragen auch das Gesprächsthema und die Umgebung einen großen
Teil zur Intimität bei. Sowohl diese Offenheit im Gespräch als
auch der Mangel an Distanz bewirken eine hohe authentische Wirkung. Doch
auch auf der akustischen, im Hintergrund befindlichen, Ebene, wird durch
Geräusche von Lüftungsanlagen und quietschenden Türen die
Sequenz ungemein realitätsnah.
Was jedoch der Eingliederung in die rein dokumentarisch, sowie durch und
durch der Authentizität verschriebenen, Kategorien des Direct Cinema
und des Cinéma Vérité widerspricht, ist die statische
Kamera. Die vielmehr dem Fiktionalen zuzuordnende Statik, bewirkt zugleich
eine Unnatürlichkeit und bildet so das Gegengewicht zu den Neigungen
zum Authentischen. Die Sequenz ist also von allen Kategorien des Dokumentarfilms
am ehesten der des Doku-Dramas zuzuordnen, wüsste man nicht, dass
es sich um echte Models, Kulissen und spontane Dialoge handelt.
4.2 Sequenz #2: „Körpertraining“
Die zweite Sequenz die betrachtet wird, ist etwas länger
(00:30:10 – 00:34:16) und besteht aus mehreren Einstellungen und
Umgebungen. Insgesamt wird der Vorgang des „Körpertrainings“
in fünf unterschiedlichen Einstellungen präsentiert.
Begonnen wird mit einer Detailansicht des, vermutlich zu Vivian gehörenden,
Gesäßes. Allerdings wird im Zeitraum der Bearbeitung durch
die Saugglocken nie die wahre Identität gelüftet, da keine Stimmen
oder Gesichter zu erkennen sind. Alles was der Zuschauer sieht, ist das
Gesäß, ein weißer Kittel im Hintergrund und zwei von
Händen gehaltene Saugglocken. Nur im Ganzen betrachtet, ist zu erahnen,
dass es sich hierbei um Vivian handelt, da sie die einzige Protagonistin
ist, die auch in allen darauffolgenden Einstellungen dieser Sequenz anwesend
ist. Das Hauptaugenmerk liegt hier auf der Haut, die hier in die Plastikglocken
gesogen wird und rot-bläulich anläuft. Hinzu kommt das laute
Geräusch einer Maschine und das Ablösen und erneute Ansetzen
der Gerätschaft.
Der Vorgang wird weder währenddessen, noch davor oder
danach von Vivian oder einer ihrer Freundinnen kommentiert. Es dient lediglich
dazu eine fremdwirkende und schon fast kühle Atmosphäre zu schaffen.
Hierzu dienen sowohl das unangenehme Geräusch, die statische Kamera,
als auch die kalte Farbigkeit im Hintergrund. Das außerhalb dieser
Situation viel ansehnlicher und attraktiver wirkende Gesäß
eines Models, wird durch diese Szenerie nahezu „enterotisiert“.
Ebenso wie in der vorherigen Sequenz, wird auch hier ein Eingriff in die
Privatsphäre vorgenommen. Die medizinisch wirkende Umgebung und die
Nacktheit sind Dinge, die ansonsten wohl vielmehr hinter verschlossenen
Türen stattfinden. Außerdem trägt das Pflaster an der
rechten Hand des Saugglockenhalters ebenfalls seinen Teil dazu bei, den
Eindruck des Unästhetischen, neben der ungesunden Hautfarbe unter
den Plastikhauben, zu verstärken. Dieser Abschnitt der Sequenz scheint
1:1 dem Credo des Direct Cinema zu entsprechen, abgesehen von der völlig
unbewegten Kameraführung.
Der nächste Sequenzteil zeigt Vivian und eine Freundin
im Sonnenstudio. Beide liegen nackt auf den Bräunungsgeräten,
wobei Vivian fast in gesamter Länge und ihre Freundin bis zum Gesäß
zu sehen ist. Durch die halbnahe Einstellungswahl erreichen wir hier wieder
ein wenig mehr Distanz zu den Protagonisten. Allerdings dienen auch hier
Nacktheit und Kulisse wieder dazu, ein Eindringen in die Privatsphäre
vorzutäuschen und somit den Zuschauer als „Fly on the wall“
zu charakterisieren und der räumlichen Distanz entgegenzuwirken.
