„All of them witches“

Eine Hommage an Roman Polanskis „Rosemary’s Baby”

von Kai Naumann

 

a. Laokoon und der Teufel – Die Kunst des Verbergens

In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts machten Horrorfilme okkulten Inhalts einen hohen Prozentsatz kommerzieller Hollywoodproduktionen aus und förderten und formten somit das Image diabolischer Erscheinungsformen im Kino. Zu den wichtigsten und bekanntesten Vertretern dieser Gattung gehört neben William Friedkins „The Exorcist“ (1973) und Richard Donners „The Omen“ (1975) vor allem Roman Polanskis „Rosemary’s Baby“ (1967), der die Hauptwelle jener berühmten Teufelsfilme einleitete. Bezeichnend für diese Reihe von teuren und ambitionierten Produktionen ist die weitgehende Vermeidung der Konkretisierung des visuellen diabolischen Grauens. Stattdessen wird eine allgemeingültigere und somit unsichere, mehrdeutige und unheimliche Atmosphäre geschaffen. Der Teufel tritt niemals als das Wesen in Erscheinung, das wir aus der volkstümlichen Überlieferung kennen. Wenn er sich zeigt, dann tut er dies in Vertretung konkreter Mächte oder Menschen oder wird im äußersten Fall mehr erahnbar als sichtbar. Seine Bedrohlichkeit wird durch diese Form der Andeutung also weit mehr verstärkt als durch seine alle Geheimnisse offen legende körperliche Präsenz.

Unter diesem Aspekt reihen sich also die ernst zu nehmenden Beispiele von Filmen mit satanischer Thematik nahtlos in die Liste derjenigen Kunstwerke ein, die sich in dem von G.E. Lessing in seinem 1766 erschienenen Werk „Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie“ geprägten Begriff des „fruchtbaren Augenblicks“ wiederfinden.

„Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Grenze scheuet.“

Das von Lessing gewählte anschauliche Beispiel der berühmten Plastik „Laokoon-Gruppe“, deren Figuren in ihren Emotionen sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart und Zukunft gleichzeitig widerspiegeln, sich also im Zentrum des „fruchtbaren Augenblicks“ befinden, kann neben seinem Status innerhalb der Kunst auch für unsere Beschäftigung mit der Darstellung des Teufels im Film sehr hilfreich sein, wie wir im Weiteren sehen werden. Der mythische, von Schmerz erfüllte Laokoon wird in der „Laokoon-Gruppe“ unmittelbar vor seinem Schrei gezeigt, den uns der Künstler jedoch nicht in der Darstellung sehen, sondern, - und das ist weitaus effektvoller -, in uns selbst erfahren lässt. Auf der Schwelle zur Klimax versagt uns das Kunstwerk die objektive Katharsis durch Weglassung des Zieles, das angesteuert wurde. Das Ergebnis ist eine phantasievolle und selbstschöpferische Weiterarbeit des Betrachters, in dessen Geist sich der zu erwartende Schrei des Laokoon nun ereignet oder auch nicht. Der „fruchtbare Augenblick“ ist also ein Moment in der Erfahrung einer Kunstschöpfung, in der der Rezipient selbst zum Schöpfer wird und so seinen eigenen Kosmos kreiert.
„Auch das ist unstreitig, dass eben hierin, wo ein Halbkenner den Künstler unter der Natur geblieben zu sein, das wahre Pathetische des Schmerzes nicht erreicht zu haben, urteilen dürfte; dass, sage ich, eben hierin die Weisheit desselben ganz besonders hervorleuchtet.“
Gerade der Horrorfilm, zu dessen Genre wir den Teufelsfilm hier zählen müssen, mit seiner Hinwendung zu physischen Darstellungen mit dem Ziel, den gewünschten Schrecken beim Zuschauer zu entfachen, ist der Prototyp für eine gewinnbringende Nutzung der Lessingschen Lehre für das Medium Film. Mit anderen und einfacheren Worten ausgedrückt lässt sich festhalten: Der wahre Horror beginnt zwar auf der Kinoleinwand, endet aber im Kopf des Betrachters.

