Vera Cuntz

I didn’t sell out, Son. I bought in

Die amerikanische Punk-Bewegung und der Film SLC Punk!

 

„Die andauernden Verzerrungen, Übertreibungen und Klischees in den Medien haben einen Typus 'Punk’ erschaffen, der nichts mit den Konzepten, den politischen und sozialen Überzeugungen sowie der Vielfalt der Punkbewegung gemeinsam hat. Diese Sorte 'Punk’ wird sich der Punkbewegung in wachsender Zahl anschließen. In dem Moment […] wird der von den Medien vorgegebene Rahmen plötzlich zur Realität. Die moralischen Instanzen haben dann nachweislich Recht behalten, und die entsprechenden Aktionen, die die Kontrollgesellschaft für notwenig hält, um mit dem Problem fertig zu werden, werden legitimiert.“ (1)

Larry Zbach spricht von dem Phänomen des so genannten „Posers“ oder „Pseudos“, der alle klischeehaften Merkmale einer subkulturellen Bewegung in sich vereint, um etwas darzustellen, was einem normativen Gesellschaftsbild von Punk respektive dem einer anderen Subkultur entspricht. Auch der Film SLC Punk! thematisiert diesen Umstand, und Ziel dieses Essays ist es vor allem, aufzuzeigen, inwieweit der Film denn selbst seinen Beitrag zu einer verzerrten Darstellungsweise in der Öffent-lichkeit leistet. Bis dato findet die Jugendkultur 'Punk’ nur wenig filmische wie film-historische Berücksichtigung. Ein Grund hierfür könnte die Unzugänglichkeit des Themas für seinen „Szenefremden“ sein – James Merendino (2), Autor und Regisseur des Films SLC Punk!, stammt selbst aus der Straight Edge-Bewegung (3) und hat somit einen sehr persönlichen Bezug zur Thematik. Doch vielleicht liegt die indi-viduelle Sichtweise des Films auf die Punkbewegung genau in den Unterschieden zwischen Punk und Straight Edge begründet? Die Merkmale der realen Bewegung werden einem Vergleich mit ihrer filmischen Darstellungsweise unterzogen werden. Doch zur Einstimmung in das Thema folgen zunächst eine Klärung des Begriffes 'Subkultur’ und eine kurze historische Gegenüberstellung von britischer und us-amerikanischer Punkbewegung. Da es sich bei SLC Punk! um eine US-Produktion handelt und die Handlung des Filmes auch in den Vereinigten Staaten angesiedelt ist, werden Punkströmungen anderer Länder – die sich durchaus vom amerikanischen Profil unterscheiden – nur marginal Berücksichtigung finden.

 

Zum Begriff der Subkultur

In seinem Werk Theorie der Subkultur unterscheidet Rolf Schwendter (4) grundsätzlich zwei Typen von Subkultur: Teil- und Gegenkulturen. Unter Teilkultur versteht er eine in das gesellschaftliche System integrierte Konsumbewegung. Der Begriff Gegenkultur bezeichnet eine in Opposition zum gängigen Gesellschaftsmodell wir-kende Kultur. Schwendter nimmt für die Gegenkultur eine weitere Einteilung in pro-gressive und regressive Subkulturen vor. Der zentrale Unterschied zwischen beiden Richtungen äußert sich in der Form ihrer Gegenkulturalität. Während regressive Subkulturen danach streben, einen vergangenen Gesellschaftszustand wiederherzu-stellen, fordern die Anhänger und Institutionen progressiver Subkulturen eine grundsätzliche Neugestaltung der herrschenden Gesellschaftsstrukturen. (5) Schwendter sieht einen direkten Zusammenhang zwischen progressiven Subkulturen und anarchistischen Gesellschaftskonzepten.

„So gut wie alle progressiven Subkulturen stehen auf einem vage sozialistischen Standpunkt: die einen Gruppen machen sich mehr Illusionen, die anderen weniger. Anarchistische Illusionen bieten sich an […], proudhonistisch-stalinistische […], idealistische.“ (6)

„’Die Jugend’ hat sich in den letzten 25 Jahren in eine für die meisten Angehörigen älterer Generationen und sogar für viele Jugendliche selbst unüberschaubare Artenvielfalt oft widersprüchlichster Kulturen ausdifferenziert. […] Inmitten eines zah-lenmäßig nach wie vor dominanten jugendlichen Mainstreams entstanden unzählige Szenen und Cliquen […] mit jeweils eigenem Outfit und eigener Musik, eigener Sprache und eigenen Ritualen, mit zum Teil fließenden Übergängen und gleichzeitig scharf bewachten Grenzlinien, die für Außenstehende oft nicht einmal erkennbar sind.“ (7)

Eine Ausweitung des Begriffes Subkultur auf diese beinah unüberschaubare Fülle von Klein- und Kleinstkulturen erscheint kaum sinnvoll. Die Einführung des Begriffes 'Szene’ erscheint somit unumgänglich. Die Musik kann als kleinster gemeinsa-mer Nenner der Mitglieder einer Jugendszene betrachtet werden. Die Verknüpfung zwischen Szene und Musik ist starkes Indiz entweder für die Mainstreamorientiertheit oder die gegenteilige kommerzielle Unabhängigkeit vom Massengeschmack einer jeweiligen Szene. Je geringer die musikalische Kompatibilität einer Szene mit dem Massengeschmack, desto größer ist im Allgemeinen die Verschworenheit inner-halb der Szene. Die Subkultur Punk erfuhr seit ihrem Entstehen bis heute eine Auf-splittung in unzählige Szenen (8), so dass von einer einheitlichen Bewegung mit identischer Zielsetzung, Mode oder Musik keine Rede sein kann.

