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„All of them witches“
Eine Hommage an Roman Polanskis „Rosemary’s
Baby”
von Kai Naumann
a. Laokoon und der Teufel – Die Kunst des Verbergens
In den sechziger und siebziger Jahren des letzten
Jahrhunderts machten Horrorfilme okkulten Inhalts einen hohen Prozentsatz
kommerzieller Hollywoodproduktionen aus und förderten und formten
somit das Image diabolischer Erscheinungsformen im Kino. Zu den wichtigsten
und bekanntesten Vertretern dieser Gattung gehört neben William Friedkins
„The Exorcist“ (1973) und Richard Donners „The Omen“
(1975) vor allem Roman Polanskis „Rosemary’s Baby“ (1967),
der die Hauptwelle jener berühmten Teufelsfilme einleitete. Bezeichnend
für diese Reihe von teuren und ambitionierten Produktionen ist die
weitgehende Vermeidung der Konkretisierung des visuellen diabolischen
Grauens. Stattdessen wird eine allgemeingültigere und somit unsichere,
mehrdeutige und unheimliche Atmosphäre geschaffen. Der Teufel tritt
niemals als das Wesen in Erscheinung, das wir aus der volkstümlichen
Überlieferung kennen. Wenn er sich zeigt, dann tut er dies in Vertretung
konkreter Mächte oder Menschen oder wird im äußersten
Fall mehr erahnbar als sichtbar. Seine Bedrohlichkeit wird durch diese
Form der Andeutung also weit mehr verstärkt als durch seine alle
Geheimnisse offen legende körperliche Präsenz.
Unter diesem Aspekt reihen sich also die ernst zu nehmenden
Beispiele von Filmen mit satanischer Thematik nahtlos in die Liste derjenigen
Kunstwerke ein, die sich in dem von G.E. Lessing in seinem 1766 erschienenen
Werk „Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie“
geprägten Begriff des „fruchtbaren Augenblicks“ wiederfinden.
„Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was
der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen,
desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu
denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge
eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat,
als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts,
und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie
die Flügel binden, und sie nötigen, da sie über den sinnlichen
Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm mit schwächern Bildern
zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks
als ihre Grenze scheuet.“
Das von Lessing gewählte anschauliche Beispiel der
berühmten Plastik „Laokoon-Gruppe“, deren Figuren in
ihren Emotionen sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart und Zukunft gleichzeitig
widerspiegeln, sich also im Zentrum des „fruchtbaren Augenblicks“
befinden, kann neben seinem Status innerhalb der Kunst auch für unsere
Beschäftigung mit der Darstellung des Teufels im Film sehr hilfreich
sein, wie wir im Weiteren sehen werden. Der mythische, von Schmerz erfüllte
Laokoon wird in der „Laokoon-Gruppe“ unmittelbar vor seinem
Schrei gezeigt, den uns der Künstler jedoch nicht in der Darstellung
sehen, sondern, - und das ist weitaus effektvoller -, in uns selbst erfahren
lässt. Auf der Schwelle zur Klimax versagt uns das Kunstwerk die
objektive Katharsis durch Weglassung des Zieles, das angesteuert wurde.
Das Ergebnis ist eine phantasievolle und selbstschöpferische Weiterarbeit
des Betrachters, in dessen Geist sich der zu erwartende Schrei des Laokoon
nun ereignet oder auch nicht. Der „fruchtbare Augenblick“
ist also ein Moment in der Erfahrung einer Kunstschöpfung, in der
der Rezipient selbst zum Schöpfer wird und so seinen eigenen Kosmos
kreiert.
„Auch das ist unstreitig, dass eben hierin, wo ein Halbkenner den
Künstler unter der Natur geblieben zu sein, das wahre Pathetische
des Schmerzes nicht erreicht zu haben, urteilen dürfte; dass, sage
ich, eben hierin die Weisheit desselben ganz besonders hervorleuchtet.“
Gerade der Horrorfilm, zu dessen Genre wir den Teufelsfilm hier zählen
müssen, mit seiner Hinwendung zu physischen Darstellungen mit dem
Ziel, den gewünschten Schrecken beim Zuschauer zu entfachen, ist
der Prototyp für eine gewinnbringende Nutzung der Lessingschen Lehre
für das Medium Film. Mit anderen und einfacheren Worten ausgedrückt
lässt sich festhalten: Der wahre Horror beginnt zwar auf der Kinoleinwand,
endet aber im Kopf des Betrachters.