 

„Rosemary’s Baby“ ist eines dieser filmischen Beispiele, die voll und ganz in der Tradition von Lessings „Laokoon“ stehen. Über die gesamte Spielfilmlänge hinweg verlässt der Zuschauer niemals die subjektive Erlebniswelt der Protagonistin Rosemary Woodhouse und muss sich so, auf dem gleichen Kenntnisstand wie sie, vorwiegend auf seine eigenen Gedanken, Ideen, Vermutungen und Erfahrungen verlassen. Die große Stärke von Polanskis Film, die ihn von vielen Exploitation-Werken dieser Gattung und auch von Ira Levins Romanvorlage unterscheidet, ist die Strategie der Aussparung und Vermeidung. Dadurch entsteht eine effiziente Mehrdeutigkeit des Geschehens, die in ihrer jeweiligen Auslegung uneingeschränkte Berechtigung verdient, eben weil sie, - um bei Lessings „Laokoon“ zu bleiben -, aus der Kreativität und Mitarbeit des Zuschauers entsteht, also aus der fruchtbaren Option der Handlungsführung nach eigenem intellektuellen Verständnis und Identifizierung mit der Hauptfigur.

„Nach der 'Zeugung’ bezieht Polanskis Inszenierung ihre verstörende Spannung gerade aus der stetigen Doppeldeutigkeit: Die rationale Erklärung (eine neurotische und paranoide Verengung von Rosemarys Wahrnehmung) steht der dramaturgisch konsequenten, aber völlig irrationalen Verschwörungstheorie gleichberechtigt gegenüber.“

Diese parallel verlaufenden Interpretationsmöglichkeiten sind es, die „Rosemary’s Baby“ so interessant machen und von anderen Genrebeispielen dieser Zeit deutlich abheben. Polanski intensiviert diese Mehrdeutigkeit des dramaturgischen Geschehens, indem er über weite Strecken der Handlung auf die nicht rational zu entschlüsselnde Form einer Traumlogik zurückgreift, in der, vergleichbar mit Lessings „Laokoon“, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Protagonistin nebeneinander existieren, sich gegenseitig durchdringen und sich in Form metaphorisch-mystischer Bilder nach außen präsentieren. 'Außen’ erscheint hier gleichbedeutend mit dem Bewusstsein Rosemarys, das für den Zuschauer die einzige Orientierung und das Maß aller Dinge ist, welches die Richtung und Wendungen der Geschichte bestimmt. Das Publikum sieht sich zunehmend mit einer Mischung aus subjektiver Sicht Rosemarys und seiner eigenen konfrontiert. Dieses Zusammenwirken treibt die Spannung effektiv voran, da der Betrachter gewahr wird, dass er trotz persönlicher Empfindungen und Vermutungen ein ständiger Begleiter der Protagonistin ist und keine Chance sieht, sich durch Perspektivwechsel aus dieser bedrohlichen und unsicheren Deckungsgleichheit zu lösen, um das ständig präsente Unbehagen, das von Rosemarys Situation ausgeht, zu relativieren. „When the conclusion comes, it works not because it is a surprise. Rosemary makes her dreadful discovery, and we are wrenched because we knew what was going to happen – and couldn’t help her.”

Die Figur des Teufels scheint im Zuge dieser Betrachtungen eine eher untergeordnete Rolle zu spielen, da sich das schwer greifbare und daher so fruchtbare Grauen (vgl. Lessings „Laokoon“) eben scheinbar ganz in Rosemarys augenblicklicher von Furcht heimgesuchter Lebensphase manifestiert, aus der wir keine befriedigende Antwort schöpfen können, ob die Ursache für Rosemarys Panik in aufkommendem Verfolgungswahn begründet liegt, oder ob tatsächlich eine äußere Bedrohung besteht. Doch der Teufel ist da, auch wenn er, wie wir schon festgestellt haben, im Verborgenen operiert. Seine körperliche Präsenz wird lediglich angedeutet und lässt sich nur vermuten. Selbst die Beischlafszene, in der er als Inkubus auftritt, ist in einen Traum Rosemarys eingebettet und hält so selbst im scheinbar Expliziten die Lessingsche Tradition aufrecht. „Der Traum zeigt , dass Rosemary in einem lethargischen Schlaf […] Dinge aufnimmt und zulässt, vor denen sie sich unter normalen Umständen sträuben würde. Im Traum aber ist das Unmögliche möglich. So ist dort auch der angedeutete Auftritt einer infernal-transzendenten Gestalt plausibel – in diesem sonst so überaus realistisch inszenierten Film.“