 

American Punk

„Im Herbst des Jahres 1976 konnte man in London regelrecht spüren, wie die Welt sich bewegte und ins Beben geriet. Ich spürte, dass das, was wir in New York als Witz begonnen hatten, in England von einem jüngeren und brutaleren Publikum ernst genommen wurde. Und dass es sich in der Übersetzung verändert, etwas ganz ande-res losgetreten hatte.
Was für mich in New York als eher erwachsene und intellektuelle Boheme-Rockkultur angefangen hatte, war zu einer verrückten Teenagerangelegenheit geworden. […] Ich war sprachlos. Da stand ich also hinter der Bühne [bei einem Punk-Konzert in London], und davor waren hunderte von jungen Kids, wie Albträume, wie schaurige kleine Geister mit grellrot gefärbtem Haar und bleichen Gesichtern. Alle trugen Ket-ten und Hakenkreuze und Sachen, die sie sich an den Kopf gesteckt hatten, und ich war völlig konsterniert: „Mein Gott, was haben wir da angerichtet? Was haben wir bloß in die Welt gesetzt?“
Ich hatte den Eindruck, dass dies alles von uns ausgegangen war – und dass wir etwas kreiert hatten, was wir niemals beabsichtigt oder erwartet hatten. Aber der englische Punk war sehr viel explosiver und gereizter und viel gefährlicher.“ (9)

Mary Harron (10) schildert hier deutlich ihren ersten Eindruck der britischen Punk-bewegung Ende der 1970er Jahre und zeigt gleichzeitig einige auffällige Unterschie-de zum amerikanischen Phänomen Punk auf. Besonders auffällig waren für sie der Altersunterschied (11) und der modische Extremismus der britischen Szenevertreter.

Die Ursprünge der Punkbewegung sind in den USA zu finden, wo viele unterschied-liche Künstler relativ unabhängig voneinander in eine ähnliche Richtung arbeiteten und erst im Nachhinein unter dem Begriff Punk miteinander verbunden wurden. The Velvet Underground aus New York werden als musikalischer Wegbereiter der Punkbewegung gesehen. Der Sonderling, Gitarrist, Songwriter und Sänger Lou Reed war 1965 mit Pop-Artist und Kunstmäzen Andy Warhol in Kontakt gekommen, der für seine Factory auf der Suche nach einer Hausband war. Die morbide Stimmung der Musik gefiel Warhol auf Anhieb. Er bestand jedoch darauf, Nico (12) als Front-sängerin einzusetzen, da Lou Reed seiner Meinung nach wenig repräsentativ war und nicht singen konnte. The Velvet Underground hatten für den Punk vor allem durch die inhaltliche Ausrichtung der Texte Vorreiterfunktion: Drogen und Sex. Neben The Velvet Underground waren für die Entwicklung des Punk Rock auch Bands wie Iggy Pop & The Stooges oder MC5 und die Sängerin Patti Smith wichtig, als erste „echte“ Punkband gelten jedoch die 1972 gegründeten New York Dolls. Sie spielten zwar klassische Rock’n’Roll-Musik, doch ihre Songs fielen durch ungewöhnliche zeitliche Kürze in einer Zeit der opulenten Rockepen auf. Populäre Bands wie The Doors, Deep Purple oder Led Zeppelin veröffentlichten in dieser Zeit Songs mit technisch ausgefeilten Gitarrensoli und teilweise über zehn Minuten Länge. Die New York Dolls und die 1974 ebenfalls in New York gegründeten Ramones legten im Gegen-satz dazu keinerlei Wert auf technische Perfektion.

„Sie [The Clash] hatten Angst zu spielen, bis sie die Ramones hörten: „Jetzt, wo wir die Ramones gehört haben, werden wir erst eine Band.“ Die Ramones rieten ihnen, einfach nur zu spielen. „Kommt aus euren Kellern raus und spielt. Genauso haben wir’s gemacht.“ Im Grunde sagten die Ramones ihnen das, was sie unzähligen anderen Bands auch gesagt hatten: „Ihr müsst nicht besser werden, geht einfach raus, ihr seid so gut, wie ihr seid. Wartet nicht, bis ihr besser seid, wie wollt ihr das jemals wissen? Geht ein-fach raus und spielt.“ Die Ramones hatten das von den New York Dolls gelernt, dieses „Worauf warten wir noch?“.“ (13)

The Ramones lösten nicht nur bei britischen Bands wie The Clash, The Damned oder Siouxsie And The Banshees eine Initialzündung aus, auch in den Vereinigten Staaten gingen neue Bands wie etwa die Dead Kennedys oder später Bad Religion und The Exploited auf die Bühne. Waren die Dead Kennedys musikalisch zwar stark durch die Ramones beeinflusst worden, so waren sie es aber, die dem amerikanischen Punk eine linkspolitische Komponente hinzufügten. Einer ihrer größten Erfolge – „Cali-fornia Über Alles“ – befasst sich beispielsweise mit der Verwandlung Kaliforniens in ein faschistisches Regime.
Während The Ramones ihr Konzept der Unprofessionalität erfolgreich weiterführten, lösten sich die New York Dolls 1975 auf, nachdem der spätere Sex Pistols-Manager Malcolm McLaren – in London auf ihr ungewöhnliches Bühnenoutfit aufmerksam geworden – versucht hatte, ihnen einen politischen Anstrich zu geben.

Während die amerikanische Punkkultur sich aus der New Yorker Kunstszene heraus entwickelt hatte, waren die englischen Punks nach dem Ende der Wirtschaftwunder-Ära „die erste Generation […], der es nicht besser gehen würde als ihren Eltern.“ (14)
Denn Verbildlichung des Drecks der Straßen, der Feindseligkeit der Gesellschaft und den Verlust des Glaubens an eine bessere Zukunft waren für sie die Grundfesten der Punkideologie.
Der Film SLC Punk! spielt im Mittleren Westen der USA Anfang der 1980er Jahre. Es muss jedoch genauer untersucht werden, inwieweit er repräsentativ für die reale amerikanische Punkbewegung dieser Zeit zu werten ist. Anhand verschiedener As-pekte des Films wird im Laufe dieses Aufsatzes deutlich werden, welche Szene eigentlich beleuchtet wird.