„Rosemary’s Baby“ ist eines dieser
filmischen Beispiele, die voll und ganz in der Tradition von Lessings
„Laokoon“ stehen. Über die gesamte Spielfilmlänge
hinweg verlässt der Zuschauer niemals die subjektive Erlebniswelt
der Protagonistin Rosemary Woodhouse und muss sich so, auf dem gleichen
Kenntnisstand wie sie, vorwiegend auf seine eigenen Gedanken, Ideen, Vermutungen
und Erfahrungen verlassen. Die große Stärke von Polanskis Film,
die ihn von vielen Exploitation-Werken dieser Gattung und auch von Ira
Levins Romanvorlage unterscheidet, ist die Strategie der Aussparung und
Vermeidung. Dadurch entsteht eine effiziente Mehrdeutigkeit des Geschehens,
die in ihrer jeweiligen Auslegung uneingeschränkte Berechtigung verdient,
eben weil sie, - um bei Lessings „Laokoon“ zu bleiben -, aus
der Kreativität und Mitarbeit des Zuschauers entsteht, also aus der
fruchtbaren Option der Handlungsführung nach eigenem intellektuellen
Verständnis und Identifizierung mit der Hauptfigur.
„Nach der 'Zeugung’ bezieht Polanskis
Inszenierung ihre verstörende Spannung gerade aus der stetigen Doppeldeutigkeit:
Die rationale Erklärung (eine neurotische und paranoide Verengung
von Rosemarys Wahrnehmung) steht der dramaturgisch konsequenten, aber
völlig irrationalen Verschwörungstheorie gleichberechtigt gegenüber.“
Diese parallel verlaufenden Interpretationsmöglichkeiten
sind es, die „Rosemary’s Baby“ so interessant machen
und von anderen Genrebeispielen dieser Zeit deutlich abheben. Polanski
intensiviert diese Mehrdeutigkeit des dramaturgischen Geschehens, indem
er über weite Strecken der Handlung auf die nicht rational zu entschlüsselnde
Form einer Traumlogik zurückgreift, in der, vergleichbar mit Lessings
„Laokoon“, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Protagonistin
nebeneinander existieren, sich gegenseitig durchdringen und sich in Form
metaphorisch-mystischer Bilder nach außen präsentieren. 'Außen’
erscheint hier gleichbedeutend mit dem Bewusstsein Rosemarys, das für
den Zuschauer die einzige Orientierung und das Maß aller Dinge ist,
welches die Richtung und Wendungen der Geschichte bestimmt. Das Publikum
sieht sich zunehmend mit einer Mischung aus subjektiver Sicht Rosemarys
und seiner eigenen konfrontiert. Dieses Zusammenwirken treibt die Spannung
effektiv voran, da der Betrachter gewahr wird, dass er trotz persönlicher
Empfindungen und Vermutungen ein ständiger Begleiter der Protagonistin
ist und keine Chance sieht, sich durch Perspektivwechsel aus dieser bedrohlichen
und unsicheren Deckungsgleichheit zu lösen, um das ständig präsente
Unbehagen, das von Rosemarys Situation ausgeht, zu relativieren. „When
the conclusion comes, it works not because it is a surprise. Rosemary
makes her dreadful discovery, and we are wrenched because we knew what
was going to happen – and couldn’t help her.”
Die Figur des Teufels scheint im Zuge dieser Betrachtungen
eine eher untergeordnete Rolle zu spielen, da sich das schwer greifbare
und daher so fruchtbare Grauen (vgl. Lessings „Laokoon“) eben
scheinbar ganz in Rosemarys augenblicklicher von Furcht heimgesuchter
Lebensphase manifestiert, aus der wir keine befriedigende Antwort schöpfen
können, ob die Ursache für Rosemarys Panik in aufkommendem Verfolgungswahn
begründet liegt, oder ob tatsächlich eine äußere
Bedrohung besteht. Doch der Teufel ist da, auch wenn er, wie wir schon
festgestellt haben, im Verborgenen operiert. Seine körperliche Präsenz
wird lediglich angedeutet und lässt sich nur vermuten. Selbst die
Beischlafszene, in der er als Inkubus auftritt, ist in einen Traum Rosemarys
eingebettet und hält so selbst im scheinbar Expliziten die Lessingsche
Tradition aufrecht. „Der Traum zeigt , dass Rosemary in einem lethargischen
Schlaf […] Dinge aufnimmt und zulässt, vor denen sie sich unter
normalen Umständen sträuben würde. Im Traum aber ist das
Unmögliche möglich. So ist dort auch der angedeutete Auftritt
einer infernal-transzendenten Gestalt plausibel – in diesem sonst
so überaus realistisch inszenierten Film.“
Satans böser Geist schwebt unentwegt über dem
Geschehen und seine menschlichen Repräsentanten überwachen das
Schicksal des auserwählten Ziels seiner Pläne. Das ältere
Ehepaar Castavet symbolisiert das Zentrum der diabolischen Macht, die
Rosemary heimsucht, und bildet den Vorstand des satanischen Zirkels in
New York. Roman Castavet stellt dabei den Vertreter Satans auf der Erde
dar. Die Legende des Films baut ihn als Sohn des berüchtigten Hexenmeisters
Adrian Marcato auf, der ebenfalls dunkle Rituale zur Beschwörung
des Teufels veranstaltete. Der tatsächliche Name Romans wird im Laufe
des Films schließlich als Steven Marcato entschlüsselt.