Ansonsten ist es auch das Gesprächsthema (Geschlechtsverkehr und
die Beschaffenheit von männlichen Genitalien), welches eine sehr
intime Wirkung hat. Die Umgebung in der sich die Frauen scheinbar gemütlich
auf den Bänken räkeln und intime Themen behandeln, hat jedoch
einen eher unangenehmen und kalten Anschein. Obwohl der Raum dazu dient
den Körper, als Ersatz für die (sowohl im farbigen als auch
im sensitiven Sinne) warme Sonne, zu bräunen, vermitteln das blaue
Licht und die Betonziegelwand einen Ort der Unbehaglichkeit. Hier bringt
Seidl Gegensätze zusammen und spielt mit ihnen, ebenso wie mit Impressionen
der Fiktion und der Authentizität. Beispielsweise entsteht hier der
Eindruck, als filme Seidl „over shoulder “ einer Reporterin,
die ein Interview führt, da Vivians Freundin nur von hinten zu sehen
ist und ihr Gesicht, wenn überhaupt, nur angeschnitten zum Vorschein
kommt. Auch die Kamera bewegt sich keinen Millimeter. Sie ist und bleibt
die einzige, statische Kamera und bietet somit auch keinen Gegenschuss,
was auf ein gleichberechtigtes Gespräch schließen ließe.
Die Aufmerksamkeit liegt vollkommen auf Vivian, als wäre sie eine
Prominente in einem Interview eines Klatschmagazins. Es scheint also erneut
eine Mischung aus Direct Cinema und Cinéma Vérité
zu sein. Allerdings leidet die Authentizität unter der Intimität
dieses Sonnenstudiobesuchs, da es schwer fällt zu glauben, dass sich
reale Menschen vor einer unversteckten Kamera in dieser Form präsentieren
würden. Dies lässt schnell eine fiktive Wirkung entstehen, da
es gestellt erscheint und würde somit wohl viel mehr zum Doku-Drama
gezählt werden.
Im dritten Teil der Sequenz sehen wir (vermutlich) Vivian,
die in einem kargen Raum auf einem schwarzen, ledersesselähnlichen
Gerät ihren Körper durch maschinelle Steuerung bewegen lässt.
Unterteilt ist dieser Abschnitt in drei unterschiedliche Übungen,
die durch je einen Schnitt voneinander getrennt sind. Man sieht nie wie
Vivian zum Gerät hingeht, etwas einstellt oder ähnliches, sie
ist nach dem Schnitt sofort wieder in Aktion auf dem Gerät. Ihr Gesicht
ist allerdings nur während der letzten Übung „schattenverhangen“
zu erkennen und ihre Stimme erklingt auch kein einziges Mal. Dies bewirkt
einen starken Eindruck der Anonymität, sodass die Aktion und die
Kulisse selbst in den Vordergrund rücken und die Person nur noch
als Bestandteil des Interieurs bestehen bleibt. Ansonsten sieht man lediglich
ihren schon nahezu leblos wirkenden Körper, vollkommen passiv, von
der Maschine in Bewegung versetzt. Der Raum ist wie die Toilettenkulisse,
während Sequenz #1, schier tadellos symmetrisch inszeniert. Nur diesmal
ist auch der Körper der Protagonistin ein Teil dieses Tableaus und
verschwindet förmlich in der Symmetrie. Ebenso wie die Symmetrie,
taucht in diesem Abschnitt auch die Sterilität und Kälte wieder
auf. Durch die lauten mechanischen Geräusche, blasse Farben und weiße
Jalousien, die an eine Arztpraxis erinnern, wirken Raum und Übungen
mit einem Mal sehr trist.
