Reihe: Seduktionstheorie des Films VIII * Körper, Bewegung, Blicke Seduktive Strategien in David Slades HARD CANDY Von Verena Altenhoff
1. Einleitung In seinem Buch Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film von 2006 entwickelt Marcus Stiglegger die Theorie der Seduktion, der Begriff basierend auf dem Begriff 'seduction’ von Jean Baudrillard. Diese ermöglicht eine nicht-normative Betrachtung unterschiedlichster Filme für einen maximalen Erkenntnisgewinn, das Kanon-Denken soll überwunden werden. Auf drei Ebenen werden die seduktiven Strategien des Mediums Film verortet: 1. Der Film will den Zuschauer mit allen Mitteln fesseln und bannen, ihn letztlich zu sich selbst (dem Film) verführen. 2. Der Film birgt eine Botschaft, die in der und durch die Inszenierung explizit vermittelt werden soll, er will also zu einer speziellen Aussage verführen (wie im manipulativen ideologischen Propagandafilm). 3. Der Film entwirft mit all seinen inszenatorischen und dramaturgischen Mitteln ein seduktives Konstrukt, das letztlich zu einer Aussage auf der nicht auf den ersten Blick erkennbaren Metaebene verführen soll. [1] Gemäß Stigleggers Vorgehensweise wird diese Untersuchung
auch die ersten beiden Ebenen behandeln, der Schwerpunkt soll aber auf
der dritten liegen. Untersuchungsgegenstand ist HARD CANDY von David Slade
aus dem Jahre 2005 (Start USA; in Deutschland 2006). „Die seduktive
Qualität des Films selbst zeigt sich jedoch auf verschiedenen Ebenen,
seien sie äußerer Natur (Bewegung, Körperlichkeit, Sinnlichkeit),
dramaturgischer (Fabel, Drama) oder ethisch-moralischer Art (innerer Konflikt,
Ambivalenz).“ [2] Im Folgenden soll untersucht werden, wie in David
Slades HARD CANDY die genannten Ebenen miteinander verbunden werden. Dabei
soll das Seduktive der äußeren Natur betrachtet werden, aber
auch deren Bedeutung für die Narration und die geplanten Auswirkungen
auf den Zuschauer, in Form eines ambivalenten Verhältnisses zu den
Figuren. Neroni versteht die gewalttätige Frau als von der Gesellschaft
nicht akzeptierte Figur, da sie ein Tabu bricht und die patriarchale Ordnung
in Frage stellt. Die Darstellung von Jeff macht mit der Pädophilie
ebenfalls ein heutzutage in vielen Kulturkreisen tabuisiertes Thema zu
einem seduktiven Element. In der Dieses Begehren der Zuschauer, das sich in Erwartungen und Hoffnungen manifestiert, wird durch das „Spiel“ zweier Körper auf begrenztem Raum gereizt. Dabei wird im Folgenden auch auf die Inszeniertheit der Körper Rücksicht genommen, die auch Stiglegger betont: "Film ist ein primär anthropozentrisches Medium: Im Mittelpunkt dieses Mediums und seiner seduktiven Strategien steht der menschliche Körper in all seinen Facetten. Nun ist die kein authentischer Körper, sondern vielmehr die idealisierte Simulation eines solchen, fest eingebunden in Rituale der Verführung und das inszenierte Spiel und die Montage des Films. "[4] 2. Zum Film verführt Meist wird HARD CANDY eingeordnet als Krimi, Thriller, Drama (cineasten.de), Psychothriller (Filmhülle) oder Drama, Thriller (IMDb). Obwohl Reifenberger über den Film sagt, er breche „sowohl ästhetisch wie auch narrativ mit nahezu allen Rape-Revenge-Konventionen“ [5], kann er diesem Genre wohl trotzdem zugeordnet werden, zumal im Bezug auf die Erwartungshaltung des Zuschauers vor dem Sehen des Films. Erste Informationen über den Inhalt liefert meist der Trailer. Englische und deutsche Version weisen hier Unterschiede auf, beginnen aber vorerst beide mit einem Ausschnitt aus dem Chat, der auch den Film einleitet. In beiden Trailern wird Jeff zitiert: „Als Fotograf kommt man schnell dahinter, dass die Gesichter der Menschen lügen“ (Film 0:03:41), doch im deutschen Trailer zeigt er in Verbindung mit seinem fröhlichen Gesichtern, dass die Aussage auf Jeff zutreffen könnte. Das Thema der Pädophilie kommt im deutschen schon auf, als ihr Alter als „Problem“ beschrieben wird. Wie im Film erhöht sich die Geschwindigkeit und es gibt einen harten Schnitt. Ihre Aussage: „Das Spiel ist zu Ende, es ist an der Zeit aufzuwachen“ (Film 0:22:23) wird auch deutlich als Hinweis für den Zuschauer erkennbar, der gleichzeitig mit Jeff erfährt, welche Wendung der Film nehmen könnte. Danach wird der Trailer noch schneller, sämtliche Gewaltszenen (bis auf seinen Selbstmord) werden aneinander montiert – die körperliche Gewalt wird als wahrer Hintergrund der Inszenierung offenbart. Zwar werden auch Gewaltakte von Jeff