Ruhelosigkeit und Reiselust ist es, was Roman Castavet
zunächst objektiv charakterisiert. Er bezeichnet sich selbst als
weitgereisten Menschen und es gebe mit Sicherheit keinen Ort auf der Welt,
den er noch nicht besucht habe; „I’ve been everywhere literally.
You name a place, I’ve been there“ . Deutlich werden Castavet
hier vom Film dämonische Wesenzüge zugeschrieben, die in ihrer
Vorliebe für Geschwindigkeit, das häufige Wechseln der Aufenthaltsorte
und damit einhergehende Omnipräsenz an Mephisto erinnern, der sich
mit Faust ebenfalls auf eine makrokosmische Reise begibt. Doch trotz aller
scheinbaren Offensichtlichkeit bleiben diese Assoziationen der subjektiven
Natur des Zuschauers vorbehalten. Alle Eindrücke und Verbindungen
mit den im Film auftretenden Charakteren bleiben Vermutungen und bilden
damit die Bausteine des Geschehens, das sich in wiederholender Form stets
als unsicher, damit aber als durchweg fruchtbar erweist. Abgesehen von
Rosemary, deren Subjektive der Zuschauer einnimmt, stehen ausnahmslos
alle bedeutenden Figuren des Films ganz in der Tradition Lessings. „Wenn
Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören;
wenn er aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe
höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichern,
folglich uninteressantern Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst
ächzen, oder sie sieht ihn schon tot.“
Die Umwelt Rosemarys entpuppt sich im Laufe der Handlung immer mehr als
Kulisse, vor der jede Figur die ihr zugedachte Rolle spielt, ohne dass
eine eingehende, tiefgründige Entschlüsselung der wahren Identität
möglich wäre. Das Ehepaar Castavet fungiert dabei als Prototyp
jener auf bloßem Schein basierenden Objektivitäten. Die beiden
etwas verschrobenen, neugierigen, aber liebevollen Menschen mutieren am
Schluss des Films zu den Drahtziehern der Verwicklungen, bei denen alle
Fäden des Übels zusammenlaufen. Doch auch innerhalb dieser letztendlichen
Gewissheit, an der Quelle des Bösen angekommen zu sein, verweigert
uns Polanski die nun erhoffte Sicherheit. Als Vorsteher des satanischen
Zirkels ist Roman Castavet eine Autorität. Dennoch gerät er
auch in diesem Erscheinungsbild nicht zu einer Person, die man als böse
bezeichnen könnte. Er bleibt ein Mensch, ebenso wie die vielen anderen
Mitglieder der dunklen Vereinigung. Satans Jünger sind Menschen von
nebenan aus verschiedenen Kulturkreisen. Es sind Menschen höheren
Alters, also mit der Zuschreibung von Reife und dem Bewusstsein genauen
Reflektierens ihrer Taten.