 

Pubertät und Jugendkultur

“As a parent, I was concerned when my kid came home looking that way. But my son has always been philosophical about the punks and the rednecks and somehow we got through it all.” (15)

“I didn’t sell out, Son. I bought in.” (16)

James Merendinos Vater stellt in einem Interview klar heraus, sein Sohn habe zwar immer engen Kontakt zu Jugendszenen gesucht, doch sei dies nie problematisch für das Familiengefüge gewesen, da eine Betrachtung stets von einem philosophischen Standpunkt aus stattgefunden hätte. In gewisser Hinsicht existiert eine Parallele zwi-schen beiden Aussagen, denn die Vaterfigur in SLC Punk! vertritt einen ähnlichen quasi philosophischen Standpunkt: die Subkultur wird von außen betrachtet, doch der Dreh- und Angelpunkt des Lebens findet innerhalb der gesellschaftlichen Normen statt – ob nun aus materialistischen oder revolutionären Absichten. Subkultur kann laut Film nur eine vorübergehende Station auf diesem Weg sein. Der Film SLC Punk! skizziert Jugendkultur als normalen und wichtigen Schritt des Erwachsenwer-dens. Diese Lebensphase der Identitätsfindung durchlaufen alle Jugendliche, die im Film gezeigt werden, also nicht nur Punks, sondern auch beispielsweise Skinheads und Mods.
Die Erzählerfunktion Stevos impliziert, dass die Bewegung als Episode der Vergan-genheit zu bewerten ist. Der Film soll die Geschichte eines bestimmten Zeitraums erzählen, die inzwischen der Vergangenheit angehört, weil die Protagonisten ihr entwachsen sind. Gleichzeitig impliziert dies aber auch unterschwellig, dass die Punkbewegung keine dauerhafte Zukunft hat. Unterstützt wird dieser Eindruck beim Zuschauer durch eine verflachte Darstellung der Bewegung: SLC Punk! beleuchtet nur den rein pubertären Aspekt der Bewegung und stellt es dem Zuschauer als einzi-ge Möglichkeit zur Verfügung, Punk zu verstehen. Damit beschreibt der Film jedoch erwiesenermaßen einen Aspekt, der weniger auf die amerikanische Ausrichtung der Bewegung als auf die britische zu übertragen ist.

„Ein Vergleich zeigt, daß [sic] unter dem gleichen Namen unterschiedliche Stile und Strömungen zusammengefaßt [sic] werden. Die britischen Punks sind mehrheitlich 13-19 Jahre alt, es sind weiße Europäer mit häufig proletarischer Herkunft. Ganz anders die amerikanischen Punks: sie gehören der Mittelklasse an, sind meist schon Mitte 20, und sie haben durchaus Interesse für Politik, Philosophie und Literatur.“ (17)

SLC Punk! pauschalisiert in dieser Hinsicht keineswegs. Er skizziert Punk als Auf-fangbecken für alle an der Gesellschaft Scheiternden. Denn Mitglieder unterschied-lichster Gesellschaftsschichten treffen sich aus ähnlichen Motivationen in der Punk-Bewegung, nämlich um dort die Anerkennung zu finden, die ihnen in der „normalen“ Gesellschaft bisher verwehrt blieb – Stereotype wie etwa das des Richkids, des Losers oder des Muttersöhnchens werden benutzt. Stevo entstammt einer gut situierten Familie mit schönem Eigenheim und zerrütteter Ehe, während sein Freund Bob aus sehr armen Verhältnissen stammt und aufgrund der Alkoholsucht seines Vaters schon früh auf sich allein gestellt war.

 

Initiationsriten

„Jede Gesellschaft gewährt dem in ihr nachwachsenden Personal eine Phase, in der den Jugendlichen abverlangt wird, gegen die Schranken eben jener Gesellschaft anzurennen, Normen zu verletzen und Tabus zu brechen. Das ist der strukturelle Hin-tergrund, der alte Muster der Initiationsriten übernimmt und vor dem der Jugendliche mehr über die Funktionsweisen und Konstruktionen der gesellschaftlichen Wirklichkeiten erfährt. Gleichzeitig versichert sich damit die Gesellschaft der eigenen Nor-men- und Wertesysteme, der schriftlich niedergelegten und der sogenannten unge-schriebenen.“ (18)

SLC Punk! erzählt die Geschichte von Stevos Übergang vom pubertierenden Punk hin zum vernünftigen jungen Erwachsenen. Berücksichtigt man ebenfalls die Rück-blenden, so zeichnet der Film die Initiation der Hauptfigur von dessen Kindesalter an nach. Die Punkbewegung wird hier als Ventil eines vollständigen Erwachsenwerdens verwendet, welches mit einem Ausbruch aus dem System der Elterngeneration zu Anfang der Pubertät beginnt und mit einer Reintegration in dieses System endet. Auffälligste Kennzeichen von Stevos Initiation sind die wechselnden Haarfrisuren. In der Rückblende in seine Kindheit hat er einen konventionellen und vor allem prak-tischen Kinderhaarschnitt in seiner Naturhaarfarbe. Es wird klar, dass er sich einer-seits noch keine Gedanken um sein Äußeres macht und andererseits seine Eltern modische Entscheidungen für ihn nach funktionalen Gesichtspunkten treffen. Den Be-ginn der Pubertät markiert der Film unterschwellig über die Frisur als Zeitpunkt der stärksten Auflehnung gegenüber dem Elternhaus und den Idealen der amerikanischen Gesellschaft. Stevo wird im Streitgespräch mit seinen Eltern gezeigt, wobei er einen überdimensionalen blauen Irokesenschnitt (Abb. 1) trägt.

 

Dieser Irokesenschnitt steht aber gleichzeitig auch für die persönliche Unsicherheit Stevos. Er hat innerhalb der Szene noch keinen etablierten Stand, weshalb er auf sich aufmerksam machen muss. Die Frisur soll den anderen Jugendlichen zeigen, wie „Punk“ Stevo ist.