gezeigt, doch ohne Hintergrundwissen sind diese nicht einzuordnen, so bleibt der Mann als Opfer erkennbar. „Ist das etwa Folter für dich? Das hier ist noch gar nichts“ [6] (Film 0:26:32). Während im deutschen durch Schrifteinblendungen kommentiert wird, bleibt dies im englischen aus. Außerdem werden die Anfangssequenzen ausführlicher gezeigt und die bedrohliche Stimmung deutlich. Desweiteren wird der Lamellenvorhang als Motiv etabliert. Ein Hinweis auf die vermisste Donna Mauer wird gegeben und darauf, dass Hayley Beweise für ihre Beschuldigungen findet. Auch hier kommt ein Schnitt, nach dem Gewaltszenen schnell montiert werden, doch dieser Teil ist verhältnismäßig kurz. „Es ist Zeit aufzuwachen“ ist der letzte Satz dieses Trailers [7]. Die englische Version versucht bereits durch die Ambivalenz zu verführen, denn schon im Trailer ist die Rollenverteilung unklar, für Deutschland tritt Hayley deutlich als Psychopathin auf. In beiden Versionen wird der Altersunterschied thematisiert, doch in der deutschen wird er sogar als „abnormal“ dargestellt. Mit einem Budget von $950.000 (imdb.de) kann HARD CANDY als low-budget-film bezeichnet werden, der $8.267.066 weltweit eingespielt hat. Patrick Wilson hatte vorher wenige Rollen, er spielte unter anderem einen Anwalt, der seine Homosexualität entdeckt, einen jungen Offizier und in DAS PHANTOM DER OPER Raoul, den Geliebten der Protagonistin. Er war demnach meist als sympathische Figur zu sehen, die jedoch nicht immer klar einzuordnen war. Ellen Page hingegen hatte ihre Karriere bereits mit 10 Jahren begonnen, zum Zeitpunkt der Filmveröffentlichung (USA) war die 1987 Geborene fast 18. Sie ist jedoch bekannt für ihr zartes, kindliches Aussehen – die Attribute große Augen, Grübchen und Stubsnase werden vor allem in Nahaufnahmen hervorgehoben –, das durch eine Körpergröße von 1,55m und einen beinahe androgynen Körperbau noch unterstrichen wird. Schon in früheren Filmen wurde sie als Teenager besetzt, auch als Rebell. Für HARD CANDY spielen diese Hintergrundinformationen eine Rolle, da dem Zuschauer bewusst ist, dass Page älter ist aber auch, dass sie oft Teenager spielt. Einerseits wird Page somit gleich als 14-Jährige akzeptiert, andererseits deutet sie am Filmende an, keine private Information sei wahr gewesen – es könnte sich also tatsächlich auch um eine Erwachsene handeln. In gewisser Weise wird hier bereits eine Metaebene des Films sichtbar, der Vorgehensweisen der Filmindustrie thematisiert und verdeutlicht, inwieweit im Schauspiel die Realität modifiziert wird. 3. Die Metaebene Im Folgenden soll HARD CANDY auch im Hinblick auf die zweite Ebene der Seduktionstheorie nach Stiglegger, aber vor allem auf die dritte Ebene, die Metaebene, betrachtet werden. Wenn die Chronologie des Filmes beibehalten wird, so ist dies damit begründet, dass die Inszenierung sich mit der Narration entwickelt. Neue „Informationen“ werden mit neuen inszenatorischen Mitteln dargestellt. Die unterschiedlichen Phasen der Narration sind einerseits stark an Handlungen der Figur Hayley und den Wissensstand des Publikums gebunden, andererseits wird dieses Wissen durch Veränderungen in der Inszenierung vermittelt. Über die Bildebene werden Schlüsse auf die weitere Entwicklung provoziert, die aber nicht immer zutreffen müssen. Im Film agieren nur fünf Darsteller größtenteils auf einem Grundstück, beziehungsweise im Haus des Fotografen Jeff. Dieser wird von der jungen Hayley dort festgehalten, weshalb nur ein enger zeitlicher Rahmen gegeben ist – die Nachbarn müssen außer Haus sein und der Gefangene darf nicht vermisst werden. Auf Grund dieser räumlich und zeitlich stark begrenzten Situation muss sich die Spannung der Narration über die Intensität der Ereignisse aufbauen, welche stark über die Körper der Protagonisten ausgedrückt wird. Außerdem muss eine Metaebene über diese begrenzten Begebenheiten hinausgehen, damit der Film interessant wird, beziehungsweise damit er nicht langweilig wird. 3.1 Verführerische Unschuld „Die Kamera »nimmt das Auge mit« (Balázs), Während in der Originalversion in der ersten Szene
nur Hayleys Computerbildschirm in Ausschnitten sichtbar ist, muss der
Chat im Deutschen durch die Stimmen der Protagonisten ergänzt werden.
Dieses Detail dient in erster Linie dazu, die Sprachbarriere zu überwinden,
doch die Stimmen geben zusätzliche Hinweise auf Alter und Geschlecht
der Personen – ein junges Mädchen und ein Mann sind erkennbar.