Dziega Vertov hätte vermutlich seine schiere Freude
an diesem Sequenzteil. Die mechanisch anmutenden, gleichmäßigen
Bewegungen von Vivians Körper sind das, was Vertov im Film sehen
wollte. Er verlangte die perfekten Bewegungen, die für ihn nur eine
Maschine ausführen könnte, wodurch der höchste Grad an
Authentizität erreicht würde. Denn der Mensch fühle sich
wohl stets dazu verleitet zu künsteln und somit die Wahrhaftigkeit
der Aufnahme zu verfälschen. Eine Maschine könnte dies nicht.
Es scheint die perfekte Dokumentation, da schlichtweg nicht manipuliert
werden kann:
„Wir schließen den Menschen als Objekt der Filmaufnahme
deshalb zeitweise aus, weil er unfähig ist, sich von seinen Bewegungen
leiten zu lassen. Unser Weg – vom sich herumwälzenden Bürger
über die Poesie der Maschinen zum vollendeten elektrischen Menschen.“
(Vertov 1923: 71)
Auch im nächsten Abschnitt des Sequenzteils beherrscht
die Symmetrie das Bild. Umgeben von schwarzem Metall, Spiegeln und Gewichten
trainieren hier Vivian und Tanja ihre Beinmuskeln. Als Einstellung wurde
hier die amerikanische gewählt, um auch noch die Bewegung der Beine
und das Gestikulieren mit den Händen im Bild zu haben. Das Gesprächsthema
des Spirituellen, steht ganz im Gegensatz zu dem was sie in diesem Moment
tun. Auf ganz herkömmliche Art und Weise versuchen sie ihren Körper
in Form zu halten – durch Sport, Wachsbehandlungen und Unterdruckbearbeitung
der Haut. Doch das „einzige hilfreiche“ sollen Dinge wie „Mondscheinbaden“
zu sein. Dinge, für die Frauen früher als Hexen verbrannt worden
wären. Ein sehr treffender Vergleich, da sie auch davon sprechen
„die Seele [zu] verkaufen“ (Models 1999). Nichts scheint ihnen
also zu widerspenstig um im Beruf vorwärts zu kommen. Wie im Abschnitt
zuvor, vermittelt Seidl durch die szenische Mechanisierung eine vollkommene
Unterwerfung und Integration der Frauen in ihrer Berufswelt. Sie scheinen
Roboter zu sein, die funktionieren müssen und hierfür alles
tun. Mit ihrem Dialog unterstreichen sie nur, ihre bereits in der Bildgestaltung
durch Seidl manifestierte, Rolle als austauschbares Zahnrad im Motor der
Modelindustrie.
Die Sequenz endet ähnlich wie sie anfing: mit einer
Detailaufnahme, diesmal jedoch einer Wachsbehandlung. Statische Kamera,
Gummihandschuhe, eine weiße Decke als Hintergrund und Wortlosigkeit
sind erneut die elementaren Grundbausteine der vermittelten Sterilität.
Lediglich das Geräusch vom Auftragen und Abziehen der Streifen ist
zu vernehmen, was dem Vorgang erneut etwas Unnatürliches verleiht.
All die Abschnitte dieser Sequenz, welche rein atmosphärische
Bilder beinhalten und ebenfalls als Rahmungen und Klammern für die
geführten Diskussionen dienen, vermitteln automatisierte und technisierte
Vorgänge. Es sagt auch aus, dass das natürliche Leben der Models
von routinierten Wartungsarbeiten gerahmt ist. Diese Sequenz beinhaltet
scheinbar das gesamte Leben der Models, so trostlos und streng es auch
sein mag. Dadurch, dass alle Abschnitte mit einer statischen Kamera festgehalten
wurden, ist diese Sequenz nicht in voller Gänze dem Cinéma
Vérité zuzuordnen, ausgenommen die Ähnlichkeit zum
Interview auf der Sonnenbank. Auch dem Direct Cinema widerstrebt die Statik,
jedoch sind der Blick eines stillen Beobachters, vor allem in den atmosphärischen
Abschnitten, und das Fehlen eines klaren Kommentars zu den Situationen
voll zutreffend. Auch die Perspektive der Kamera wurde sehr neutral gehalten,
da ausnahmslos fast auf Augenhöhe der Protagonisten gefilmt wurde
und man sich somit nie über- oder unterlegen fühlt. Allerdings
ist die Unglaubwürdigkeit der freiwilligen Preisgabe der eigenen
Privatsphäre so verunsichernd und die Kulissen zum Teil so detailliert
ausgemessen, dass diese fiktiven Züge viel eher dem Doku-Drama zuzuordnen
wären.