Satans böser Geist schwebt unentwegt über dem Geschehen und seine menschlichen Repräsentanten überwachen das Schicksal des auserwählten Ziels seiner Pläne. Das ältere Ehepaar Castavet symbolisiert das Zentrum der diabolischen Macht, die Rosemary heimsucht, und bildet den Vorstand des satanischen Zirkels in New York. Roman Castavet stellt dabei den Vertreter Satans auf der Erde dar. Die Legende des Films baut ihn als Sohn des berüchtigten Hexenmeisters Adrian Marcato auf, der ebenfalls dunkle Rituale zur Beschwörung des Teufels veranstaltete. Der tatsächliche Name Romans wird im Laufe des Films schließlich als Steven Marcato entschlüsselt.

Ruhelosigkeit und Reiselust ist es, was Roman Castavet zunächst objektiv charakterisiert. Er bezeichnet sich selbst als weitgereisten Menschen und es gebe mit Sicherheit keinen Ort auf der Welt, den er noch nicht besucht habe; „I’ve been everywhere literally. You name a place, I’ve been there“ . Deutlich werden Castavet hier vom Film dämonische Wesenzüge zugeschrieben, die in ihrer Vorliebe für Geschwindigkeit, das häufige Wechseln der Aufenthaltsorte und damit einhergehende Omnipräsenz an Mephisto erinnern, der sich mit Faust ebenfalls auf eine makrokosmische Reise begibt. Doch trotz aller scheinbaren Offensichtlichkeit bleiben diese Assoziationen der subjektiven Natur des Zuschauers vorbehalten. Alle Eindrücke und Verbindungen mit den im Film auftretenden Charakteren bleiben Vermutungen und bilden damit die Bausteine des Geschehens, das sich in wiederholender Form stets als unsicher, damit aber als durchweg fruchtbar erweist. Abgesehen von Rosemary, deren Subjektive der Zuschauer einnimmt, stehen ausnahmslos alle bedeutenden Figuren des Films ganz in der Tradition Lessings. „Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichern, folglich uninteressantern Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst ächzen, oder sie sieht ihn schon tot.“
Die Umwelt Rosemarys entpuppt sich im Laufe der Handlung immer mehr als Kulisse, vor der jede Figur die ihr zugedachte Rolle spielt, ohne dass eine eingehende, tiefgründige Entschlüsselung der wahren Identität möglich wäre. Das Ehepaar Castavet fungiert dabei als Prototyp jener auf bloßem Schein basierenden Objektivitäten. Die beiden etwas verschrobenen, neugierigen, aber liebevollen Menschen mutieren am Schluss des Films zu den Drahtziehern der Verwicklungen, bei denen alle Fäden des Übels zusammenlaufen. Doch auch innerhalb dieser letztendlichen Gewissheit, an der Quelle des Bösen angekommen zu sein, verweigert uns Polanski die nun erhoffte Sicherheit. Als Vorsteher des satanischen Zirkels ist Roman Castavet eine Autorität. Dennoch gerät er auch in diesem Erscheinungsbild nicht zu einer Person, die man als böse bezeichnen könnte. Er bleibt ein Mensch, ebenso wie die vielen anderen Mitglieder der dunklen Vereinigung. Satans Jünger sind Menschen von nebenan aus verschiedenen Kulturkreisen. Es sind Menschen höheren Alters, also mit der Zuschreibung von Reife und dem Bewusstsein genauen Reflektierens ihrer Taten.