Auf der Bildebene wird hier mit starker Symbolik gespielt: Ihr Icon ist
ein Herz, ihre Schrift rot unterlegt, er hingegen hat eine Kamera als
Bild und blau unterlegte Schrift. Der körperlichen Repräsentation
entzogen werden hier Stereotypen entwickelt – ihr Name lautet Thonggrrrl14,
er trägt den Namen Lensman319. Nicht nur treffen hier „girl“
und „man“ aufeinander, auch ihre Altersangabe, die Verwendung
von „Tanga“ und die Schreibart von girl lassen auf einen Teenager
schließen [9], der die Gefahren des Internets scheinbar noch nicht
kennt und gedankenlos Informationen veröffentlicht. Der Zuschauer
wird Zeuge eines offensiven Flirts und einer Verabredung im Cafe. Dass
der Protagonist den Altersunterschied bewusst wahrnimmt wird deutlich
durch seine Verwendung des Begriffes „Baby“. Eine der größten
aktuellen Gesellschaftsängste wird hier thematisiert: Ein Mädchen
lernt über das Internet einen älteren Mann kennen, flirtet und
lässt sich sogar auf ein Treffen ein. Die Fahrten in Aufzug und Auto
werden mit bedrohlicher Musik hinterlegt, Hayleys Blicke wirken nachdenklich
und bedrückt, zwischenzeitlich wird durch Verlangsamung die Spannung
gesteigert. HARD CANDY suggeriert, dass es sich bei Hayley um ein naives, junges Mädchen handelt, das einem Pädophilen in die Arme läuft. Dieser Eindruck wird in der nächsten Einstellung durch den ersten Auftritt des Mädchens optisch bestätigt. Sie probiert ungeduldig ihren Schokoladenkuchen, bevor sie auf ihrem Platz sitzt, ist überrascht als Jeff hinter ihr steht und hat noch Schokolade am Mund, was ihr scheinbar höchst unangenehm ist. Als sie ihrem „Date“ schließlich Kuchen anbietet und dieser sich von ihren Lippen bedient, schaut sie lächelnd und peinlich berührt zu Boden – durch solche Flirts wird seine Zuneigung zu jungen Mädchen offensichtlich, doch er bleibt selbstbewusst, lächelt, lehnt sich schließlich in einem Sessel entspannt zurück. Sie muss zu dem großen Mann aufschauen, wird schon durch Gestik und Mimik als schüchtern, zurückhaltend, unsicher dargestellt. Auch die Kostüme der beiden werden wirkungsvoll inszeniert. Er wirkt sehr gepflegt mit moderner Brille und Anzug. Sie hingegen trägt sehr auffällige Kleidung, Strumpfhose und Pullover sind rot, die trotz ihrer klar weiblichen Zuordnung (Rock und Armbänder), praktisch erscheint. Hayley wirkt umso mädchenhafter durch Kleidung, die nach einer Orientierungsphase aussieht. Die Kamera folgt Hayley in diesen Anfangsszenen – der Chat wird von ihrer Seite gezeigt, die Kamera zeigt Jeff leicht aus der Untersicht. Dadurch ist Hayley als Identifikationsfigur etabliert, der Zuschauer identifiziert sich durch die Kameraeinstellung mit dem Mädchen, sie wird dargestellt als klassischer „Opfertyp“: “The woman needs her protector, and the man needs his woman to protect. This parallels the very complementary nature of our idea about masculinity and femininity.” [11] Publikum und Protagonist glauben an die verführerische Unschuld des Mädchens. Jeff hat sie vorher über das Internet kennengelernt, glaubt, sie zu kennen und zu durchschauen. Hayley erzählt von Schwester und Vater, Musik und Büchern. Erst bei nachträglicher Betrachtung fällt auf, dass schon hier Hinweise auf die Entwicklung des Filmes gegeben werden. Der Zuschauer nimmt diese Details eher unbewusst wahr, kann ihre Bedeutung erst später hinterfragen. Nicht nur erhaschen Publikum und Jeff einen Blick auf das medizinische Buch, nach dem Hayley später vorgeben wird, die Kastration durchzuführen. Auch ihre Bücher liefern Hinweise: Sie liest Bücher, an deren Ende Menschen sterben. Dazu gehört Romeo und Julia, aber auch die Geschichte von Jean Seberg, die (laut Hayley) mit den falschen Männern schlief und sich selbst ermordete. Während Jeff dieses „Schicksal“ am Ende des Films teilen wird, gibt Hayley an, nur mit den richtigen Männern schlafen zu wollen. Außerdem werden bereits Jeffs Gesicht und ein Flugblatt mit Angaben zur vermissten Donna Mauer in einer Einstellung gezeigt und dann aneinander montiert, wodurch eine Verbindung vorausgesagt wird. Auf diese Weise vorgenommene Andeutungen werden erfüllt, doch was dem Zuschauer direkt und oberflächlich als Botschaft vermittelt wird, nämlich dass ein junges, naives Mädchen unbeabsichtigt in eine bedrohliche Situation geraten ist, wird als Lüge entlarvt. Stiglegger greift Überlegungen von Béla Balázs
auf: „Das wesentliche des Films geschehe stets in der Großaufnahme,
jene Einstellungsgröße, die am ehesten in der Lage sei, den
Blick des Zuschauers zu fesseln und zu lenken.“ [12] Das Publikum
wird also durch Großaufnahmen zu einer bestimmten Position verführt,
denn Film ist ein „Medium [...], das seinem Publikum eine spezifische
Perspektive aufzwingt, das dessen Bedürfnisse ergründet, mit
diesen spielt und sie letztlich meist bestätigt, um es zu –
verführen.“ [13] In HARD CANDY werden durch die Aufnahmen der
Gesichter Identifikationsfiguren erzeugt, deren sehr subjektive Wahrnehmung
angenommen wird. Nach Balázs wird auch das Innere des Menschen,
sogar das Unterbewusstsein, in der Großaufnahme sichtbar gemacht.
