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Rohe Liebe
Cannibal of Rohtenburg
- Zwei 'unsichtbare' Filme
Anlässlich des gerichtlichen Verbotes von ROHTENBURG
zwei Kritiken zu Filmen über die Lust auf menschenfleisch:
*
ROHTENBURG (D 2006)
Nicht in deutschen Kinos 2006
Das Phänomen des geplanten Lustmordes - bei dem der
triebhafte Impuls und die sorgfältige Inszenierung scheinbar zusammentreffen
- wird oft dem medialen Zeitalter zugeschrieben. Dagegen gibt es einiges
einzuwenden. Im Falle des realen Kannibalen von Rotenburg ist die Rolle
der modernen Kommunikationsmedien jedoch besonders deutlich, da die Tat
zunächst nur als aufgeschriebene Phantasie in einem Internetforum
existierte. Das Internet machte auch ihre Verwirklichung möglich,
da sich unter den potenziell unzähligen Usern einer gefunden hat,
der sich dadurch angesprochen fühlte. Das aufwendige Szenario wurde
dann von dem Täter selbst bei der Realisierung auf Video festgehalten,
und das Ergebnis konnte wenig später in Ausschnitten, Nacherzählungen
oder sogar spielerischen Nachinszenierungen der breiten Öffentlichkeit
über die Massenmedien zugänglich gemacht werden. Das Publikum
zeigte sich sichtlich beeindruckt, wobei der Fall neben der verständlichen
Entrüstung auch unleugbare Faszination verbreitete und das Interesse
an immer weiteren Informationen gewissen Voyerismus erkennen ließ.
Wer also heute vor der Aufgabe steht, aus dieser Geschichte tatsachengetreu
einen "richtigen" Spielfilm zu machen, muss damit rechnen, dass
diese Produktion nur ein (abgemilderter) Ersatz für den anderen Film
sein wird, der bereits gedreht worden ist und die Phantasie der Rezipienten
seinerzeit dermaßen anregte, dass er eine überragende Wirkung
entfaltete, ohne jemals in voller Länge gezeigt zu werden.
"Rohtenburg" begegnet diesem Problem durch die
Rahmenhandlung, in der unser Umgang mit den medialen Bildern und Informationen
reflektiert wird. Eine junge Amerikanerin (Keri Russel), die sich von
dem Fall des "deutschen Kannibalen" magisch angezogen fühlt,
reist unter dem Vorwand ihrer Abschlussarbeit in der Kriminalpsychologie
nach Deutschland, um an Ort und Stelle das Material zu sammeln. Das begehrteste
Objekt dieser Materialsuche ist natürlich das Video, auf dem die
Tat selbst zu sehen ist. Aber zunächst führen sie ihre Nachforschungen
in das Heimatdorf des Kannibalen (Thomas Kretschmann), wo sie Einsichten
in die furchtbare Vorgeschichte bekommt. Dass Martin Weisz den Film an
dieser Stelle nicht in eine Kriminalstory mit plausibler Spurensuche verwandelt,
sondern die Rückblenden als eine Art Visionen inszeniert, die aus
der suggestiven Atmosphäre des Ortes wie von selbst erwachsen, wirkt
sich eher vorteilhaft aus. Als Nachteil empfindet man dagegen die Beschränkung
der Kindheitsgeschichte auf spekulative Klischees, die von der frühen
Einsamkeit bis zur dominanten Mutter reichen und kaum eine einleuchtende
oder zumindest originelle Erklärung für die Tat liefern.
Interessanter wird es, wenn der Film zur Beziehung zwischen
Oliver und seinem willigen Opfer Simon (Thomas Huber) übergeht. Weisz
gelingt es, seine Protagonisten nicht als eindimensionale Psychopathen
darzustellen, sondern ihnen eine Tiefenwirkung zu verleihen, die eine
schlichte moralische Verurteilung unmöglich macht. Er erliegt aber
auch nicht der Verführung, uns eine "normale Liebesgeschichte"
zu präsentieren. Anstatt das Normale im Abgründigen zu suchen,
problematisiert er die Liebe selbst als eine abgründige Erfahrung,
die in erster Linie darin besteht, jede Normalität zu durchbrechen.
Gerade in den liberalen Gesellschaften, die das Subjekt aufmuntern, seine
Freiheit vor allem im privaten Bereich auszuleben, wird das unangepasste
Sexualverhalten zu einem Ersatz für soziale Auflehnung. Um sich eine
kleine "Revolution" zu leisten, sucht man nach immer extremeren
Sexualpraktiken. Gleichzeitig steigert sich die Tendenz zur Instrumentalisierung
des geliebten Körpers: Man verliebt sich nicht mehr in ein Individuum,
sondern in seine sexuellen Vorlieben, die zur Basis für gemeinsame
Erfüllung werden. So lässt die in "Rohtenburg"
nachgezeichnete Geschichte, trotz der visuell ansprechenden Alptraumbilder,
den Zuschauer nicht die bequeme Voyeurposition einnehmen und hält
ihm stattdessen einen Spiegel vor, der auch denkbar beunruhigende Anblicke
nicht erspart.