Die Kunst des Verbergens und Verwirrens offenbart sich in keiner Szene des Films so deutlich wie in der Schlusssequenz, in der Rosemary die schreckliche Wahrheit über die Menschen in ihrer Nähe erfährt und zum ersten Mal das neugeborene Kind erblickt. Beinahe an Übertreibung grenzend und nicht ohne leichtes Augenzwinkern präsentiert sich die Wohnung der Castavets mit Bildern brennender Kirchen an den Wänden, einer pechschwarzen Wiege mitten im Zimmer und einem umgedrehten Kreuz darüber. Doch auch in dieser scheinbaren Offenlegung aller Geheimnisse verlässt „Rosemary’s Baby“ die Theorie des „Laokoon“ nicht. „Dennoch scheint Polanski die letzte Sicherheit und Bestätigung – den Anblick des Satanskindes – verweigern zu wollen. Daß keine einzige Szene des Films Rosemarys subjektive Erlebniswelt verlässt […], dass sich William Frakers Kamera innerhalb der Wohnung öfter in Bauch- statt in Augenhöhe aufhält, dass Krzysztof Komedas musikalisches Leitmotiv einer Kindermelodie eine befremdend offene harmonische Struktur unterschiebt, ist sämtlich Ausdruck eines virtuosen Umgangs mit den filmischen Mitteln: Die Vermeidung des Eindeutigen, die subtile Verwirrung der Sinne sind Programm.“
In diesem Sinne bewegt sich „Rosemary’s Baby“ nicht nur in der Tradition Lessings und seiner Theorie vom „fruchtbaren Augenblick“, sondern auch in der des russischen Formalismus, allen voran der Viktor Sklovskijs. Polanski überträgt dessen Theorie über die Automatisierung der alltäglichen Sprache gekonnt auf das Medium Film. Innerhalb der Verfremdung bestimmter Bilder wird beim Zuschauer eine neue Form der Empfindung bekannter, alltäglicher Ereignisse in Gang gesetzt. Wir schauen hinter die Kulissen von Rosemarys Welt und sehen mit ihren Augen, wie sich der Vorhang der Ungewissheit lüftet und durch die sich herausstellende Verfremdung den Blick auf das freigibt, was wirklich geschieht und was schon immer da war. Das Dunkle, Böse, Satanische offenbart sich gerade in dieser Verfremdung alltäglicher Normen.

Die Szene der ersten Begegnung Rosemarys mit ihrem Baby im Wohnzimmer der Castavets ist vom Kunstgriff der Verfremdung durchzogen. Nicht nur das bereits erwähnte Interieur sorgt dafür, alltägliche Verhältnisse in einem neuen, verzerrenden Licht zu sehen, sondern auch die Anordnung der in dieser Szenerie agierenden Figuren spricht eine deutliche Sprache. Polanski präsentiert hier seine persönliche ironische Version der heiligen Familie. Rosemary ist Maria, die Mutter des Neugeborenen, - vor allem ihr blauer Mantel, der in der Kunst ein gängiges Zeichen Marias ist, verstärkt diesen Eindruck -, und in ihrem Mann Guy kann man deutliche Züge des Joseph wiederentdecken. Wie der Mann Marias in der Heiligen Schrift fällt auch Guy in „Rosemary’s Baby“ keine Funktion mehr zu, als aus dem Leben Rosemarys und ihrem Sohn lautlos zu verschwinden bzw. nicht weiter wichtig zu sein. Im Film wird dieser Punkt sogar noch deutlicher vollzogen, indem Rosemary Guy ihre Verachtung deutlich spüren lässt, als sie ihm als Schlussstrich seines Daseins in ihrer Biographie ins Gesicht spuckt und ihn somit radikal von sich entbindet. Auch die Verehrer und Besucher des neuen Säuglings sind moderne Vertreter der Hirten und der heiligen drei Könige, die von weither kommen, um dem Messias zu huldigen.
Die mise-en-scène verlässt auch hier niemals ihre fruchtbare Stärke. Die erhoffte Katharsis, der Anblick des Teufelskindes, bleibt dem Zuschauer verwehrt. An Rosemarys entsetzten Augen und ihrer panischen Reaktion nach dem Blick in die schwarze Wiege meinen wir doch zu erahnen, was sie dort erblickt. Der Effekt des Selbstdenkens, den die „Laokoon-Gruppe“ begünstigt, wird hier so stark verdeutlicht wie an kaum einer anderen Stelle des Films.
„Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer: so muß er nichts ausdrücken, was nicht anders als transitorisch denken läßt.“

Methoden der Verfremdung bekannter Rituale oder Mythen und der Focus auf die Fruchtbarkeit der Darstellung vermischen sich in dieser Szene zur Quintessenz des gesamten Films und zum Schlüssel zur Wahrnehmung des Bedrohlichen, Bösen und somit Satans. Satan ist durchweg präsent, offenbart seine Gegenwart jedoch nur in eben jenen Szenen wie der zuvor beschriebenen. Sein Reich liegt im Verborgenen, wird jedoch durch seine menschlichen Vertreter auf der Erde repräsentiert. Durch ihre Hilfe gelingt es dem Teufel, selbst Mensch zu werden, denn nur so lässt sich sein Vorhaben, Gottes Schöpfung zu unterwandern, effektiv durchführen.