Von dieser Annahme und Erwartung der Zuschauer geht Slade aus, denn die
zahlreichen Großaufnahmen von Pages Gesicht sollen dem Publikum
als Informationsquelle erscheinen. Ohne die Grundannahme, dass sich die
„Seele“ im Gesicht widerfindet, wäre Hayleys Offenbarung
– ihr Verhalten sei nur Spiel gewesen – unspektakulär
und nicht überraschend. Da das Publikum jedoch darauf vorbereitet
ist, in Aufnahmen des Gesichts Intentionen und Gedanken lesen zu können
und zu müssen, lässt es sich täuschen, vergisst, dass Hayley
ein inszenierter Körper ist, der nicht unwillkürlich handelt.
Was durch die Darstellung der Körper und auch auf semantischer Ebene
als Wahrheit etabliert und akzeptiert wird, zweifelt Hayley in der Schlussszene
an: „Vielleicht heiße ich nicht einmal Hayley“ (Film
1:32:06). 3.2 Körperlichkeit als Symbol der Macht Eine seduktive Strategie des Filmes wird nicht nur vom Medium gegenüber dem Zuschauer, sondern auch von der Figur Hayley gegenüber Jeff angewandt, nämlich die „Fähigkeit des Films, den Zuschauer ganz zu vereinnahmen, ihn von einer vermeintlich festen Position A zu der zunächst nicht in Erwägung gezogenen Position B zu befördern.“ [14] Hayley weckt Jeffs Interesse, gar seine Begierde, aber auch sein Vertrauen. Er nimmt sie mit nach Hause. Doch gleichzeitig etabliert sich beim Publikum eine feste Annahme, die der Film demontiert. Als Hayley Jeff dazu gebracht hat, die Kamera in die Hand zu nehmen, inszeniert sie sich sehr drastisch auf seinem Sofa. Sie modifiziert ihren Körper, um bei ihm bestimmte Reaktionen hervorzurufen. Während die Kamera festhält, wie Hayley ihr Shirt auszieht, Gestik und Mimik sexualisiert, während sie selbstbewusst und vereinnahmend auf seinem Sofa tanzt, verändert sich die Inszenierung. Hayleys Stimme vermischt sich mit der Musik, fängt an zu hallen, viele Schnitte und Unschärfe erzeugen eine neue Wahrnehmung, die sofort als Jeffs erkannt wird. Dies wird zunächst als „krankhafte“ Auswirkung seiner Zuneigung, als Anzeichen der Begierde interpretiert. Die Darstellung des Mannes hat sich gewandelt: Er scheint zu schwindeln, ist nicht mehr entspannt und selbstbewusst, sondern eher hektisch. Mit der Kamera vor den Augen ändert sich schließlich auch sein Verhalten, befehlshaberisch herrscht er Hayley an, die innehält, sich zusammenkauert und ihn mit weit geöffneten Augen ansieht. Dies ist die letzte Einstellung, die Hayley in ihrer „Opferrolle“ zeigt. Für Jeffs Erwachen wird die Beleuchtung grundlegend geändert. Die Räumlichkeiten bleiben zwar gleich, wirken aber durch die blaue Farbe viel düsterer. Der Zuschauer erkennt dies als Farbpalette der Bedrohung, aber auch der Nacht, wodurch das Zeitgefühl nicht nur der betäubten Figur, sondern dem ganzen Film verloren geht. Auch in späteren Szenen ist es draußen immer heller Tag – die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Während des Aufwachprozesses blickt der Zuschauer zwar auf Jeff, doch wie zuvor scheint er die Umgebung wie die Figur wahrzunehmen. Die Szene wird als Dämmerung (auch im metaphorischen Sinne) wahrgenommen. Lichtstrahlen, die durch Farbe und Intensität surreal wirken, fallen auf Jeff und sind auch für das Publikum verstörend. Erst als die Figur wieder zu sich kommt, ändert sich die Beleuchtung und es wird deutlich, dass das Licht nur durch die Lamellen seiner Jalousie drangen, die wie ein „Vorhang“ Dinge versteckt, die verborgen bleiben sollen. In gewisser Weise fällt jedoch „Licht“ auf das Geschehen und auch verbal wird die Situation aufgeklärt – Hayley hatte Jeff betäubt und zwar zu lange, da sie die genaue Medikation nicht kannte. Die beschriebenen körperlichen Veränderungen Jeffs – Schwindel, schlechte Sicht, Orientierungsverlust – sind nun auch als Auswirkungen der Medikation interpretierbar. Das Mädchen steht dem Mann gegenüber, ihr Gesicht
ist halb im Schatten. Wieder wird es in Nahaufnahme gezeigt, doch wo vorher
Unschuld regierte, hat sich nun ein ernster Ausdruck etabliert. Hayley
wird teilweise als „Verrückte“ vermittelt. Dem Ratschlag,
man solle keine Getränke zu sich nehmen, die man nicht selbst gemischt
hat, ist sie vorher angeblich selbst gefolgt. Jetzt nennt sie es einen
guten Rat für alle und erlöst sich damit aus ihrer Rolle als
unschuldiges Mädchen, das sofort als Opfer wahrgenommen wird. Obwohl
Hayley nicht das Vergewaltigungsopfer war, durchläuft sie eine ähnliche