„Sie [die Jugendlichen] wollen überraschen, schocken, irritieren und nicht erkannt und festgelegt werden. Der Protest gegen berechenbares Handeln findet sich bei den Punks deutlich wieder: sie demonstrieren spontane Unhöflichkeit, wehren jeden Sympathie-Akt ab, zelebrieren ihre Kleidung (stundenlang arbeiten sie an ihren Frisuren), die in der Negation aller Maßstäbe, in der Zitation von Müll, selbst die Revolte darstellt. Damit ist Mode zur Lebensphilosophie geworden.“ (19)

 

Stevo verwendet wesentlich weniger Zeit und Energie in sein Aussehen, als er sich seinen Platz in der lokalen Punkszene erkämpft hat. Seine blauen Wuschelhaare (Abb. 2) stehen für die Akzeptanz durch die Szene und gleichzeitig für die beginnende Reflektion Stevos des Verhaltens seiner Eltern und anderer gesellschaftlich akzeptierter Institutionen, das der anderen Jugendlichen und seiner eigenen Lebensphilo-sophie. Als Prototyp des weißen Amerikaners der gehobenen Mittelschicht lässt sich folgendes Zitat gut auf Stevos Figur übertragen:

„Da Punk inzwischen mehrheitlich aus Menschen besteht, die der weißen Mittelschicht entstammen und nicht mehr der weißen Unterschicht (oder anderen benachteiligten Gruppen), ist es heute ein wichtiger Schritt, die eigene privilegierte Stellung in der Gesellschaft abzulehnen.“ (20)

Stevos Verachtung gegenüber den Idealen und dem Werdegang seiner Eltern und der damit einhergehende familiäre Wohlstand sind durchaus als Gründe für seine Rebel-lion zu werten.
Der unerwartete Drogentod seines Freundes Bob bildet den Abschluss dieses Reflektions- und Entwicklungsprozesses. Stevo möchte nun doch studieren und dann das System „von innen heraus“ zerstören, er geht den Weg, den seine Eltern ursprünglich für ihn vorgesehen hatten. Der Film lässt zwar offen, ob Stevo die Prinzipien von gegenseitiger Akzeptanz und Eigenverantwortung (21) der Punk-Bewegung verinnerlicht hat, doch da seine Eltern als ehemalige Hippies skizziert werden, die ihre Vergangenheit anekdotenhaft erwähnen und in keiner Form mehr leben, erscheint es fraglich.

 

Der geschorene Kopf (Abb. 3), den Stevo an Bobs Beerdigung hat, ist symbolisch doppelt besetzt. Einerseits steht er für eine Gefangennahme durch die Gesellschaft, da über die Frisur beim Zuschauer die Assoziation mit Häftlingen herbeigeführt wird. Andererseits symbolisiert die Glatze aber auch einen Neuanfang: Stevo hat sich von den bunten Haaren verabschiedet, und nun kann etwas Neues wach-sen/entstehen.

Die Initiation von Heroin-Bob wird anders visualisiert: Seine Figur zeichnet sich von Anfang an durch ein Streben nach absoluter Autonomie aus. Von den anderen Schul-kindern will er nicht akzeptiert werden, er will seine „eigenen Partys machen.“ (22) Nicht nur von seinen Eltern und der Schule, auch vom Krankenhaus grenzt er sich klar ab, er vertraut niemandem und lässt auch niemanden an sich heran. Trish und die aufrichtige Liebe, die er für sie empfindet, bringen ihn dazu, Nähe und Schwächen zuzulassen. Er hat plötzlich eine Vorstellung von seiner Zukunft und macht Pläne. Durch seinen tragischen Drogentod bleibt es jedoch nur bei Plänen. Im Gegensatz zu Stevo kann er die Entwicklung zum Erwachsenen nicht abschließen.

Merkmale der Punkbewegung in Film und Wirklichkeit
Bemerkenswert ist ausserdem, dass Merendino in der Figurenkonzeption ebenfalls pauschalisierend jede Figur als eigenen Typus angelegt hat. Es gibt praktisch keine Schnittmengen zwischen den Figuren. Dies kann als Indiz für eine klischeehafte Darstellung beurteilt werden.

 

Im obenstehenden Bild (Abb. 4) sind der Typus des Punks aus gutem Hause (Ame-rican Punk), der Typus des Punks aus dem Proletariat (British Punk) und der des ho-mosexuellen Szenekenners zu sehen. Weitere interessante Archetypen sind bei-spielsweise der Wandler zwischen den verfeindeten Szenen John oder die erfahrene, abgehobene Szenekönigin Trish.
Die Jugendkultur Punk lässt sich – folgt man den Aussagen des Films SLC Punk! – auf fünf Merkmale herunterbrechen: Anarchie, Mode, Drogenkonsum, laute Musik und Gewalt. Jedes dieser Kriterien soll nun im folgenden eingehender analysiert werden.

 

Anarchie

In SLC Punk! wird mehrfach betont, dass die Punks und ihre Freunde in Salt Lake City einem Zustand totaler Anarchie frönen. Eine korrekte Anwendung der Begriff-lichkeiten Anarchie und Anarchismus ist überaus wichtig für die Unterscheidung zwischen Theorie und realer Umsetzung, sowohl im Film als auch in der Realität. Die Verknüpfung zwischen Anarchismus und Punk ist nicht frei erfunden, allerdings nicht neu oder spezifisch. Progressive Subkulturen und ein anarchistisches Gesell-schaftsbild haben eine lange Tradition.

„Anarchistische Subkulturen waren von 1850 bis 1937 in der Geschichte der Subkul-turen von großer Bedeutung; am wesentlichsten revolutionären Versuch des 19. Jahrhunderts (der Commune 1871) hatten neben den Blanquisten die Proundhonisten den größten Anteil […] Anarchismus (Godwin 1793) seien beide Produkte des bür-gerlichen Zeitalters zwischen Französischer und Russischer Revolution.“ (23)

Einer der ersten anarchistischen Theoretiker Pierre-Joseph Proudhon (24) erläutert die Unmöglichkeit von Wohlstand ohne die Herrschaft von wenigen über die Masse. Er sieht Privateigentum als Diebstahl an.