Das verfremdende Element schärft den Blick für die Wahrheit hinter den scheinbar offensichtlichen Dingen, die Rosemary, und damit auch uns selbst, umgeben. Dort begegnen wir dem Diabolischen und erkennen, dass es die ganze Zeit, in der wir uns auf sicherem Terrain gewähnt haben, an unserer Seite gegangen ist. Das Böse hat seine finsteren Pläne mit uns, und die ungestörte Reifung im Verborgenen ist seine größte Stärke.

 

b. Der Antichrist in New York

„Rosemary’s Baby“ entlässt den Zuschauer mit einer Mehrdeutigkeit von Gefühlen. Objektiv betrachtet präsentiert der Film einen versöhnlichen Schluss, da er suggeriert, dass Rosemary sich freiwillig in ihre Mutterrolle fügt und sich liebevoll, - das berühmte Lullaby im Abspann macht dies sehr deutlich -, ihres Kindes annimmt. Gleichzeitig sind wir uns aber darüber im Klaren, dass es der leibhaftige Sohn des Teufels ist, den sie nun gewillt ist aufzuziehen, und auch die vorherigen Worte Roman Castavets über dessen Bestimmung werfen ein bedrohliches Licht auf den Säugling: „Satan is his father, and his name is Adrian. He shall overthrow the mighty and lay waste their temples. He shall wreak vengeance in the name of the burned and the tortured!”

Die Geburt des neugeborenen Kindes Adrian läutet also in Bezug auf theologische Schriften zur bevorstehenden Apokalypse unmissverständlich die Ära des Antichristen ein, der als ein Vorbote der Vernichtung der Welt, wie wir sie kennen, auftritt. „Die Definition des Antichrists ist vieldeutig: Er wird in den Texten als der Teufel selbst dargestellt oder als Sohn des Teufels (filius diaboli), als ein Mächtiger der Erde erfüllt vom Bösen (rex iniquus), als eine gegen den Messias und den beim Jüngsten Gericht triumphierenden Christus stehende Gestalt oder als ein Mensch, in dem sich der Teufel inkarniert.“ Die Quelle, auf die sich die meisten (eher trivialen) literarischen und filmischen Versuche über das Erscheinen und Wirken des Antichristen stützen, ist die „Offenbarung des Johannes“, obgleich dort der Terminus „Antichrist“ niemals gebraucht wird. „Im NT finden sich die detailliertesten Aussagen über das endzeitliche Wirken des A[ntichristen] in der Offenbarung […]. Im strengen Sinne wird man als A. jedoch nur das „erste Tier“ aus Offenb. 13,1-10 bezeichnen dürfen […]; wie Christus von Gott, so hat es seine Vollmacht vom Teufel (Offenb. 13,2)“ . Nach einer Gleichsetzung von Antichrist und Teufel sucht man jedoch im gesamten Neuen Testament vergeblich.

Eine andere, explizitere Vorstellung liefert Adso von Montier-en-Dur, der mit „De ortu et tempore antichristi“ eine Vita des Antichristen formuliert. Mit genauem Blick auf biblische Verweise, die auf unterschiedliche Stationen im Wirken dieser Figur hindeuten, gelingt es Adso, die Grundzüge einer Antichristlegende aufzustellen. Wie bereits erwähnt, erregen Quellen wie diese aber im Vergleich zur „Offenbarung“ wenig Interesse der Belletristik und des Films.
Für die Übernahme der Thematik „Antichrist“ in das Medium Film können viele Beispiele herangezogen werden, von denen aber mit Sicherheit „Rosemary’s Baby“ (1967, Roman Polanski) und „The Omen“ (1975, Richard Donner) zu den bekanntesten gehören. Beide Male ist es ein Kind, das die Verkörperung des Bösen und die Menschwerdung Satans symbolisiert. „Das Bild eines vermenschlichten A[ntichristen] ist Allgemeingut des ganzen M[ittel]a[lters] und wird von der lateinischen und volkssprachlichen Literatur vielfach aufgenommen (Ludus des Antichristo, Cursor Mundi, The Prick Of Conscience …).“ Der christliche Mythos, der sich um diese Figur rankt, wird jedoch in „The Omen“ stärker und expliziter aufgegriffen als in „Rosemary’s Baby“. Wo Richard Donner eindeutig Stellung zu Bibelzitaten und politischen Querverbindungen bezieht, beschreitet Roman Polanski die Wege der fruchtbaren Mehrdeutigkeit und verzichtet auf konditionierte Termini und zielgerichtete Erwartungsführung. Sein Antichrist, wenn man ihn denn so nennen will, entstammt einer normalen Familie, wie es sie millionenfach in einer so großen Stadt wie New York gibt. Dort beginnt er seine Geschichte, deren Verlauf wir nicht weiter verfolgen, sondern lediglich einen letzten Blick auf das zärtlich lächelnde Gesicht seiner Mutter werfen dürfen, das in einer Überblendung auf die Straßen und Häuser New Yorks allmählich verschwindet. Die Silhouette der für Zivilisation stehenden Metropole ist dabei ein Symbol für die ganze Welt, die von dem Neugeborenen erfahren soll.