Veränderung: „Die Transformation des weiblichen Opfers zur
Täterin oft durch eine Steigerung und Ausweitung der geschlechtlichen
Uneindeutigkeit der Protagonistinnen inszeniert wird – sie werden
maskulinisiert und feminisiert/erotisiert.“ [15] Sie trägt
keinen Pullover mehr und hat ihren Rock durch eine Hose ersetzt. Diese
Transformation durch den Wechsel der Kleidung steigert sie noch, als sie
Jeffs Kleidung überzieht. Bei der Analyse von Actionfilmen erkennt Stiglegger: „Die Bewegung liegt also als eine Verzögerungstaktik zwischen der standardisierten Ausgangssituation und dem zum großen Teil vorprogrammierten und zu einem kleinen Teil unvorhersehbaren Ausgang des Geschehens“ [17]. Auch Naroni schreibt: “Violence seems to arrest the narrative as the viewer waits with tension and excitement for the outcome while immersed in the spectacle.” [18] Diese Strategie verwendet Slade in den Kampfszenen, denn tatsächlich erwartet der Zuschauer, dass sich die Machtverhältnisse umkehren. Nicht nur weil Jeff durch seine Männlichkeit als Gewaltsubjekt erkannt wird und der wohl körperlich Stärkere ist, sondern auch, damit die Narration vielseitiger und die Spannung erhöht wird. “The intertwined nature of violence and masculinity is one of the reasons the violent woman is so threatening: she breaks up this symbolic relationship between violence and masculinity.” [19] Dass die „Übermacht“ der Männlichkeit ausbleibt, verstößt gegen gesellschaftliche Konventionen und ist außerdem auf eine Art unerwartet, die den Zuschauer noch mehr vereinnahmt: „Gerade jene Momente werden vom potenziellen Publikum als besonders verstörend empfunden, wenn der Film 1. die Erfüllung des Begehrens – und damit dessen Anerkennung – inszenatorisch verweigert und 2. der Film einen Blick auf den Betrachter zurückwirft – von ihm also ebenfalls etwas zu fordern scheint.“ [20] Dass der Film auf den Zuschauer zurückblickt ist Teil der Ambivalenz, die der Zuschauer in HARD CANDY erfährt. 3.3 Die Schuldfrage als Ambivalenz Zu Beginn des Films wird insbesondere das Tabuthema Pädophilie
etabliert, schließlich kommt es jedoch zu eher ungewöhnlichen
Machtkämpfen, die in diesem Fall das „prototypische Opfer“
gewinnt. In Anbetracht der Erwägungen zu Genre und Zuschauererwartungen
entwickelt jedoch auch ein anderer Aspekt des Films seine seduktive Wirkung.
Der Trailer erweckt noch den Anschein, als wäre ein pädophiler
Straftäter entlarvt worden und sein Opfer oder eine nahestehende
Person würde die Rolle der Justiz übernehmen. Vorerst geht der
Zuschauer wahrscheinlich eher davon aus, die Justiz sei gescheitert und
die Selbstjustiz des Mädchens sei „gerechtfertigt“. In
HARD CANDY werden diese Annahmen jedoch negiert. Dass das Publikum einen
Täter sofort als solchen akzeptiert, wird als voreiliger Schluss
entlarvt und auch die Figur der Hayley ist schwieriger einzuordnen als
angenommen. Mit dem „gefesselten“ Zuschauer wird vor allem das Bild eines physisch zum Sehen Gezwungenen entwickelt. Stiglegger verweist über dies hinaus: „Der Zuschauer bekommt schmerzlich seine eigene Situation vor Augen geführt. Oder würde er sie ohnehin nicht verschließen? Medusas Spiegelbild hat offenbar eine verführerische Qualität ...“ [24] Während Jeff zwar ein tatsächlich gefesselter Zuschauer ist, müssen er und das Kinopublikum zum tatsächlichen Hinsehen nicht gezwungen werden. Jeff wird als Figur der Medien portraitiert. Dies beginnt durch seine Darstellung als „die andere Seite“ in einem Chat, er ist außerdem Fotograf, hat Foto- und Videokameras in seinem Haus und schließlich ist er ein Voyeur, der anzügliche Bilder von Kindern besitzt und sogar die misshandelte Donna Mauer aufnehmen wollte. Selbst seine Brille wird als Medium thematisiert, als Hayley sie trägt, während sie über Jeffs Verstecken hinter den Medien spricht. Der Protagonist kann sich dem Sehen-wollen nicht entziehen, er braucht sichtbare Beweise für seine Beteiligung an Donnas Ermordung und sein Verhalten ändert sich, wenn er sich hinter Medien verstecken oder durch sie gar „anonymisieren“ kann. Über dies wird der Zuschauer direkt angesprochen. Reifenberger erkennt in neueren Rape-Revenge einen Anstieg selbstreflexiver Elemente: "Figuren des Voyeurs und des Zeugen der Vergewaltigung, die als On-screen-Repräsentanten der Zuschauer_innen eine moralische Dimension des Betrachtens sexualisierter Gewalt thematisieren. Sie verdoppeln die Blicke des Publikums