Ekaterina Vassilieva-Ostrovskaja
*
CANNIBAL (D 2005)
DVD von Unearthed Films
(USA 2007)
Es beginnt wie eines jener psychoanalytischen Metamärchen
der englischen Literatin Angela Carter, die mit DIE ZEIT DER WÖLFE
(1983) auch zu filmischen Ehren gekommen war: In stilisiertem Gothic-Ambiente
liest die Mutter (mit der Stimme des Gothic-Szene-Starlets Manoush) einem
kleinen Jungen mit staunenden großen Augen das Märchen von
Hänsel und Gretel vor. Eine große Weinbergschnecke kriecht
über die Seiten und legt eine weitere symbolische Spur, die sich
am Ende des Films zu einem dramaturgischen Rahmen vollenden wird. Aus
dem Jungen wird ein Mann (Carsten Frank, der etwas wie Moby aussieht),
doch das Märchen bleibt bestehen, wenn es auch konkretere Form annimmt.
Ein pittoreskes Tableau breitet förmlich die Kulturgeschichte des
Kannibalismus vor uns aus: Von der menschenfressenden Hexe über den
Mythos der anthropophagen Insulaner bis hin zu den Serienkillern der westlichen
Zivilisation (Jeffrey Dahmer, Ed Gein) wird noch einmal der „Mythos
vom Zivilisationsprozess“ (Hans Peter Duerr) zur Debatte gestellt
– in gepflegt-theatralem Pastiche versteht sich, wie wir es von
Filmemachern wie Hans-Jürgen Syberberg und Peter Greenaway kennen.
Es war einmal: ein kleines, ländliches Städtchen,
ein netter, kahlköpfiger Mann mit Kinnbart, der die Straßen
durchstreift und kleinen Kindern die Schuhe schnürt – wenn
er nicht gerade nach einem geeigneten Stricher Ausschau hält. In
dialogfreien, zunächst distanziert gefilmten Szenen werden wir Zeuge,
wie seine offensichtliche Suche nach dem geeigneten Partner hne Erfolg
verläuft. Im Internet setzt er seine Suche fort, und erst allmählich
werden auch seine spezifischen Begierden deutlich, die die Suche so schwierig
gestalten: Er sucht nach dem „Fleisch“... – nach einem
jungen Mann, der sich von ihm verzehren lassen möchte. Dabei steht
seine Homosexualität weitgehend im Hintergrund. Der Film legt mit
einer eingeblendeten Schriftzeile gar nah, der Mann lehne ein weibliches
'Opfer’ nur deshalb ab, weil Frauen für das Leben zu 'wichtig
seien.’
Es ist erstaunlich, wie lange der von dem ambitionierten Kurzfilmregisseur
Marian Dora in streng stilisierten Bildern inszenierte Film ohne Dialoge
auskommt. Alles im Leben des Mannes scheint Ritual und Suche zu sein,
ein alltägliches soziales Leben findet nicht statt. Solcherart reduzierte
Perspektive findet sich allenfalls in Jörg Buttgereits makabren Dramen
NEKROMANTIK 2 und SCHRAMM – aber eben nur streckenweise. CANNIBAL
dagegen lehnt jede Verortung in konkreter Lebenswirklichkeit ab. Der Protagonist
scheint seit seiner von Märchen beeinflussten Kindheit in einer obsessiven
Traumwelt aufzugehen.
Die Stilisierung auf der Bildebene mittels betont künstlicher
Arrangements (etwa wenn der Mann nackt neben einer sitzenden Statuette
meditiert), farbiger Lichtsetzung (wie in einem giallo-Thriller von Mario
Bava) und dunstiger Luft spiegelt sich auch in der sorgfältig gestalteten
Tonspur, die mit Elementen von Alexander Hacke (Einstürzende Neubauten)
und Jim Thirlwell (Foetus) Verweise auf die frühe Industrial-Culture
verarbeitet. Die lange Exposition setzt den Film demnach in eine klar
definierbare Tradition: die mythische Re-Inszenierung der Zivilisationskrisen
und Tabus, das obsessive Wesen menschlicher Sexualität, die nach
Grenzüberschreitung (Transgression) zu gieren scheint, sowie die
modern-primitiven Rituale der Industrial-Culture, die ihrerseits mit den
Performances von Throbbing Gristle und S.P.K. zu Beginn der 1980er Jahre
der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten wollte. Es geht auch in CANNIBAL
weniger um Interpretation als vielmehr um die reine Invokation des Unfassbaren,
des Irrationalen, des reinen Begehrens, das sich in all seiner Destruktivität
dem Verständlichen entzieht. Insofern ist die frühe Spur des
‚psychoanalytischen Märchens’ durchaus eine Falle: CANNIBAL
lässt uns hier ins Leere laufen, zwingt uns, das Grauen vielmehr
in seiner pursten Form erleben. Sinnzuschreibung versagt angesichts der
Begierde im Leerlauf, die nur noch auf sich selbst verweist. Und wir sprechen
hier von der Lust auf Menschenfleisch...