„Rosemary’s Baby“ trifft innerhalb seines Entstehungs- und Aufführungszeitraums einen Nerv der Zeit. In den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist Satanismus in Amerika kein uninteressantes Thema und vor allem kein unbeschriebenes Blatt. Allen Beispielen voran steht die berüchtigte Manson-Family, die unter der Führung ihres selbst ernannten Gurus Charles Manson ein ausschweifendes Kommunenleben führte und dabei durchweg mit Satanismus in Verbindung gebracht wurde. Die Selbststilisierung Mansons zu Jesus Christus und Satan in einer Person machte ihn für viele seiner nach Identität suchenden Mitstreiter interessant. Gemeinsam mit seinen Jüngern war es sein Ziel, durch ausgesuchte Morde das Ende der Welt einzuläuten. „Der damals 34-jährige Manson hatte aus Popkultur, Ku-Klux-Klan-Rassismus und christlicher Endzeitlehre eine wirre apokalyptische Satansreligion entwickelt. [Das Beatles-Stück] 'Helter Skelter’ [sah er] als Aufruf an, ein Fanal zum unabdingbaren Krieg zwischen der weißen und der schwarzen Rasse zu entfachen. […] Aus diesem Krieg wäre dann er, Manson, als 'Messias’, Gott und Teufel in einer Person, hervorgegangen.“ Den stetig härter und brutaler werdenden Aktivitäten der Gruppe, vor allem gegen reiche und prominente Vertreter des kapitalistischen Amerikas, also dem Establishment, fiel 1969 auch Polanskis Frau Sharon Tate zum Opfer, die von Mitgliedern der Family in ihrem eigenen Haus ermordet wurde.
Laut der Manson-Biographie „The Family“ von Ed Sanders gelten folgende satanische Geheimbünde „als Quellen des Manson-Satanismus: die […] 'Solar Lodge des O.T.O.’, die 'Kirke Order of Dog Blood’, 'Four Movement’ oder 'Four P. Society’ und eine Fraktion der englischen 'Fraternity of Lucifer’, die sich 'The Companions of Life’ und 'The Final Church of Judgement’ nannte.” Auch unterhielt Manson Beziehungen zur berühmten „Church Of Satan“ und ihrem Gründer Anton Szandor LaVey, dessen „Show-Satanismus“ damals viele Mitglieder der Pop- und Hippiekultur nicht abgeneigt waren, der aber auch Verehrer aus konventionellen Bereichen, speziell der Show- und Entertainment-Branche, hatte. Ein Blick auf diese Vielzahl verschiedener Gruppierungen, mit denen Manson in Kontakt stand, macht deutlich, wie stark satanistisch geprägte Bewegungen damals in Amerika vertreten waren; wobei selbstverständlich viele dieser Gruppierungen bis heute existieren oder sich neu formiert haben.

Dieser Exkurs verdeutlicht den Zeitgeist, der hinter einem Thema wie dem des Films „Rosemary’s Baby“ stand, als dieser seine Uraufführung erlebte. Speziell durch den berüchtigten Charles Manson war es anzunehmen, dass der Großteil des Publikums von den Begriffen „Satanismus“ und „Rituale“ etwas gehört hatte und sich mit den im Film dargestellten Stationen des Bewusstseins der Protagonistin identifizieren konnte.