Die Kunst des Verbergens und Verwirrens offenbart sich
in keiner Szene des Films so deutlich wie in der Schlusssequenz, in der
Rosemary die schreckliche Wahrheit über die Menschen in ihrer Nähe
erfährt und zum ersten Mal das neugeborene Kind erblickt. Beinahe
an Übertreibung grenzend und nicht ohne leichtes Augenzwinkern präsentiert
sich die Wohnung der Castavets mit Bildern brennender Kirchen an den Wänden,
einer pechschwarzen Wiege mitten im Zimmer und einem umgedrehten Kreuz
darüber. Doch auch in dieser scheinbaren Offenlegung aller Geheimnisse
verlässt „Rosemary’s Baby“ die Theorie des „Laokoon“
nicht. „Dennoch scheint Polanski die letzte Sicherheit und Bestätigung
– den Anblick des Satanskindes – verweigern zu wollen. Daß
keine einzige Szene des Films Rosemarys subjektive Erlebniswelt verlässt
[…], dass sich William Frakers Kamera innerhalb der Wohnung öfter
in Bauch- statt in Augenhöhe aufhält, dass Krzysztof Komedas
musikalisches Leitmotiv einer Kindermelodie eine befremdend offene harmonische
Struktur unterschiebt, ist sämtlich Ausdruck eines virtuosen Umgangs
mit den filmischen Mitteln: Die Vermeidung des Eindeutigen, die subtile
Verwirrung der Sinne sind Programm.“
In diesem Sinne bewegt sich „Rosemary’s Baby“ nicht
nur in der Tradition Lessings und seiner Theorie vom „fruchtbaren
Augenblick“, sondern auch in der des russischen Formalismus, allen
voran der Viktor Sklovskijs. Polanski überträgt dessen Theorie
über die Automatisierung der alltäglichen Sprache gekonnt auf
das Medium Film. Innerhalb der Verfremdung bestimmter Bilder wird beim
Zuschauer eine neue Form der Empfindung bekannter, alltäglicher Ereignisse
in Gang gesetzt. Wir schauen hinter die Kulissen von Rosemarys Welt und
sehen mit ihren Augen, wie sich der Vorhang der Ungewissheit lüftet
und durch die sich herausstellende Verfremdung den Blick auf das freigibt,
was wirklich geschieht und was schon immer da war. Das Dunkle, Böse,
Satanische offenbart sich gerade in dieser Verfremdung alltäglicher
Normen.
Die Szene der ersten Begegnung Rosemarys mit ihrem Baby
im Wohnzimmer der Castavets ist vom Kunstgriff der Verfremdung durchzogen.
Nicht nur das bereits erwähnte Interieur sorgt dafür, alltägliche
Verhältnisse in einem neuen, verzerrenden Licht zu sehen, sondern
auch die Anordnung der in dieser Szenerie agierenden Figuren spricht eine
deutliche Sprache. Polanski präsentiert hier seine persönliche
ironische Version der heiligen Familie. Rosemary ist Maria, die Mutter
des Neugeborenen, - vor allem ihr blauer Mantel, der in der Kunst ein
gängiges Zeichen Marias ist, verstärkt diesen Eindruck -, und
in ihrem Mann Guy kann man deutliche Züge des Joseph wiederentdecken.
Wie der Mann Marias in der Heiligen Schrift fällt auch Guy in „Rosemary’s
Baby“ keine Funktion mehr zu, als aus dem Leben Rosemarys und ihrem
Sohn lautlos zu verschwinden bzw. nicht weiter wichtig zu sein. Im Film
wird dieser Punkt sogar noch deutlicher vollzogen, indem Rosemary Guy
ihre Verachtung deutlich spüren lässt, als sie ihm als Schlussstrich
seines Daseins in ihrer Biographie ins Gesicht spuckt und ihn somit radikal
von sich entbindet. Auch die Verehrer und Besucher des neuen Säuglings
sind moderne Vertreter der Hirten und der heiligen drei Könige, die
von weither kommen, um dem Messias zu huldigen.
Die mise-en-scène verlässt auch hier niemals ihre fruchtbare
Stärke. Die erhoffte Katharsis, der Anblick des Teufelskindes, bleibt
dem Zuschauer verwehrt. An Rosemarys entsetzten Augen und ihrer panischen
Reaktion nach dem Blick in die schwarze Wiege meinen wir doch zu erahnen,
was sie dort erblickt. Der Effekt des Selbstdenkens, den die „Laokoon-Gruppe“
begünstigt, wird hier so stark verdeutlicht wie an kaum einer anderen
Stelle des Films.
„Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche
Dauer: so muß er nichts ausdrücken, was nicht anders als transitorisch
denken läßt.“
Methoden der Verfremdung bekannter Rituale oder Mythen
und der Focus auf die Fruchtbarkeit der Darstellung vermischen sich in
dieser Szene zur Quintessenz des gesamten Films und zum Schlüssel
zur Wahrnehmung des Bedrohlichen, Bösen und somit Satans. Satan ist
durchweg präsent, offenbart seine Gegenwart jedoch nur in eben jenen
Szenen wie der zuvor beschriebenen. Sein Reich liegt im Verborgenen, wird
jedoch durch seine menschlichen Vertreter auf der Erde repräsentiert.