und werfen damit den Blick zurück auf die Rezipient_innen des Films, die sich in Bezug auf die sexualisierte Gewalt innerhalb der Handlung in der gleichen voyeuristischen Position befinden wie die Filmfiguren." [25] In HARD CANDY gibt es keine Vergewaltigungsszene, doch Jeffs wird eindeutig als Voyeur gezeigt. Das Publikum nimmt ebenfalls durch ein Medium, den Film, am Geschehen teil. Freiwillig sieht es den erschreckenden Ereignissen zu, ohne zu handeln – wie der Protagonist. Der Film wird sogar nur zum Vergnügen gezeigt, oder wie es Naumann formuliert: " Wir als externe Zuschauer genießen nur scheinbare Anonymität gegenüber dem Werk. Der Kommentar des Regisseurs liegt in der Überbrückung der Distanz zwischen Rezipient und Film und führt uns in erschreckender Weise vor Augen: Der Film existiert für uns, und der Mord an der Filmfigur geschieht zu unserer Unterhaltung." [26] Wie der Protagonist wird der Zuschauer als Voyeur entlarvt, die Seduktion erkannt. „Ein Publikum kann unter dem Deckmantel vorgeblich unantastbarer Kunstformen heimlich seinem Vergnügen an blutigen, ästhetisch drapierten Schauwerten frönen“ [27]. Auf der Suche nach Beweisen eignet Hayley sich Jeffs Haus
mit ihrem ganzen Körper an, zerstört seine Privatsphäre.
Die Kamera folgt ihr dabei, wie sie über das Sofa läuft, Bilder
abhängt, unter dem Bett und im Nachttisch sucht, bevor sie sich zurückzieht
in einen Sessel, wo sie Musik hört. Entscheidend ist in dieser Situation
noch, dass Hayley keinen Erfolg hat, keinen Beweis für Jeffs Pädophilie
finden kann. Dies ist nur möglich, indem sie als ratlos und unsicher
inszeniert wird. Ihre hektischen Bewegungen wirken panisch, je länger
ein Erfolgserlebnis ausbleibt, umso verzweifelter und schneller, aber
auch unorganisierter scheint sie zu suchen. Hält sie inne, schlägt
sie die Arme über dem Kopf zusammen oder ihren Körper gegen
die Wand. Ihre Geschwindigkeit kann als Flucht gesehen werden, als Flucht
vor der Tatsache, dass sie keine Beweise finden kann, weil Jeff tatsächlich
unschuldig ist. Erst in der nachträglichen Reflexion kann eine neue
Ebene in diesem Vorgehen gesehen werden – Hayley weiß bereits,
dass Jeff schuldig ist und was genau er getan hat. Sie zweifelt keinesfalls
an seiner Schuld. Ihre Hektik ist vielmehr die Ungeduld einer Jägerin.
Ihr Plan, der Selbstmord des Pädophilen, ist jedoch womöglich
in Gefahr – sie braucht ein Druckmittel, das er akzeptiert. Ob sie
Beweise sucht, die später der Polizei und Jeffs „Freundin“
Janelle den Selbstmord erklären und den Protagonisten öffentlich
als pädophil identifizierbar machen, muss der Zuschauer festlegen.
Jeffs schlimmste Ängste sollen sich endgültig bewahrheiten,
außerdem spekuliert Hayley auf eine nachlässige Suche, wenn
die Tat akzeptiert wird. Shaviro erkennt die Seduktion des Films an, gesteht dem Film zu, dass er das Denken fesseln und bestimmen kann, und verweist auf die Wehrlosigkeit des Zuschauers. Trotzdem will er das Medium nicht als negative Manipulation verstehen. Zwar werden die Bilder sehr schnell gezeigt, sodass eine gleichzeitige Reflexion schwer möglich ist, andererseits spielen Erwartungen und bekannte Muster des Films eine Rolle bei der Rezeption. Es „erscheint das filmische Bild als das Andere, das einen Blick auf den Betrachter zurückwirft. Das kann als kalkulierter Teil der Inszenierung erfolgen – quasi metafilmisch – oder ganz grundsätzlich geschehen: indem der Film die Erwartungen des Publikums affirmiert oder bricht.“ [29] Diese Beziehung zwischen Zuschauer und Medium macht auch HARD CANDY facettenreicher. Jeffs Kastration beispielsweise wird als Element von Rape-Revenge-Movies erwartet. Einerseits verlässt sich die Darstellung darauf, dass der Zuschauer dem angedeuteten Kamerabild einer Kastration (wie Jeff) glaubt. Andererseits reflektiert das Medium seine eigene Rolle und Macht, indem mit den Erwartungen gebrochen wird. Durch die „Kastration“ wird Jeff äußerlich „transformiert“ zum Anderen. Hier wird die Frage behandelt, was abnormal ist – seine Pädophilie verdrängt er, doch Hayley gibt vor, seinen Körper dieser „Geisteskrankheit“ anzupassen. Über diesen „Eingriff“ in seine Körperlichkeit entwickelt sich Jeffs Selbsterkenntnis: „Der bin ich. Du hast mir geholfen, das zu erkennen“ (Film 1:29:18). Gegen die Akzeptanz der Legitimation von Gewalt spricht
jedoch die Tatsache, dass Hayley nicht das Opfer der Vergewaltigung ist.