Die brodelnde Gefahr, die unter der Oberfläche einer scheinbar intakten Kultur lauert und auf ein revolutionäres Ereignis hinarbeitet, - nämlich, wie sich am Ende zeigt, die Geburt des Antichristen -, wird für den Zuschauer beim Ansehen des Films spürbar. Dennoch nimmt die Geschichte nur einmal außerhalb von Rosemarys direkter Einflussnahme konkreten Bezug auf den bedrohlichen Trend, der sich allmählich aus dem Untergrund ins Bewusstsein der Gesellschaft vorarbeitet: Das Time-Magazin titelt mit roten Buchstaben auf schwarzem Hintergrund provozierend „Is God dead?“ und spielt damit auf den bevorstehenden Besuch des Papstes in New York an. „Auf inhaltliche Momente kommt es Polanski bei […] religiösen Motiven (Rosemarys Kindheits-Traumbilder einer Nonnenschule, die Bilder der Ankunft des Papstes unmittelbar vor der Zeugung) allerdings nur am Rande an. Die Woodhouses jedenfalls führen in ihrem alten Haus unter alten Leuten ein geradezu verstörend bürgerliches Dasein […]. Eine ‚besondere Party’ wünscht sich Rosemary als verzweifeltes Aufbegehren gegen die Umarmung der Castavets […]. Und so erscheint ebendiese sorglose Party […] als befreiender Einbruch der Normalität in die geschlossenen Zirkel des respektablen Scheins, in denen der Satanskult gedeiht.“

Zum allgemeinen Verständnis des Films zwar sicherlich nicht von unbedingter Notwendigkeit, lässt sich so jedoch eine interessante Verbindung der Fiktion zu den zuvor dargelegten Ereignissen rund um Vertreter neuer Strömungen (wie z.B. Charles Manson und seinen Anhängern) ziehen. Die drohende Gefahr ist mitten unter uns und niemand scheint sie zu bemerken, wie an den Mitgliedern der satanischen Vereinigung in „Rosemary’s Baby“ verdeutlicht wird. Unter der Oberfläche der scheinbaren Sicherheit keimt die Saat einer neuen, mächtigen und gefährlichen Idee, die die Abschaffung aller bisherigen Ordnungen vorsieht und sich selbst zum Feind des Status quo erklärt. Die Gründer und Verfechter dieser Idee sind in ihrem Aussehen, Verhalten und objektiven Tun unsichtbar, da sie den schützenden Schein der sogenannten Normalität genießen. Das Praktizieren in der Anonymität und Ungestörtheit ist bereits der erste und entscheidende Schritt auf dem Weg, den Antichristen in die Welt zu schicken. Die Gefahr wird nicht erkannt, wodurch sie nicht aufzuhalten ist.

Wie schon angesprochen, legt der Film seinen Schwerpunkt niemals auf Satanismus und schwarze Messen betreffende Studien. Dennoch werden wir im Laufe der Handlung Zeuge einer rituellen Zeremonie, ohne dass wir jedoch die dargestellte Form hinterfragen oder analysieren müssen. Die mise-en-scène betreffender Szenen folgt einer Traumlogik, die wir, indem wir diese dunklen, unbekannten Bereiche menschlicher Kulte betreten, als gegeben hinnehmen müssen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gezeigten erweist sich aufgrund der Einbettung in Rosemarys Traum als nicht notwendig. „[Bei den Traumdarstellungen in Polanskis Filmen] geht es nicht um eine vollständige Ausblendung der Realität. [Sie] zeigen vielmehr, dass die Fähigkeit des Menschen, zwischen Realität und Fantasie eindeutige Grenzen zu ziehen, in Frage gestellt ist. In seinen Filmen ist der Bereich zwischen Realität und Fantasie etwas Fließendes, Vages, ohne scharf umrissene Grenzen. […] Polanski entwirft die Wirklichkeit so, wie sie sich in der Wahrnehmung der einzelnen Filmfiguren spiegelt. Und diese Wirklichkeit kann gerade in dem gefunden werden, was am allergewöhnlichsten und, was wahnsinnig ist.“