Durch ihre Hilfe gelingt es dem Teufel, selbst Mensch zu werden, denn
nur so lässt sich sein Vorhaben, Gottes Schöpfung zu unterwandern,
effektiv durchführen.
Das verfremdende Element schärft den Blick für
die Wahrheit hinter den scheinbar offensichtlichen Dingen, die Rosemary,
und damit auch uns selbst, umgeben. Dort begegnen wir dem Diabolischen
und erkennen, dass es die ganze Zeit, in der wir uns auf sicherem Terrain
gewähnt haben, an unserer Seite gegangen ist. Das Böse hat seine
finsteren Pläne mit uns, und die ungestörte Reifung im Verborgenen
ist seine größte Stärke.
b. Der Antichrist in New York
„Rosemary’s Baby“ entlässt
den Zuschauer mit einer Mehrdeutigkeit von Gefühlen. Objektiv betrachtet
präsentiert der Film einen versöhnlichen Schluss, da er suggeriert,
dass Rosemary sich freiwillig in ihre Mutterrolle fügt und sich liebevoll,
- das berühmte Lullaby im Abspann macht dies sehr deutlich -, ihres
Kindes annimmt. Gleichzeitig sind wir uns aber darüber im Klaren,
dass es der leibhaftige Sohn des Teufels ist, den sie nun gewillt ist
aufzuziehen, und auch die vorherigen Worte Roman Castavets über dessen
Bestimmung werfen ein bedrohliches Licht auf den Säugling: „Satan
is his father, and his name is Adrian. He shall overthrow the mighty and
lay waste their temples. He shall wreak vengeance in the name of the burned
and the tortured!”
Die Geburt des neugeborenen Kindes Adrian läutet also
in Bezug auf theologische Schriften zur bevorstehenden Apokalypse unmissverständlich
die Ära des Antichristen ein, der als ein Vorbote der Vernichtung
der Welt, wie wir sie kennen, auftritt. „Die Definition des Antichrists
ist vieldeutig: Er wird in den Texten als der Teufel selbst dargestellt
oder als Sohn des Teufels (filius diaboli), als ein Mächtiger der
Erde erfüllt vom Bösen (rex iniquus), als eine gegen den Messias
und den beim Jüngsten Gericht triumphierenden Christus stehende Gestalt
oder als ein Mensch, in dem sich der Teufel inkarniert.“ Die Quelle,
auf die sich die meisten (eher trivialen) literarischen und filmischen
Versuche über das Erscheinen und Wirken des Antichristen stützen,
ist die „Offenbarung des Johannes“, obgleich dort der Terminus
„Antichrist“ niemals gebraucht wird. „Im NT finden sich
die detailliertesten Aussagen über das endzeitliche Wirken des A[ntichristen]
in der Offenbarung […]. Im strengen Sinne wird man als A. jedoch
nur das „erste Tier“ aus Offenb. 13,1-10 bezeichnen dürfen
[…]; wie Christus von Gott, so hat es seine Vollmacht vom Teufel
(Offenb. 13,2)“ . Nach einer Gleichsetzung von Antichrist und Teufel
sucht man jedoch im gesamten Neuen Testament vergeblich.
Eine andere, explizitere Vorstellung liefert Adso von Montier-en-Dur,
der mit „De ortu et tempore antichristi“ eine Vita des Antichristen
formuliert. Mit genauem Blick auf biblische Verweise, die auf unterschiedliche
Stationen im Wirken dieser Figur hindeuten, gelingt es Adso, die Grundzüge
einer Antichristlegende aufzustellen. Wie bereits erwähnt, erregen
Quellen wie diese aber im Vergleich zur „Offenbarung“ wenig
Interesse der Belletristik und des Films.
Für die Übernahme der Thematik „Antichrist“ in das
Medium Film können viele Beispiele herangezogen werden, von denen
aber mit Sicherheit „Rosemary’s Baby“ (1967, Roman Polanski)
und „The Omen“ (1975, Richard Donner) zu den bekanntesten
gehören. Beide Male ist es ein Kind, das die Verkörperung des
Bösen und die Menschwerdung Satans symbolisiert. „Das Bild
eines vermenschlichten A[ntichristen] ist Allgemeingut des ganzen M[ittel]a[lters]
und wird von der lateinischen und volkssprachlichen Literatur vielfach
aufgenommen (Ludus des Antichristo, Cursor Mundi, The Prick Of Conscience
…).“ Der christliche Mythos, der sich um diese Figur rankt,
wird jedoch in „The Omen“ stärker und expliziter aufgegriffen
als in „Rosemary’s Baby“. Wo Richard Donner eindeutig
Stellung zu Bibelzitaten und politischen Querverbindungen bezieht, beschreitet
Roman Polanski die Wege der fruchtbaren Mehrdeutigkeit und verzichtet
auf konditionierte Termini und zielgerichtete Erwartungsführung.