4.3 Sequenz #3: „Bulimie“
In der dritten und letzten Sequenz beobachtet der Zuschauer
das Model Vivian in den verschiedenen Phasen ihrer Bulimie. Zu Anfang
sitzt Vivian ungeschminkt, unfrisiert und im Bademantel mit einer Tüte
Chips oder ähnlichem auf ihrer schwarzen Couch. Alles ist wieder
nahezu perfekt symmetrisch ausgemessen und in Szene gesetzt. Lediglich
die Asymmetrien durch Palmenbaum in der rechten Ecke und Blumentopf mit
Regaltbrett in der linken Ecke schwächen es ein wenig ab. Exakt mittig
über Vivian prangert ein Portraitfoto von ihr an der Wand. Das augenscheinlich
professionell erstellte Foto steht im absoluten Kontrast zu dem gebrochen
erscheinenden Menschen darunter. Vivian richtet einen verzweifelten und
scheinbar ziellosen Blick in Richtung Kamera.
Sie führt mit einer mechanischen Monotonie immer wieder
neue Knabbereien zu ihrem Mund und kaut darauf herum. Obwohl auf dem von
der Cadrage angeschnittenen Tisch vor ihr eine Fernbedienung und eine
Videokassette liegen, vernimmt der Rezipient keinen Ton der auf einen
Film schließen ließe. Auch ein fernsehtypisches Flackern an
der Wand bleibt aus. Die einzigen Geräusche bilden das Kauen und
das Rascheln der Tüte. Der Blick in Richtung der Kamera ähnelt
dem Blick aus Sequenz #1. Auch hier wird die vierte Wand gebrochen, nur
ist die Kamera kein Spiegel mehr, sondern der Fernsehbildschirm. Da es
mit Sicherheit kein Fehler seitens Seidl war und er einfach nur vergessen
hatte den Fernseher einzuschalten, kann man davon ausgehen, dass sich
Vivian beim Essen im ausgeschalteten Bildschirm betrachtet – wäre
ihr in diesem Falle nicht mit höchster Wahrscheinlichkeit die Kamera
im Weg. Ebenso wie in Sequenz #1 wäre dadurch erneut die immense
Bedeutung des Aussehens in den Mittelpunkt gerückt worden, da dem
Spiegelbild eine solche hohe Macht zugeschrieben wird. Außerdem
findet sich schon wieder das Prinzip der „Fly on the lense“.
Als nächstes zeigt Seidl aus der Perspektive von Vivian
selbst, wie sie sich auf ihre Waage stellt. Doch sogar hier bedient er
sich einer festen, statischen Kamera. Diese erwartet in ihrer starren
Position sogar die Füße auf der Waage. Dies ist jedoch nicht
das einzige Merkmal für die penible Planung durch Seidl. Selbst in
diesem kurzen Moment des Wiegens ist das Bild von durchdachtem Bildaufbau
geprägt. Die Fliesen und die Waage selbst stehen zueinander, wie
auch zur Cadrage, in einem nahezu perfekt symmetrischen Verhältnis.
Vor allem jedoch ist die Perspektive für einen Dokumentarfilm extrem
ungewöhnlich. Die Perspektive dient voll und ganz der Identifikation
mit der Protagonistin und hat nichts mehr mit der unbeteiligten Beobachterposition
zu tun. Dieses Mittel ist eindeutig dem Doku-Drama zuzuordnen.
Der nächste Abschnitt besteht ebenso wie es der erste tat aus einer
essenden Vivian. Doch die Einstellungsgröße ist eine ganz besondere.