„Now, if the sovereignty of each citizen can and should be proportional only to his property, it follows that the small stockholders are at the mercy of the larger ones, who will, as soon as they choose, make slaves of the former, marry them at pleasure, take their wives, turn their sons into eunuchs, prostitute their daughters […] Property is incompatible with political and civil equality, and so property is impossible.” (25)

Im Gegensatz zu Proudhon lehnt Peter Kropotkin (26) eine absolute Individualität ab, sondern versteht funktionierenden Anarchismus als das Leben in einer Gruppe nach naturgegebenen Gesetzen, deren schriftliche Fixierung überflüssig ist (27). Sei-ner Meinung nach kann durch die modernen Arbeitsbedingungen trotzdem ein ge-sellschaftlicher Gesamtwohlstand bewirkt werden. Die individual-anarchistische Strömung hat seiner Auffassung nach keine reale Umsetzbarkeit, da zwischen Men-schen zwangsläufig Abhängigkeitsverhältnisse entstehen. Diese zwischenmenschli-chen Beziehungen müssen laut Kropotkin jedoch nicht zwangsläufig zu einer Kate-gorisierung in Herrschende und Beherrschte führen. (28)

„Wir stellen uns eine Gesellschaft vor, in der die zwischenmenschlichen Beziehun-gen durch freiwillig eingegangene und jederzeit wieder auflösbare gegenseitige Ver-pflichtungen sowie durch freiwillig bejahte Gebräuche und Gewohnheiten geregelt werden – nicht mehr durch Gesetze, dem Erbe einer Vergangenheit in Unterdrückung und Barbarei, auch nicht mehr durch irgendwelche Autoritäten, seien es ge-wählte oder ererbte.“ (29)

Die Einhaltung von gewissen „Naturgesetzen“ und gegenseitige Akzeptanz sind Grundfesten des anarchistischen Gesellschaftsbildes nach Kropotkin – anwendbar sind diese natürlich nicht nur global, sondern auch im „kleinen“, beispielsweise in Szenen oder Subkulturen. Entgegen der landläufigen Meinung (30), Anarchismus würde totales Chaos und Gesetzlosigkeit bedeuten, wurden durchaus denkbare anar-chistische Gesellschaftsmodelle entworfen.

SLC Punk! vermittelt jedoch ein Bild von Anarchismus als Sich-Selbst-Verschwenden. Bob und Stevo leben Anarchie, was für sie scheinbar keine tief grei-fende politische oder gesellschaftliche Ebene hat, sondern sich ausschließlich auf ihren persönlichen Zustand bezieht, in dem sie sich keinerlei Autoritäten unterwer-fen. Dabei begehen sie eine Gratwanderung zwischen proudhonistischem Mikrokos-mos und halbgaren Erklärungsversuchen ihrer Unmotiviert- und Faulheit.
Wie stark die individuelle Auseinandersetzung mit dem theoretischen Begriff des Anarchismus innerhalb der Punkbewegung ist und war, lässt sich nicht messen, und daher bleibt unbewiesen, ob sich hinter der Verbindung von Punk und Anarchismus eher eine reale politische Gesinnung oder aber nur reine Protesthaltung gegenüber der Ideale der Elterngeneration verbirgt.

 

Mode

„Ich fand Richard Hell (31) einfach unglaublich. […], er war ein total kaputter, de-struktiver und abgerissener Typ, der aussah, als wäre er einem Abwasserkanal ent-stiegen. Er sah aus wie mit einer Schleimschicht überzogen und als hätte er seit Jah-ren nicht geschlafen und sich seit Jahren nicht gewaschen und als würden sich alle einen Dreck um ihn scheren.
Und er sah aus, als wären ihm seine Mitmenschen scheißegal!
Er war ein wunderbarer, gelangweilter, heruntergekommener, verängstigter, schmut-ziger Typ in einem zerfetzten T-Shirt.
[…] Und dann dieser Look, das Aussehen dieses Typen, die stacheligen Haare und alles an ihm – es war keine Frage, dass ich all das mit nach London nehmen würde. Ich hatte mich durch ihn inspirieren lassen und wollte seinen Look kopieren und all das in etwas Britisches umwandeln.“ (32)

Malcolm McLaren kehrte Mitte der 1970er Jahre nach London zurück zu seiner Ehe-frau, der Modedesignerin Vivienne Westwood, und ihrer gemeinsamen Boutique „Sex“. Er begann das Management verschiedener Musikgruppen – unter anderem das der Sex Pistols – während sie die passende Mode zur Bewegung erschuf. Die Inspira-tionen, die McLaren aus den USA mitbrachte, flossen unverkennbar in das ein, was als britische Punk-Mode in die Geschichte einging. Charakteristische modische Merkmale für Punk sind beispielsweise zerschlissene enge Hosen kombiniert mit weiten zerschnittenen T-Shirts und schweren Arbeiterstiefeln. Der Irokesenschnitt und/oder grell gefärbtes Haar und die Verwendung von verschiedenen Accessoires wie Sicherheitsnadeln, Aufnähern und Buttons sind Merkmale der Punkmode.

„Eine Rückenpartie kann nicht voluminös, ein Kleid nicht ganz 'ohne Linie’ sein – einfach aus Gründen ästhetischer Verbote, die in der Zivilisation insgesamt (nicht nur in der Mode) wurzeln. Es gibt auch gewisse psychologische Verbote: Strümpfe dürfen nicht rutschen (fallende Bewegung), weil dies als Zeichen von Schlaffheit und Vernachlässigung gelten würde.“ (33)

Punkmode setzt sich über diese Verbote hinweg. Zielsetzung ist es, durch die Optik eben diese ästhetischen und psychologischen Tabus zu brechen. Da Punk aber durch die bewusste Hinwegsetzung über diese Prinzipien ebenfalls ein modisches State-ment macht, beschreibt der Begriff „Antimode“ den Punkstil vielleicht am treffends-ten. In gewisser Weise ist sie eine Mode, die sich bewusst modischen Grundsätzen zu entziehen versucht.