Sein Antichrist, wenn man ihn denn so nennen will, entstammt einer normalen
Familie, wie es sie millionenfach in einer so großen Stadt wie New
York gibt. Dort beginnt er seine Geschichte, deren Verlauf wir nicht weiter
verfolgen, sondern lediglich einen letzten Blick auf das zärtlich
lächelnde Gesicht seiner Mutter werfen dürfen, das in einer
Überblendung auf die Straßen und Häuser New Yorks allmählich
verschwindet. Die Silhouette der für Zivilisation stehenden Metropole
ist dabei ein Symbol für die ganze Welt, die von dem Neugeborenen
erfahren soll.
„Rosemary’s Baby“ trifft innerhalb
seines Entstehungs- und Aufführungszeitraums einen Nerv der Zeit.
In den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist Satanismus in
Amerika kein uninteressantes Thema und vor allem kein unbeschriebenes
Blatt. Allen Beispielen voran steht die berüchtigte Manson-Family,
die unter der Führung ihres selbst ernannten Gurus Charles Manson
ein ausschweifendes Kommunenleben führte und dabei durchweg mit Satanismus
in Verbindung gebracht wurde. Die Selbststilisierung Mansons zu Jesus
Christus und Satan in einer Person machte ihn für viele seiner nach
Identität suchenden Mitstreiter interessant. Gemeinsam mit seinen
Jüngern war es sein Ziel, durch ausgesuchte Morde das Ende der Welt
einzuläuten. „Der damals 34-jährige Manson hatte aus Popkultur,
Ku-Klux-Klan-Rassismus und christlicher Endzeitlehre eine wirre apokalyptische
Satansreligion entwickelt. [Das Beatles-Stück] 'Helter Skelter’
[sah er] als Aufruf an, ein Fanal zum unabdingbaren Krieg zwischen der
weißen und der schwarzen Rasse zu entfachen. […] Aus diesem
Krieg wäre dann er, Manson, als 'Messias’, Gott und Teufel
in einer Person, hervorgegangen.“ Den stetig härter und brutaler
werdenden Aktivitäten der Gruppe, vor allem gegen reiche und prominente
Vertreter des kapitalistischen Amerikas, also dem Establishment, fiel
1969 auch Polanskis Frau Sharon Tate zum Opfer, die von Mitgliedern der
Family in ihrem eigenen Haus ermordet wurde.
Laut der Manson-Biographie „The Family“ von Ed Sanders gelten
folgende satanische Geheimbünde „als Quellen des Manson-Satanismus:
die […] 'Solar Lodge des O.T.O.’, die 'Kirke Order of Dog
Blood’, 'Four Movement’ oder 'Four P. Society’ und eine
Fraktion der englischen 'Fraternity of Lucifer’, die sich 'The Companions
of Life’ und 'The Final Church of Judgement’ nannte.”
Auch unterhielt Manson Beziehungen zur berühmten „Church Of
Satan“ und ihrem Gründer Anton Szandor LaVey, dessen „Show-Satanismus“
damals viele Mitglieder der Pop- und Hippiekultur nicht abgeneigt waren,
der aber auch Verehrer aus konventionellen Bereichen, speziell der Show-
und Entertainment-Branche, hatte. Ein Blick auf diese Vielzahl verschiedener
Gruppierungen, mit denen Manson in Kontakt stand, macht deutlich, wie
stark satanistisch geprägte Bewegungen damals in Amerika vertreten
waren; wobei selbstverständlich viele dieser Gruppierungen bis heute
existieren oder sich neu formiert haben.
Dieser Exkurs verdeutlicht den Zeitgeist, der hinter einem
Thema wie dem des Films „Rosemary’s Baby“ stand, als
dieser seine Uraufführung erlebte. Speziell durch den berüchtigten
Charles Manson war es anzunehmen, dass der Großteil des Publikums
von den Begriffen „Satanismus“ und „Rituale“ etwas
gehört hatte und sich mit den im Film dargestellten Stationen des
Bewusstseins der Protagonistin identifizieren konnte.