Diese Vermischung von äußerer und innerer Realität der Protagonistin ist es, was den Zuschauer von „Rosemary’s Baby“ durchweg auf unsicherem Terrain wandeln lässt. Der Zustand von gespannter Hilflosigkeit angesichts der nicht eindeutig festzustellenden Handlungsebenen, - schwankend zwischen realem Horror und möglichem Verfolgungswahn Rosemarys -, überträgt sich nahtlos auf das Publikum. In dieser Pendelbewegung zwischen Realität und Fiktion bewegt sich auch die Figur des Neugeborenen Antichristen: „[Ira] Levin beschreibt das Aussehen des Teufelssohnes genau, schildert seine gelben Augen und die Knospen der Hörner auf seiner Stirn, während Polanski […] das Baby selbst nicht zeigt, sondern nur Rosemarys Reaktion, als sie es zum ersten Mal betrachtet. Damit lässt Polanski eine […] Deutungsmöglichkeit offen, die der Roman ausschließt, nämlich, dass es sich bei den Castavets und ihren Freunden um Angehörige einer der in den USA zahlreichen Sekten handelt und dass das Baby ein ganz normales Menschenkind ist, das von ihnen als 'Teufelssohn’ angebetet wird.“ Für Rosemary selbst gibt es allerdings wenig Zweifel daran, dass sie ihr Kind tatsächlich vom leibhaftigen Teufel empfangen hat. In den Augen ihres Babys meint sie die gleichen Augen des Wesens wiederzuerkennen, die sie in ihrem Traumzustand während der Zeugung erblickt hat.
Der Antichrist, wie er im Film dargestellt wird, bezieht jedoch seine Macht vornehmlich aus dem Glauben seiner Anhänger an seine Existenz. Die nicht zu unterschätzende Stärke des menschlichen Glaubens bemächtigt die Figur eines Säuglings, über den wir nichts weiter erfahren als die Attributzuschreibungen Roman Castavets und der anderen Zirkelmitglieder, auf seine Anhänger und auch die Zuschauer des Films gleichsam erschreckend, faszinierend und ehrfurchtgebietend zu erscheinen. Unter Berücksichtigung dieses Aspekts bezieht „Rosemary’s Baby“ eine seiner Stärken aus der Postulierung eines gruppenabhängigen, kollektiven Bewusstseins, das in diesem Fall von den Anhängern der satanischen Sekte dargestellt wird. Der Glaube einer bestimmten Gruppierung an ihren Gott lässt diesen ohne Frage Realität werden. Für Außenstehende mag der Sachverhalt eher harmlos und vielleicht sogar lächerlich klingen, aber das Wichtigste entsteht im Inneren des erwähnten gleichgeschalteten Bewusstseins der einschlägigen Klientel. Die Überzeugung von der Existenz Satans lässt ihn Wirklichkeit werden und in Gestalt eines menschlichen Babys tatsächlich entstehen.

So enthält Polanskis Film neben seiner objektiven Einordnung als extravaganter Horrorfilm im Kern den Schlüssel zur Erkenntnis der Macht von Glaube und Religion. Die Frage nach Wahrheit oder Unwahrheit einer besonderen Überzeugung stellt sich nicht. Wenn nur eine Person fest von der Wahrheit einer bestimmten Geschichte, Lehre oder Figur überzeugt ist, ist für diese Person jegliche Argumentation gegen ihren Glauben unwirksam, unnötig und auch uninteressant. Stimmen nun mehrere andere Menschen in diese Überzeugung mit ein, so entsteht eine Gruppierung fest glaubender Menschen mit einem gemeinsamen Gedankengut, woraus sich letztendlich eine Religion entwickeln kann.

Diese Macht des Glaubens bringt positive, aber auch negative Eigenschaften mit sich, wenn sie z.B. in puren Fanatismus umschlägt, der keine andere Wahrheit außer der von ihm vertretenen akzeptiert. In „Rosemary’s Baby“ lauert der Teufel genau auf diesem Grat zwischen der nicht zu beanstandenden Selbstfindung und -identifikation jener gezeigten Gruppe von Menschen auf der einen und ihrer fanatischen Stilisierung zur antigöttlichen Rachegemeinschaft auf der anderen Seite. Dort erhält der Teufel einen Namen, ein Gesicht und einen Charakter, indem sich seine Präsenz in einem Kind offenbart und so den Glauben des Zirkels an seine Existenz zur unanfechtbaren, gefährlichen Wahrheit erhebt.

Die DVD von ROSEMARIES BABY ist bei Paramount weltweit erhältlich.

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