Dadurch rächt sie sich nicht an ihrem eigenen Vergewaltiger und muss
sich auch nicht therapieren, also von physischer und psychischer Verletzung
erholen. [30] Daraus resultiert die Frage, ob die Rache noch als legitim
verstanden werden kann, ob die Protagonistin selbst „lediglich“
Gewalttäterin ist und einen Anlass sucht. Die Vergewaltigung findet
vor Beginn des Films statt, damit die Frage nach Täterschaft und
Schuld lange offen bleibt. An dieser Stelle spielen sichtbares Alter und
Geschlecht eine Rolle, der Zuschauer ist sowohl gewillt, das Mädchen
als unschuldiges Kind zu sehen, als auch das pubertäre Mädchen
für verrückt zu halten. Auch wenn bereits deutlich wurde, dass
der Fotograf pädophil ist, so ist seine Schuld an einer konkreten
Vergewaltigung, oder sogar einem Mord weiterhin fraglich. Der Film greift ein eigentlich altes Muster auf: Die vergewaltigte Frau, hier Donna, stirbt und wird gerächt. “On the one hand, we want to preserve our society against the threat of the violent woman, but, on the other hand, her threat excites us because it involves overturning the ideological structures (most especially those involving gender) that regulate our experiences.” [32] An die Stelle der männlichen Familienangehörigen, die ursprünglich die Rolle des Rächers übernahmen, tritt ein anderes Mädchen, eine als weibliches „Kind“ sonst in Gewaltszenen passive Figur. Allerdings ist anzumerken, dass sie womöglich das Opfer weder kennt, noch mit ihr verwandt ist. Während der männliche Verwandte eher den Diebstahl eines Objekts, denn die Frau war Teil des Besitzes, rächte, will Hayley tatsächlich für die Tat strafen. Da sie jedoch weder Männlichkeit zu beweisen, noch eine Frau zu beschützen hat, findet ihre Gewalt so keine Rechtfertigung. Die gesellschaftliche Abneigung gegen Pädophile tritt an diese Stelle. Ohne persönliche Verbindung und als „alle Mädchen“ wirkt sie als höhere Instanz. Hayley selbst rechnet nicht damit, verfolgt zu werden, da sie der Gesellschaft einen Gefallen tue. Gemessen an ihrer sonstigen Menschenkenntnis und ihren ausgefeilten Plänen, wird auch diese Vermutung ihre Berechtigung haben, denn sie hat es zu diesem Zeitpunkt schon in einem anderen Fall herausgefunden. 4. Fazit Der bereits zitierte Satz „Vielleicht heiße ich nicht einmal Hayley“ aus der Schlussszene ist nicht nur als an die andere Figur gerichtet zu verstehen. Das Mädchen richtet sich damit auch an das Publikum, das wie Jeff als leichtgläubig offenbart und bloßgestellt wird. In Gesellschaft und Filmkonvention gefangen, haben die Zuschauer ein solch durchdachtes, aber auch kaltblütiges Verhalten nicht erwartet. „Hayley“ und damit die Inszenierung hatte bis zum Schluss Informationen zurückgehalten. Jede verständnisvolle, emotionale Aussage muss noch einmal hinterfragt werden – und somit gleichzeitig jede Aufnahme aus Hayleys Perspektive. Es war alles Schauspiel, nicht nur das Verhalten in der Eingangsszene. Die Selbstinszenierung des Mädchens verweist auf die Inszeniertheit des Films und der Darsteller, Stiglegger sagt dazu, dass „Film zunehmend seine eigenen Mechanismen reflektiert und zum eigentlichen Thema macht“ [33], was auch in HARD CANDY seduktiv wirkt, denn auf diese Weise ist keine Figur mehr verlässlich. Wer Hayley tatsächlich ist, was zu ihrer Körperlichkeit, ihrem Charakter gehört, wird nicht geklärt. Der Zuschauer verbleibt mit ihrer Aussage „Ich bin alle Mädchen“, die das Geschehen übertragbar macht, die Figur aber verschwinden lässt. Der Film hinterfragt in gewisser Weise die Seduktion. Die Figur des Täters Jeff ist im Umgang mit den Medien auf ihre passive Rolle beschränkt, erkennt erst zum Schluss die aktiv gewaltbereite Seite. Er ist nicht in der Lage, sich von Medien abzuwenden, auch wenn er sie gleichwohl „missbraucht“. Gleichzeitig ist der Zuschauer passiv, nimmt das Geschehen medial wahr. Auch die Frage nach der Normalität ist auf der Metaebene erkennbar. Während die zu Beginn gezeigten Stereotype sympathisch und „normal“ wirken, offenbart sich schnell, dass ein Normalzustand