Die brodelnde Gefahr, die unter der Oberfläche einer
scheinbar intakten Kultur lauert und auf ein revolutionäres Ereignis
hinarbeitet, - nämlich, wie sich am Ende zeigt, die Geburt des Antichristen
-, wird für den Zuschauer beim Ansehen des Films spürbar. Dennoch
nimmt die Geschichte nur einmal außerhalb von Rosemarys direkter
Einflussnahme konkreten Bezug auf den bedrohlichen Trend, der sich allmählich
aus dem Untergrund ins Bewusstsein der Gesellschaft vorarbeitet: Das Time-Magazin
titelt mit roten Buchstaben auf schwarzem Hintergrund provozierend „Is
God dead?“ und spielt damit auf den bevorstehenden Besuch des Papstes
in New York an. „Auf inhaltliche Momente kommt es Polanski bei […]
religiösen Motiven (Rosemarys Kindheits-Traumbilder einer Nonnenschule,
die Bilder der Ankunft des Papstes unmittelbar vor der Zeugung) allerdings
nur am Rande an. Die Woodhouses jedenfalls führen in ihrem alten
Haus unter alten Leuten ein geradezu verstörend bürgerliches
Dasein […]. Eine ‚besondere Party’ wünscht sich
Rosemary als verzweifeltes Aufbegehren gegen die Umarmung der Castavets
[…]. Und so erscheint ebendiese sorglose Party […] als befreiender
Einbruch der Normalität in die geschlossenen Zirkel des respektablen
Scheins, in denen der Satanskult gedeiht.“
Zum allgemeinen Verständnis des Films zwar sicherlich
nicht von unbedingter Notwendigkeit, lässt sich so jedoch eine interessante
Verbindung der Fiktion zu den zuvor dargelegten Ereignissen rund um Vertreter
neuer Strömungen (wie z.B. Charles Manson und seinen Anhängern)
ziehen. Die drohende Gefahr ist mitten unter uns und niemand scheint sie
zu bemerken, wie an den Mitgliedern der satanischen Vereinigung in „Rosemary’s
Baby“ verdeutlicht wird. Unter der Oberfläche der scheinbaren
Sicherheit keimt die Saat einer neuen, mächtigen und gefährlichen
Idee, die die Abschaffung aller bisherigen Ordnungen vorsieht und sich
selbst zum Feind des Status quo erklärt. Die Gründer und Verfechter
dieser Idee sind in ihrem Aussehen, Verhalten und objektiven Tun unsichtbar,
da sie den schützenden Schein der sogenannten Normalität genießen.
Das Praktizieren in der Anonymität und Ungestörtheit ist bereits
der erste und entscheidende Schritt auf dem Weg, den Antichristen in die
Welt zu schicken. Die Gefahr wird nicht erkannt, wodurch sie nicht aufzuhalten
ist.
Wie schon angesprochen, legt der Film seinen Schwerpunkt
niemals auf Satanismus und schwarze Messen betreffende Studien. Dennoch
werden wir im Laufe der Handlung Zeuge einer rituellen Zeremonie, ohne
dass wir jedoch die dargestellte Form hinterfragen oder analysieren müssen.
Die mise-en-scène betreffender Szenen folgt einer Traumlogik, die
wir, indem wir diese dunklen, unbekannten Bereiche menschlicher Kulte
betreten, als gegeben hinnehmen müssen. Eine kritische Auseinandersetzung
mit dem Gezeigten erweist sich aufgrund der Einbettung in Rosemarys Traum
als nicht notwendig. „[Bei den Traumdarstellungen in Polanskis Filmen]
geht es nicht um eine vollständige Ausblendung der Realität.