„Vielleicht ist die Punk-Mode so schwer zu verstehen, weil sie mit ästhetischen Mitteln gegen ästhetische Gewohnheiten angeht: es geht um die „Demonstration einer strikten Feindseligkeit gegen Luxus, Massenkonsum und serielle Reproduzierbarkeit.“ (34)

Ein modisches Zeichen wie etwa zerrissene Hosen sieht nicht nur ungepflegt aus, sondern es bedeutet auch Schmutz. Ein mit einer Sicherheitsnadel zerstochenes Ohr-läppchen ist nicht nur schmerzhaft, es bedeutet auch Schmerz. (35)

Der Film SLC Punk! wertet die Auseinandersetzung der Punks mit Mode als reine Oberfläche herab. Je aufwändiger das Styling einer Figur, desto geringer ist ihr Interesse für die Welt außerhalb der Szene. Mike beispielsweise wird von Stevo zwar als Punk beschrieben, doch sein Aussehen entspricht eher dem Klischee eines introver-tierten Bücherwurms. Über ihn erfährt schließlich der Zuschauer, dass er in den Regenwald ausgewandert ist und sich dessen Schutz zur Lebensaufgabe gemacht hat. Brandy wirft Stevo hingegen auf ihrer Party Oberflächlichkeit vor, da er ihrer Mei-nung nach, Zeit, die er auch anderweitig nutzen könnte, auf sein Outfit verwendet.

 

Drogenkonsum

SLC Punk! ist ebensoviel Film über Punk, wie er auch Film über Drogen ist. Der Konsum harter illegaler Drogen ist – anders als etwa in der Technoszene (36) – eher untypisch für die Punkbewegung. Vielmehr fungiert nahezu ausschließlich Alkohol „als notwendiges Utensil zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaft […].“ (37) Im Film wird dies in der Szene dargestellt, in der Stevo, Bob und Eddie extra in ei-nen angrenzenden Bundesstaat fahren, um Alkohol einzukaufen.

Auch wenn Stevo die exponierte Hauptfigur des Filmes ist, sind Sean, Heroin-Bob und ihre Drogenerfahrungen für die Geschichte von zentraler Bedeutung. Für die Interpretation der Drogen im Film sind der persönliche Hintergrund und die Zugehö-rigkeit zur Straight Edge-Bewegung des Autors und Regisseurs Merendino entscheidend.

Craig O’Hara fasst den Grundgedanken von Straight Edge folgendermaßen zusam-men: „Man muss keinen Alkohol trinken, keine Drogen nehmen und nicht rauchen, um sich zu amüsieren.“ (38) Allerdings sieht er eine negative Entwicklung dieser Punk-Splittergruppe:

„Inzwischen sehen Straight Edger eher wie Leistungssportler aus, nicht mehr wie Punk-Außenseiter. Punk wird wegen seiner Negativität von vielen sowieso pauschal abgelehnt. Innerhalb der einstigen Gegenkultur haben sie eine eigene Sekte entstehen lassen. Was einmal angetreten war, um Punk zu verbessern und dem Druck der Gleichaltrigen zu entgehen, ist in eine Szene voller Selbstgerechtigkeit und Herden-mentalität gemündet.“ (39)

Vor diesem Hintergrund erscheint es nahe liegend, dass der Film sich gegen Punk und den Drogenkonsum innerhalb der Bewegung richtet. An der Figur des Sean zeichnet Merendino eine klassische Drogenkarriere vom Gelegenheitskiffer über den kleinen Drogendealer hin zum völlig durchgedrehten Junkie nach. Heroin-Bob wird als eine Art Vorläufer der Straight Edge-Bewegung skizziert, der harte Drogen strikt ablehnt und Paranoia vor Spritzen hat. Ironischerweise ist gerade er es, der einen Drogentod stirbt, weil er sich mit den falschen Leuten eingelassen hat, die ihm den Stoff als harmlose Kopfschmerztablette verabreichen. Durch seinen Tod werden Ste-vo die Augen bezüglich der Szene und seiner persönlichen Zukunft geöffnet, was Bob quasi zum Märtyrer macht.

 

Laute Musik

Der Zugang zu einer Jugendkultur findet meist zuerst über die Musik statt. Eine be-stimmte Musikgruppe wird beispielsweise von Freunden oder in den Medien mit einer bestimmten Jugendbewegung in Verbindung gebracht, und schon stellt der Mu-sikkonsument selbst eine Verbindung zwischen sich und der Szene her. (40)

Im Film SLC Punk! kommt eine patriotische Komponente hinzu. Für den Soundtrack wurden ausschließlich amerikanische Genrevertreter herangezogen, mit denen sich laut Film die Jugendlichen identifizieren können. Mit der Parole „Anarchy in the UK“ der Sex Pistols kann Stevo nichts anfangen, für ihn ist bei der Wahl seiner Mu-sik die Thematisierung der amerikaspezifischen Probleme wichtig, wie dies etwa bei den Dead Kennedys der Fall war. Außerdem vermittelt Punk durch die Simplizität der Musik einen Eindruck von Nähe zwischen Musiker und Rezipient – jeder kann Musiker und Künstler sein – und stellt gleichzeitig eine Kritik an der Musikindustrie dar.

„[…] das Zurück zu den Wurzeln des Rock ’n’ Roll [ist] für sich gesehen schon eine Verneinung der Geschäftspraktiken der großen Plattenkonzerne und in der musikali-schen Klarheit des Punk eine politische Überzeugung – die Garagenband ist ein An-griff auf das Starsystem.“ (41)

Für das von Punk vermittelte Lebensgefühl spielt des Weiteren die enorme Lautstärke der Musik eine bedeutende Rolle. Sie dient dazu, die Sorgen des Einzelnen auszu-blenden und in der Gemeinschaft der anderen Punks aufzugehen. Lou Reed bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Musik kann nie laut genug sein. Am besten steckt man seinen Kopf in den Lautsprecher. Lauter, lauter, lauter.“ (42) Gleichzeitig dient sie auch als offenkundige Provokation nach außen: Ihr Genuss ist sowohl erwiesener-maßen gesundheitsschädlich, als auch eine Belästigung für Außenstehende.

 

Gewalt

Musik kann auch ein Ventil zum Frustabbau sein, der Pogo-Tanz der Punks mit sei-ner im ersten Augenblick ungeordnet wirkenden Gewalt ist es in jedem Fall. Die Dynamik des Tanzes im Zusammenwirken mit der lauten Musik und dem Miteinan-der in der Gemeinschaft der Punks funktioniert sowohl als Ausdruck der Selbstzu-friedenheit und des Individualismus als auch als Rebellion gegen gängige Konventi-onen.