CANNIBAL ist demnach kein Film über Gewalt, sondern
eher ein absonderlicher Liebesfilm – sofern man bereit ist, das
dialektische Begehren, verzehren zu wollen und verzehrt werden zu wollen,
in dieser Drastik zu teilen bereit ist. Die Inszenierung zumindest macht
es uns nicht einfach, Distanz zu der fatalen Logik dieses radikal-transgressiven
Begehrens einzunehmen: Der Mann findet ein ‚Opfer’ im Internet,
trifft sich mit dem jungen Mann auf dem freien Feld und nimmt ihm mit
auf seinen Gutshof, den er gemäß den eigenen Wünschen
präpariert hat. Die Rituale des männlich-sexuellen Werbens,
die zögerliche Direktheit in der Äußerung von Wünschen
und Begierden – all das erinnert an Ulli Lommels Film DIE ZÄRTLICHKEIT
DER WÖLFE (1974) mit Kurt Raab als Haarmann, ebenfalls ein knabenverzehrender
Athropophage. CANNIBAL hat keine Scheu, den homosexuellen Akt an sich
zu zeigen – und mit diesen sinnlichen und distanzlosen Mechanismen
eine Relationsebene für die späteren Kannibalismusszenen zu
etablieren.
Die Gleichung Sexualität, Schmerz, Tod und Leichenmahl
wird von Marian Dora in peinigender Konsequenz umgesetzt. Während
sein Film nicht nach der Spannungsdramaturgie des Genrekinos funktioniert,
sondern allenfalls ein eigentümliche Faszination entfaltet, kommt
es erst zur Hälfte der Laufzeit zum erwarteten Akt: In einer makabren
Vorstufe bittet der junge Mann, der sich mit „Ich bin Dein Fleisch“
vorstellte, den Protagonisten, ihm den Penis abzubeißen. Doch der
Begehrende versagt. Die Macht des Tabus scheint stärker als der Reiz
der Transgression. „Du bist zu schwach!“ verhöhnt ihn
sein ‚Opfer’. Die beiden Männer machen sich ernüchtert
auf den Weg zurück zum Bahnhof. Doch dort werden sie erneut von Begehren
ergriffen. Sie kehren in Haus zurück und der Mann schneidet seinem
„Fleisch“ den Penis mit einem Küchenmesser ab. Hier erreicht
die Inszenierung einen Level der ‚Authentizität’, den
sie von da an nicht mehr verlässt. Der Film ist so weit in den Kopf
des Kannibalen eingetaucht, dass er sich immer im Schnittpunkt des Begehrens
tummelt. Wir erleben die Amputation und ihre physischen Resultate ebenso
in allen Details wie auch alle folgenden Vorgänge: den vergeblichen
Versuch, den Penis zu braten und zu verzehren, die dilettantische Tötung
des jungen Mannes in der Badewanne, den von unwillkürlich ausgestoßenen
Körperflüssigkeiten begleiteten Transport seiner Leiche in die
Scheune und das Ausweiden der Leiche. Die fatale Logik und Drastik der
Inszenierung betrachtet selbstvergessen ein kaum fassbares Geschehen,
das niemals den Verdacht des Simulation aufkommen lässt. Was in anderen
Filmen wie DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER (1989) von Jonathan Demme oder
DER KOCH, DER DIEB, SEINE FRAU UND IHR LIEBHABER (1988) von Peter Greenaway
nur dezent angedeutet wird, was im Exploitationfilm stets nach einer dramaturgischen
Entschuldigung verlangt (die 'Wilden’, der 'wahnsinnige Killer’),
wird hier zum reinen, makabren 'Körperfest’. Erst mit dem finalen
Mahl, dem 'großen Fressen’ am üppig dekorierten Tisch,
sind wir wieder im theatralen Raum angelangt: Die Krise, das eigentliche
Drama bleibt hier aus. In der letzten Einstellung macht sich der Mann
wieder auf den Weg – eine erneute Suche? Das gesellschaftliche Regulativ
bleibt aus. Die Welt des Kannibalen ist zu unfassbar, um sich mit der
unseren zu überschneiden.
Wenn CANNIBAL schon keine psychologische oder ethische
Dimension anstrebt, so vermittelt er doch eines unmissverständlich:
das wahre Begehren ist jenseits von Gut und Böse, jenseits von 'zivilisierter
Moral’, zu suchen – sei es nun der Wunsch zu essen oder gegessen
zu werden. CANNIBAL ist ein erschütternder und berührender Film,
der die im Film ausgesparte Krise zwischen sich und seinem Publikum austrägt.
Das erfordert künstlerischen Mut, zweifellos. Zumal viele dazu neigen
werden, diesen Film für das zu hassen, was er in ihnen an Abgründen
berühren mag...
Marcus Stiglegger
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