[Sie] zeigen vielmehr, dass die Fähigkeit des Menschen, zwischen
Realität und Fantasie eindeutige Grenzen zu ziehen, in Frage gestellt
ist. In seinen Filmen ist der Bereich zwischen Realität und Fantasie
etwas Fließendes, Vages, ohne scharf umrissene Grenzen. […]
Polanski entwirft die Wirklichkeit so, wie sie sich in der Wahrnehmung
der einzelnen Filmfiguren spiegelt. Und diese Wirklichkeit kann gerade
in dem gefunden werden, was am allergewöhnlichsten und, was wahnsinnig
ist.“
Diese Vermischung von äußerer und innerer Realität
der Protagonistin ist es, was den Zuschauer von „Rosemary’s
Baby“ durchweg auf unsicherem Terrain wandeln lässt. Der Zustand
von gespannter Hilflosigkeit angesichts der nicht eindeutig festzustellenden
Handlungsebenen, - schwankend zwischen realem Horror und möglichem
Verfolgungswahn Rosemarys -, überträgt sich nahtlos auf das
Publikum. In dieser Pendelbewegung zwischen Realität und Fiktion
bewegt sich auch die Figur des Neugeborenen Antichristen: „[Ira]
Levin beschreibt das Aussehen des Teufelssohnes genau, schildert seine
gelben Augen und die Knospen der Hörner auf seiner Stirn, während
Polanski […] das Baby selbst nicht zeigt, sondern nur Rosemarys
Reaktion, als sie es zum ersten Mal betrachtet. Damit lässt Polanski
eine […] Deutungsmöglichkeit offen, die der Roman ausschließt,
nämlich, dass es sich bei den Castavets und ihren Freunden um Angehörige
einer der in den USA zahlreichen Sekten handelt und dass das Baby ein
ganz normales Menschenkind ist, das von ihnen als 'Teufelssohn’
angebetet wird.“ Für Rosemary selbst gibt es allerdings wenig
Zweifel daran, dass sie ihr Kind tatsächlich vom leibhaftigen Teufel
empfangen hat. In den Augen ihres Babys meint sie die gleichen Augen des
Wesens wiederzuerkennen, die sie in ihrem Traumzustand während der
Zeugung erblickt hat.
Der Antichrist, wie er im Film dargestellt wird, bezieht jedoch seine
Macht vornehmlich aus dem Glauben seiner Anhänger an seine Existenz.
Die nicht zu unterschätzende Stärke des menschlichen Glaubens
bemächtigt die Figur eines Säuglings, über den wir nichts
weiter erfahren als die Attributzuschreibungen Roman Castavets und der
anderen Zirkelmitglieder, auf seine Anhänger und auch die Zuschauer
des Films gleichsam erschreckend, faszinierend und ehrfurchtgebietend
zu erscheinen. Unter Berücksichtigung dieses Aspekts bezieht „Rosemary’s
Baby“ eine seiner Stärken aus der Postulierung eines gruppenabhängigen,
kollektiven Bewusstseins, das in diesem Fall von den Anhängern der
satanischen Sekte dargestellt wird. Der Glaube einer bestimmten Gruppierung
an ihren Gott lässt diesen ohne Frage Realität werden. Für
Außenstehende mag der Sachverhalt eher harmlos und vielleicht sogar
lächerlich klingen, aber das Wichtigste entsteht im Inneren des erwähnten
gleichgeschalteten Bewusstseins der einschlägigen Klientel. Die Überzeugung
von der Existenz Satans lässt ihn Wirklichkeit werden und in Gestalt
eines menschlichen Babys tatsächlich entstehen.
So enthält Polanskis Film neben seiner objektiven
Einordnung als extravaganter Horrorfilm im Kern den Schlüssel zur
Erkenntnis der Macht von Glaube und Religion. Die Frage nach Wahrheit
oder Unwahrheit einer besonderen Überzeugung stellt sich nicht. Wenn
nur eine Person fest von der Wahrheit einer bestimmten Geschichte, Lehre
oder Figur überzeugt ist, ist für diese Person jegliche Argumentation
gegen ihren Glauben unwirksam, unnötig und auch uninteressant. Stimmen
nun mehrere andere Menschen in diese Überzeugung mit ein, so entsteht
eine Gruppierung fest glaubender Menschen mit einem gemeinsamen Gedankengut,
woraus sich letztendlich eine Religion entwickeln kann.
Diese Macht des Glaubens bringt positive, aber auch negative
Eigenschaften mit sich, wenn sie z.B. in puren Fanatismus umschlägt,
der keine andere Wahrheit außer der von ihm vertretenen akzeptiert.
In „Rosemary’s Baby“ lauert der Teufel genau auf diesem
Grat zwischen der nicht zu beanstandenden Selbstfindung und -identifikation
jener gezeigten Gruppe von Menschen auf der einen und ihrer fanatischen
Stilisierung zur antigöttlichen Rachegemeinschaft auf der anderen
Seite. Dort erhält der Teufel einen Namen, ein Gesicht und einen
Charakter, indem sich seine Präsenz in einem Kind offenbart und so
den Glauben des Zirkels an seine Existenz zur unanfechtbaren, gefährlichen
Wahrheit erhebt.
Die DVD von ROSEMARIES BABY ist bei Paramount weltweit
erhältlich.
(c) der Fotos bei den Copyright Inhabern / Paramount
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