„Während der traditionelle Paartanz signalisiert: „Wir gehören dazu, kennen und beachten die Regeln“, sagt der Punk-Pogo etwas ganz anderes: „Wir wollen nicht dazugehören, gehören nur uns selbst und verachten Regeln und Riten derer, die mei-nen, aufgrund von Status und Position die besseren zu sein.“ (43)

Pogo ist auch Ausdruck für den sozialen Umgang miteinander innerhalb der Szene. Denn auf den zweiten Blick folgt dieser Tanzstil ungeschriebenen Gesetzen, die je-der Tanzende zu beachten hat: Pogo kann prinzipiell überall und zu jeder Zeit getanzt werden. Stürzt ein Teilnehmer, muss er von den anderen aufgehoben werden, um Verletzungen aller zu vermeiden.

„Für den Ablauf des Miteinanders gibt es keine festen Regeln, diese müssen – ganz genau genommen – laufend neu ausgehandelt werden. Jeder neu hinzukommende oder die Gruppe verlassende Tänzer, jeder Tempowechsel in der Musik, jeder – wie auch immer geartete – Gesinnungswandel eines Tanzenden – all das sind Möglich-keiten, aus einem blessurenfreien Pogo eine Massenschlägerei – oder umgekehrt – entstehen zu lassen.“ (44)

Der Film SLC Punk! reißt die Bedeutung von Tanz als Ablassventil von Gewalt und als sich unablässig neu formierendes Gesellschaftsmodell nur kurz an, um sich dann der destruktiven Komponente der Punkbewegung zu widmen. Der eigentlich ruhige Typ Mike leidet unter einer Form von Aussetzern, in denen er beispielsweise Autos demoliert. Die anderen Punks liefern sich Schlägereien mit Rednecks oder Neonazis, doch ihre genauen Beweggründe hierfür lässt der Film im Unklaren, was beim Zu-schauer den Eindruck erweckt, diese Prügeleien würden zum Spaß geschehen und die Teilnehmer hätten keinerlei ernsthafte Motive für ihre Auseinandersetzungen.

 

Merendinos Film SLC Punk!

James Merendino unternimmt mit SLC Punk! den Versuch einer kritischen Ausei-nandersetzung mit der Subkultur: Der Film beleuchtet Punk nicht rein idealisierend wie etwa Gregor Schnitzlers Hausbesetzergeschichte Was tun, wenn’s brennt?, eben-falls mit Til Schweiger in einer der Hauptrollen. Dort wird die alternative Szene Ber-lins aus den 1980er Jahren pauschal als wunderbare Zeit voller Spaß und ohne Ver-pflichtungen gezeichnet, um deren Verlust es sehr schade ist und die in der Gegen-wart wieder beschworen werden soll.

Allerdings wird der Eindruck einer differenzierten Behandlung des Themas 'Punk’ in SLC Punk! durch die augenfällige willkürliche und historisch nicht beweisbare Verwendung von Versatzstücken der amerikanischen und der britischen Strömung ge-trübt. Der Autor stellt vor allen Dingen das Thema Drogen in den Vordergrund, um ein gängiges Klischee, was es wohl für beinah jede Jugendbewegung – mal abgesehen von Straight Edge – gibt, zu bedienen und Punk als pubertäres Phänomen abzu-urteilen, was inzwischen längst der Vergangenheit angehört. Punk hat – folgt man SLC Punk! – keine langfristige gesellschaftliche Bedeutung oder ernsthafte politische Ambition, sondern ist eine denkbare, gesunde Entwicklungsphase eines Jugendlichen auf dem Weg zu einem verantwortungsvollen Erwachsenen. Und durch diesen inhaltlichen Mangel hat die Bewegung laut Film auch keine Zukunft.

Da sowohl diese pauschale Verneinung von Inhalten als auch die zeitliche Begrenzung auf ein oder zwei Jahrzehnte offensichtlich zu kurz greifen, muss die Betrach-tung von Punk als abgeschlossene Episode bezweifelt werden. Gerade die derzeitige Repolitisierung (45) der Sub- und Jugendkulturen und die stetige künstlerische wie philosophische Fortentwicklung von Punk und dem Punk verwandten Stilrichtungen lassen vermuten, dass der gesellschaftliche Einfluss dieser Szene nicht vollständig verschwunden ist. Gesellschaftliche Missstände wie soziale Ungerechtigkeit und Ausgrenzung von Minderheiten sind nach wie vor aktuelle Themen, und Punk ist nach wie vor eine Antwort darauf.