So ist sie wohl zwischen „groß“ und „nah“
anzusiedeln, da Vivian von Kopf bis knapp unter die Schultern zu sehen
ist, gleichsam einer „lebendigen Büste“:
„Seidl ist ein besessener Stilist, der seine Bilder
ausmisst und die Sujets mit einer Vorliebe für Symmetrie arrangiert,
Hauptthema dieser Bilder ist die lebendige Büste.“ (Online11)
Diese lebendige Büste ermöglicht in diesem längeren
Abschnitt die detaillierte und ausführliche Betrachtung dieses Individuums
„Vivian“. Die Büste ermöglicht es dem Betrachter
einen bestimmten Zustand dieses Menschen in künstlicher Form ausgiebig
zu untersuchen. Doch auch stellt es den Künstler, in diesem Falle
Ulrich Seidl, vor die Aufgabe, das Vorbild ordentlich und wahrheitsgemäß
nachzubilden. Der Vorteil dieser lebendigen Variante einer Büste
im Gegensatz zu ihrem leblosen Vorbild besteht in der Bewegung. Die Büste
kann sich selbst durch Mimik mitteilen und wirkt somit wesentlich realitätsnäher.
Allerdings wurde auch hier wieder die Cadrage penibel eingerichtet und
so ist die Büste zentral und, im Gegensatz zu ihrem Hintergrund,
nahezu symmetrisch arrangiert. Auch die Farben wirken kalt und ungemütlich.
Lediglich die Dekorationsfiguren im Hintergrund bringen ein wenig Persönlichkeit
und somit auch Wärme ins Bild.
Im nächsten Abschnitt hat die Kamera bereits ihren
Blick auf die ebenfalls symmetrisch ins Bild gerückte Toilette am
Ende eines dunklen Flurs gerichtet, als Vivian an ihr vorbei tritt und
sich mit dem Finger im Hals zum Übergeben zwingt. Es entsteht eine
innere Rahmung in der Vivian im erhellten Toilettenraum vom Türrahmen
umgeben ist. Dies stellt eine verbildlichte Gefangenschaft von Vivian
dar. Sie ist in diesem Zwang der Bulimie gefangen und schafft es nicht
auszubrechen. Die Toilette scheint der Ort, an dem sich Vivian oft und
lange aufhält, da es im Gegensatz zum düsteren Flur durch die
Kacheln farbenfroh und warm gestaltet ist. Nachdem sich Vivian übergeben
hat, sackt sie zudem zusammen und legt ihren Kopf auf dem Klodeckel nieder,
um vermutlich noch eine Weile dort knien zu bleiben. Die Toilette ist
ein Ort an dem sie sich geborgen fühlt, da ihr Freund Werner, mit
dem sie im nächsten Abschnitt telefoniert, sie ständig versetzt,
was sie an sich selbst und ihrem Aussehen zweifeln lässt.
Im letzten Abschnitt liegt sie in der unteren linken Ecke
der Cadrage auf ihrem Bett, ausnahmsweise mal ohne symmetrischen Bildaufbau,
und hat lediglich in einer Wandnische ein paar persönliche Gegenstände
liegen, die in den, ansonsten sehr kalt gestalteten, weißen Raum,
ein wenig Wärme bringen. Vivian wirkt, als fast einzig farbgebender
Fleck in diesem Bild, nahezu erschlagen von dem kalten Weiß um sie
herum. Am Ende ihres Rituals der Bulimie scheint sie niedergeschmettert
und verletzlich. Ganz im Gegensatz zu der starken Frau auf dem Foto zu
Beginn.
Auch in dieser Sequenz herrschten zahlreiche Widersprüche gegenüber
der Zuordnung des Films zum Dokumentarfilm vor. Neben der statischen Kamera
und den ausgemessenen Kulissen ist es aber vor allem eine Sache die sehr
stark dem fiktiven Film zugesprochen werden kann: das Erwarten der künftigen
Handlung durch die Kamera.