eigentlich nicht existiert. Die gesellschaftliche Norm kann akzeptiert und befolgt, aber auch durch Maskerade umgangen werden. Letzteres trifft auf beide Protagonisten in HARD CANDY zu. Die Figuren begehen Taten, die von der Gesellschaft als unnormal verachtet werden würden. Wie bereits Neroni aufzeigt, versucht das Publikum (bei unerwarteten, sympathischen Gewalttätern) die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten und sucht eine Legitimation. Das abweichende Handeln, die Thematisierung gesellschaftlicher Tabus, wird zur Seduktion genutzt. Die Ambivalenz des Zuschauers ist die zugrundeliegende seduktive Strategie. Das Publikum kann in HARD CANDY nicht die erwarteten Gegensätze finden: Die Entscheidung, ob „gut“ und „böse“ existieren und wer sich zuordnen lässt, ist schwer zu treffen. Die Körperlichkeit in Gewaltszenen hat einen eigenen seduktiven Gehalt, der jedoch durch die Ambivalenz, die auf der Erzählebene aufgebaut wird, erst interpretierbar wird. “Even those most stylized violent films need narrative in order to exist, because narrative provides the background through which the violence acquires its significance and meaning” [34]. Solange die Gewalt als Strafe oder Rache ausgeübt wird, hat der Zuschauer ein anderes Verhältnis dazu. Sie kann als „begründete“ Selbstjustiz legitimiert werden, da Jeff sonst nie bestraft worden wäre. Oder als allgemeine Revolte gegen Pädophilie. Wenn Hayley jedoch als unvernünftige, unorganisierte Teenagerin oder gar psychopathische Serientäterin erscheint, ändert sich auch ihre Akzeptanz. Diese Frage wird jedoch nicht beantwortet. Sie kann als Rächerin angenommen werden, doch ihre Aussage, dass vier von fünf Ärzten sie für krank halten, gepaart mit ihrem Handeln, sprechen dagegen. Obwohl Gewalt in der Regel aus moralischen Gründen abgelehnt wird, kann die Erzählung neue Bedeutung zuschreiben. Eine Legitimation bleibt für beide Charaktere denkbar, die jedoch gleichermaßen „unmoralisch“ handeln. Diese Ambivalenz wird nicht aufgeklärt und kann keine Auflösung finden. Der Tod des Protagonisten wird schließlich auf eine besondere Art inszeniert: Als eternal instant wird die Verlangsamung im Sterben bezeichnet, wodurch Details sichtbar werden und die meist vorangehende Bewegung zu einem Stillstand kommt. [35] In Zeitlupe wird Jeffs „Gang“ in den Tod gezeigt, der nun die Macht gänzlich Hayley zukommen lässt. Das hyperreale Geräusch der Steine unter ihren Füßen beendet diese stille Langsamkeit und „weckt“ den Zuschauer – das vorherige Geschehen wirkt dadurch irreal. Durch die Farbe ihrer Jacke und die Form der Kapuze weckt Hayley vor allem in der Schlusssequenz Erinnerungen im Zuschauer – das Mädchen wird als Rotkäppchen identifiziert. Es wäre noch interessant, herauszustellen, wie dieser Subtext (auch der des Lolitakomplexes) genutzt und schließlich negiert wird. Die Szene gibt dem ganzen Film eine märchenhafte, mythische Aura (das letzte Lied lässt Hayley sogar als Engel, wenn auch als Racheengel erscheinen), die dem Publikum eine Distanzierung ermöglichen, oder es erforderlich macht, die Wahrnehmung von Märchen und Mythen zu revidieren. Literatur Naumann, Kai: Der ,gefesselte‘
Zuschauer – Leidvolles Sehen in Dario Argentos „Opera“.
In: André Barz / Gabriela Paule (Hg.). Der Zuschauer. Analysen
einer Konstruktion im theaterpädagogischen Kontext. Berlin [u.a.]:
Lit Verlag 2013, S. 69-88. Reifenberger, Julia: Girls with Guns. Rape & Revenge Movies: Radikalfeministische Ermächtigungsfantasien? Berlin: Bertz + Fischer, 2013. Shaviro, Steven. The Cinematic Body. 5. Ausgabe. Minneapolis [u.a.]: Univ. of Minnesota Press 2006. Stiglegger, Marcus. Augen/Blick. Überlegungen zum Motiv des Auges im Film. http://www.rabbiteye.de/2011/3/stiglegger_auge.pdf. 2.3.2014. Stiglegger, Marcus: Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film. Berlin: Bertz + Fischer, 2006. Film Alle weiteren Zitate, sowie die Abbildungen stammen aus dem Film: Hard Candy (US 2005, R: David Slade). Anmerkungen [1] Stiglegger 2006, S. 9. Veröffentlicht: 24.3.2014 |
|