Anmerkungen

(1) Harry Zbach zitiert nach O’Hara, 2004, S. 44/45.
(2) Merendino wurde 1967 in Rom geboren, zog aber bereits im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie in die USA. Gegenwärtig arbeitet er an The Swedish Job, einer Kriminalkomödie mit Harvey Keitel. (vgl. http://www.imdb.com/name/nm0580669/)
(3) Straight Edge entstand 1981 in Washington D. C. und bezeichnet eine ungewöhnlich konservative Jugendbewegung, die eine vegane Ernährung propagiert und allen Formen von Drogen und Gewalt-anwendung entsagt. (vgl. O’Hara, 2004, S. 139-147)
(4) Rolf Schwendter (*1939) studierte an der Universität Wien Rechts- und Staatswissenschaft und Philosophie. Nach zahlreichen Tätigkeiten als Regisseur, Dramaturg und Liedermacher hat er seit 1975 den Lehrstuhl für Devianzforschung an der Gesamthochschule Kassel inne.
(5) Vgl. Schwendter, 1993, S. 37-59.
(6) Schwendter, 1993, S. 144-145.
(7) Farin, 2001, S. 72.
(8) Anzuführen wären hier beispielsweise Hard- und Grindcore, Crust, Emo, Straight Edge und Grun-ge. (vgl. Büsser, 2004, S. 132)
(9) Mary Harron zitiert nach McCain/McNeil, 2004, S. 292.
(10) Mary Harron (*1956) war als Autorin der amerikanischen Zeitschrift Punk tätig, bekannt wurde sie unter anderem durch ihre Drehbuch- und Regiearbeit für den Film I shot Andy Warhol (vgl. Mc-Cain/McNeil, 2004, S. 498).
(11) Vgl. auch Baacke, 1998, S. 76
(12) Model, Schauspielerin und Sängerin Christa Päffgen alias Nico (1938-1988) sang 1967 auf dem berühmten Album mit Banane: The Velvet Underground and Nico, dessen Coverartwork von Andy Warhol stammte.
(13) Danny Fields zitiert nach McCain/McNeil, 2004, 279.
(14) Farin, 2001, S. 158.
(15) John Merendino zitiert nach Buttars, Lori: Film turns calendar back to S. L.’s Punk Era.
(16) Zitat nach Stevos Vater im Dialog mit seinem Sohn in SLC Punk!.
(17) Baacke, 1998, S. 76.
(18) Lau, 1995, S. 41.
(19) Baacke, 1988, S. 26-27.
(20) O’Hara, 2004, S. 40.
(21) Vgl. ebd.
(22) Zitat aus SLC Punk!
(23) Schwendter, 1993, S. 158-159.
(24) Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) proklamierte den Begriff Anarchie als Ordnung in Freiheit. Besonders zur Zeit der Französischen Revolution setzte er sich aktiv für die Umsetzung eines herr-schaftsfreien Systems aus kleinen, freiwillig zusammengeschlossenen Kommunen ein.
(vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Pierre-Joseph_Proudhon)
(25) Proudhon, 2002, S. 157-158.
(26) Peter Kropotkin (1842-1921) entstammte dem russischen Hochadel. Er war einer der ersten Für-sprecher des anarchistischen Kommunismus in Russland. Er entwarf die Theorie einer kommunisti-schen Gesellschaft ohne zentralisierte Kontrolle durch eine Staatsführung.
(vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Kropotkin)
(27) Vgl. Kropotkin, 2002, S. 54-58.
(28) Vgl. Kropotkin, 2002, S. 97-101
(29) Kropotkin, 2002, S. 65.
(30) O’Hara, 2004, S. 83.
(31) Richard Hell (*1949) war unter anderem Bassist und Sänger der amerikanischen Punkbands Television, Neon Boys und Richard Hell and The Vodoids (vgl. McCain/McNeil, 2004, S. 498).
(32) Malcolm McLaren zitiert nach McCain/McNeil, 2004, S. 243.
(33) Barthes, 1985, S. 181.
(34) Soeffner zitiert nach Baacke, 1988, S. 31.
(35) Vgl. Barthes, 1985, S. 270.
(36) Vgl. Baacke, 1998, S. 120.
(37) Lau, 1995, S. 39.
(38) O’Hara, 2004, S. 139.
(39) O’Hara, 2004, S. 143.
(40) Vgl. Farin, 2001, S. 91-93.
(41) Frith, 1998, S. 227.
(42) McCain /McNeil, 2004, S. 19.
(43) Baacke, 1988, S. 55.
(44) Lau, 1995, S. 40.
(45) Gerade nach dem Krieg im Irak 2003 und zur gegenwärtigen politischen Situation in den USA entstand ein regelrechter Hype der Punkbewegung mit zahlreichen musikalischen Neuveröffentli-chungen, darunter Bad Religion mit „The Empire Strikes First“ oder Green Day mit „American Idiot“.


Quellenverzeichnis

Baacke, Dieter: Wechselnde Moden. Stichwörter zur Aneignung eines Mediums durch die Jugend. In: Baacke, Dieter/Dollase, Rainer/Dresing, Uschi/Volkmer, Ing-rid: Jugend und Mode. Kleidung als Selbstinszenierung. Seite 11-65. Opladen 1988.

Baacke, Dieter: Jugend und Jugendkulturen. Darstellung und Deutung. 3. Auflage. Weinheim/München 1998.

Barthes, Roland: Die Sprache der Mode. Frankfurt am Main 1985.

Büsser, Martin: Historischer Bruch oder doch nur Rock’n’Roll Schwindel?. Punk und seine Wirkung auf den Film. In: Kiefer, Bernd/Stiglegger, Marcus (Hrsg.): Pop & Kino. Von Elvis zu Eminem. Seite 128-136. Mainz 2004.

Buttars, Lori: Film turns calendar back to S. L.’s Punk Era. In: The Salt Lake Trib-une. (http://www.matthewlillard.com/slcpunk.htm Stand 11.07.04)

Farin, Klaus: generation-kick.de. Jugendsubkulturen heute. München 2001.

Frith, Simon: Zur Ideologie des Punk. In: Kemper, Peter et al (Hrsg.): „but I like it“. Jugendkultur und Popmusik. Seite 226-231. Stuttgart 1998.

Kropotkin, Peter: Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie. 4. Auflage in der Trotzdem-Verlagsgenossenschaft eG. Grafenau 2002.

Lau, Thomas: Punk Was A Riot. Every Night A Rumble… In: Büsser, Martin (Hrsg.): testcard 1-1995 (September 1995). Themenschwerpunk #1: Pop und De-struktion. Seite 36-41. Mainz 1995.

McCain, Gillian/McNeil, Legs: Please Kill Me! Die unzensierte Geschichte des Punk. Höfen 2004.

O’Hara, Craig: The Philosophy of Punk. Die Geschichte einer Kulturrevolte. 3. Auf-lage der Übersetzung. Mainz 2004.

Proudhon, Pierre-Joseph: What is Property?. 4. Auflage in der Cambridge University Press Cambridge 2002.

Schwendter, Rolf: Theorie der Subkultur. 4. Auflage. Hamburg 1993.

http://www.imdb.com/name/nm0580669/ Profil von James Merendino auf der Inter-netMovieDataBase (Stand 06.10.2004)

http://www.imdb.com/title/tt0133189/ Informationen der InternetMovieDataBase zu SLC Punk! (Stand 13.07.2004)

http://www.imdb.com/title/tt0207198/ Informationen der InternetMovieDataBase zu Was tun, wenn’s brennt? (Stand 31.10.2004)

http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Kropotkin Informationen zu Peter Kropotkin (Stand 10.10.2004)

http://de.wikipedia.org/wiki/Pierre-Joseph_Proudhon Information zu Pierre-Joseph Proudhon (Stand 10.10.2004)

http://www.kink-records.de/history.html Wiedemer, Ralf: The History of Punk. (Stand 11.07.04)