„Ein wesentliches Strukturelement des fiktionalen
Erzählens bildet z.B. das Wissen der Kamera von dem, was als Handlung
kommen wird. So kann sie handelnden Figuren vorauseilen und diese dort
bereits erwarten, wo sie anhalten werden oder eine neue Aktion beginnen;
sie setzt weiterhin den Handelnden in eine komponierte Umgebung und in
ein Bedeutung erzeugendes Licht. Die Kamera nimmt damit eine Erzählhaltung
ein, die über das Geschehen verfügt, Zeit und Ort des Geschehens
letztlich beherrscht.“ (Hickethier 2007: 184)
Sowohl auf der Waage, als auch bei der Toilette hatte die
Kamera die Handlung bereits erwartet. Ein Zeichen dafür, dass die
Aufnahme nicht spontan getätigt wurde, stellt zudem die penible Symmetrie
im Bild und das fehlende Plätschern von Erbrochenem in der Kloschüssel
dar.
5. DokuFiction
Es lässt sich also resümieren, dass wohl zahlreiche
Elemente des Dokumentarfilms „Models“ ebenso gut dem Fiktiven
zuzuordnen sind. So sind tableauhaft inszenierte Bildsymmetrien, ein „Kratzen
an der vierten Wand“ und eine die Handlung erwartende, statische
Kamera eindeutige Zeichen des Fiktiven. Allerdings Ist hinzuzufügen,
dass außerhalb der gewählten Beispiele, unter anderem während
großem Bewegungsdrang durch Alkohol- und Kokainkonsum, auch die
Handkamera benutzt wurde. Zusammen mit dem Mangel an Musik aus dem Off
und der hohen, ungewöhnlichen Offenheit und Intimität spricht
dann wiederum vieles für das Dokumentarische.
Durch diesen Zwist wirkt der zu vermittelnde Inhalt jedoch
noch viel intensiver auf den Zuschauer, als wenn die Situation eindeutig
wäre. So ist der Rezipient durch diesen Zwiespalt unentwegt aufgefordert
darüber nachzugrübeln, ob es so etwas Dramatisches tatsächlich
gibt und ob diese Frauen wirklich in einer solchen Bredouille stecken.
Sobald der Rezipient sich solche Fragen stellt, nimmt er den Film viel
intensiver. Es ist also wichtig zu erkennen, dass er zahlreiche Aspekte
aus beiden Lagern besitzt, denn nur so wird man sich über die Ursachen
für die intensive Wirkung des Films bewusst.
Einer speziellen Gattung des Dokumentarfilms eindeutig
zuzuordnen ist der Film wohl nicht, dafür besitzt er zu viele Widersprüche.
Die Sequenzen trafen immer gleich auf mehrere Paradigmen des Dokumentarfilms
zu. Am ehesten jedoch stimmt er mit der grundlegenden Auffassung eines
„Dokumentarfilms“ durch Grierson überein. Denn der Begriff
der Fiktionalisierung kann auch die Wahl des Formats „16:9“
oder Festlegung des Bildausschnitts bedeuten und somit ließe es
sich, gleich bei welchem Film, nicht vermeiden zu fiktionalisieren. Nach
Grierson jedoch bedeutet die Fiktionalisierung einer Dokumentation nicht
zugleich, dass diese auch den Status einer Dokumentation verliert. Nimmt
man seine Theorie zur Hand, so geht es ausschließlich darum den
Anschein von Authentizität zu wahren. Solange Seidl seine Eindrücke
der Modelwelt in diesem Film wiederfindet, so ist der Film als realitätsnah
und glaubhaft zu bezeichnen und nach Grierson somit auch als Dokumentation.
Dennoch ist es ein stark durch die Sichtweise von Seidl geprägter
Film, den er zwar nicht verbal aber durch die Bildsprache stark kommentiert,
auch wenn er dies in Interviews stets bestreitet. Die Hauptsache ist allerdings
wohl die markerschütternde Wirkung, die der Film sogar ohne einen
übermäßigen Gebrauch von tatsächlich gesprochenem
Wort zu vermitteln vermag. Es ist ein Dokumentarfilm, der durch eine fiktional
anmutende Offenheit, den höchstmöglichen Grad an Emotionen und
Involvierung beim Zuschauer schafft – nur ermöglicht durch
das Vermischen der Filmkonventionen Spielfilm und Dokumentation.
6. Quellenverzeichnis
6.1 Abbildungsnachweis
Alle Abbildungen sind dem Film „Models“
(1999) entnommen
6.2 Filmverzeichnis
- „Models“ (1999) (Ö, R: Ulrich
Seidl)
- „Nanuk, der Eskimo“ (1922) (USA, R: Robert J. Flaherty)
6.3 Literaturverzeichnis
- Berg, Jan (1981): „Die Fiktion der Nichtfiktionalität“,
in: Stadt Duisburg, filmforum der Volkshochschule 1981 (Hg.), Bilder aus
der Wirklichkeit. Aufsätze zum dokumentarischen Film und Dokumentation,
Duisburg: Druckerei Kunze GmbH, S. 47-52
- Grierson, John (1946): “Grierson on documentary”,
in: Hardy, Forsyth (Hg.), Grierson und der Dokumentarfilm, London/Glasgow:
Collins Clear-Type Press
- Heller, Heinz-B. (a) (2002): “Dokumentarfilm”,
in: Thomas Koebner (Hg.), Reclams Sachlexikon des Film. Zweite Auflage,
Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co., S. 149-154
- Heller, Heinz-B. (b) (2002): “Direct Cinema”,
in: Thomas Koebner (Hg.), Reclams Sachlexikon des Film. Zweite Auflage,
Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co., S. 141-143
- Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse,
Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler
- Müller, Marion (2002): „Cinéma
Vérité“, in: Thomas Koebner (Hg.), Reclams Sachlexikon
des Film. Zweite Auflage, Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co.,
S. 118f
- Nichols, Bill (2010): Introduction to documentary.
Second Edition, Bloomington (USA): Indiana University Press
- Rhodes, Gary D. / Springer, John Parris (Hg.) (2006):
Docufictions. Essays on the Intersection of Documentary and Fictional
Filmmaking, Jefferson (USA): McFarland&Company, Inc, Publishers
- Reiter, Otto (2006): „Ulrich Seidl im Gespräch
mit Otto Reiter“, in: Verena Teissl, Volker Kull (Hg.), Poeten,
Chronisten, Rebellen. Internationale DokumentarfilmemacherInnen im Portrait,
Marburg: Schüren Verlag, S. 260-265
- Vertov, Dziga (1923): „Kinoki – Umsturz“,
in: Eva Hohenberger (Hg.), Bilder des Wirklichen, Texte zur Theorie des
Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8, S. 74-86
- Winkler, Hartmut (2002): „Cadrage“,
in: Thomas Koebner (Hg.), Reclams Sachlexikon des Film. Zweite Auflage,
Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co., S. 107f
6.4 Online-Dokumente
- Online1: www.ulrichseidl.com/de/03KinoFilme/04Models/06Festivals.shtml
vom 12.10.2011.
- Online2: http://www.3sat.de/page/?source=/ard/kinomagazin/122712/index.html
vom 27.09.2011.
- Online3: http://www.axinovis.de/sparkasse_bremen/_downloads/seidlbio_filmogr.pdf
vom 28.05.2011.
- Online4: http://www.arte.tv/de/Videos-auf-ARTE-TV/2151166,CmC=3216184.html
vom 25.05.2011.
- Online5: http://de.wikipedia.org/wiki/Tableaux_vivants
vom 12.10.2011.
- Online6: http://www.sensesofcinema.com/2004/32/ulrich_seidl/
vom 27.09.2011
- Online7: http://derstandard.at/832713/Regisseur-Ulrich-Seidl-im-Interview?_lexikaGroup=9
vom 27.09.2011
- Online8: http://en.wikipedia.org/wiki/Fly_on_the_wall
vom 12.10.2011.
- Online9: http://de.wikipedia.org/wiki/Vierte_Wand
vom 12.10.2011
- Online10: http://en.wikipedia.org/wiki/Over_the_shoulder_shot
vom 12.10.2011
- Online11: http://www.ulrichseidl.com/img/02Person/Portrait/0302_filmbulletin.pdf
vom 12.10.2011
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