Seduktionstheorie des Films

Carsten Bergemann

„The voice you hear is not my speaking voice, but my minds voice.“

Das Piano - Die innere Stimme

 

Sich die Hände vor die Augen halten, aus der Welt hinaustreten - wie tot sein. Am Anfang steht der Blick durch die Finger einer Hand, Adas Hand, die sich zwischen den Betrachter und die betrachtete Welt gelegt hat. Kindlich, wie im Spiel die Hände vor das Gesicht geschoben blickend und durch die Barriere verstellt und zugleich vorgestellt: die Welt, die „Außenwelt“. „The voice you hear is not my speaking voice, but my minds voice.“ Wir teilen die Gedanken, wir hören sie wie unsere eigene Gedankenstimme und wir teilen die Vorstellung wie es wäre, wenn wir nicht mehr zu der Welt gehören würden, wenn wir uns aufschwingen könnten - in einen Traum - in ein Jenseits. Und der subjektive Blick, der sich aus Adas Körper löst und der den Blickenden zu einem unabhängigen Betrachter macht führt uns in eine Welt, in der es keinen Zufall gibt - in der alles von Bedeutung ist. Vielleicht ist es die Reise entlang eines Traums, vielleicht reisen wir auch als Begleiter eines Gedankens der sich für einen Augenblick aus der Welt herausgenommen hat um sie sich zu erklären - für einen kurzen Moment dem Dasein entzogen.

 

„The strange thing is I don't think myself silent, that is because of my piano“. Ada Mc Grath (Holly Hunter) verzichtet als junger Mensch auf die gesprochene Sprache und bedient sich einem Musikinstrument zur Kommunikation. Jane Campions Film THE PIANO (1993) erzählt von Adas Reise aus dem viktorianischen England nach Aotearoa Neuseeland. Dort trifft sie ihren, von väterlicher Hand angetrauten, zukünftigen Ehemann Alisdair Stewart (Sam Neil). Mit ihr sind das Piano und ihre Tochter Flora (Anna Paquin), die Adas Gebärden in Worte fasst und dabei oft ihre eigene Wahrheit in die Vermittlung einfließen lässt. Die Ehe wird nicht vollzogen. Das Piano bleibt am Ufer zurück. Ein inszeniertes Hochzeitsfoto soll die Trauung ersetzen. Das Hochzeitskleid ist jedoch aufgesetzt. Ada bittet George Baines (Harvey Keitel), einen Siedler im Urwald, das Piano vom Ufer zu bergen. Doch dieser, nachdem er ihre „Stimme“ vernommen hat, ersteht das Instrument im Tausch gegen Land von ihrem Ehemann und bringt es tief in den Wald. Es erfolgt der erpresserische Handel, in dem Ada ihr Instrument gegen sexuelle Annäherung zurück erhalten kann.

 

„I've had enough. The arrangement is making you a whore and me wretched.“ George Baines vernimmt Adas Spiel und liebt. Er bemächtigt sich des Pianos um der Stimme Adas und somit ihrer Person – ihres Wesens – habhaft zu werden. Die Erwiderung seiner Liebe entsteht jedoch erst in dem Augenblick, in dem er das Piano freigibt – es zurückgibt – ohne auf die Vollendung des Handels zu bestehen. Der zurückgewiesene Ehemann wird dieser Liebe gewahr und straft Ada. Sein Schlag trennt einen Zeigefinger von ihrer Hand. Seine Handlung trifft ihre Ausdruckskraft, die für ihn unverständlich blieb. Ada verlässt mit George und Flora das Neuseeland und versenkt ihr Piano im Meer. Verbunden mit ihrem sinkenden Instrument schwebt Ada unter der Wasseroberfläche, in der unentschiedenen Welt der Todesnähe. Ihr Auftauchen und ihre Rückkehr in die Oberwelt ist Symbol ihrer Neugeburt und markiert ihre gewonnene Entschlossenheit. George ersetzt Adas verlorenes Fingerglied und sie gibt Klavierunterricht. Zur Versöhnung mit ihrer Umwelt lernt sie sprechen.

 

Jane Campion, die vor ihrer Regieausbildung Anthropologie und Malerei studierte, inszeniert die Geschichte einer Künstlerin, die sich einer Sprache bedient, die weit über das gesprochene Wort hinausgeht. Durch den grenzenlosen Ausdruck von Musik vermittelt sie ihr Dasein und eröffnet die Möglichkeit zur Liebe. Ihre Kunst ist ihr mehr als Melodie, sie wird zum Träger ihrer Menschlichkeit. Sinnvoll betitelt Campion ihren Film mit THE PIANO: das Instrument des Ausdrucks – die Kunst – steht im Mittelpunkt. Ihre Inszenierung verleiht allen Bestandteilen des Films eine Bedeutung, die über ihr Dasein als Teil einer Geschichte hinausreicht. Jede Einstellung ist voller Symbolik und enthält neben der Handlung, die das Voranschreiten der Geschichte trägt, Hinweise auf die Gesamtentwicklung des Films. Die Dichte der Symbole erweckt mitunter den Eindruck von Unwirklichkeit und rückt die Handlung der Protagonisten, die Landschaft, die Natur in ihrer vielfältigen Erscheinungsweise, die gesprochenen Worte, in einen traumhaften Wirklichkeitsraum. Alles gezeigte scheint metaphorische Bedeutung zu haben. Ein Piano wird zum Sinnbild einer wahrhaften Sprache, die Zweidimensionalität eines Hochzeitsfotos und ein übergezogenes Brautkleid verdeutlicht das Fehlen einer tiefen Beziehung der vereinten Menschen. Ein klarer Blick durch das Objektiv der Fotokamera und der trübe Anblick einer durch Campions Bildkomposition assoziierten Teetasse werden zur Allegorie für den sehenden und zugleich für die Empfindungen seiner Frau blinden Ehemann. Natur und Witterung werden zur erfahrbaren Seelenlandschaft, verorten die Personen im filmischen Universum. Adas Weg zu George führt sie durch den, durch Brandrodung entstandenen Sumpf, dem Ergebnis puritanischer Existenzgründung: Alisdairs Hütte steht in einer abgetöteten Natur. Die Kleidung der Darsteller ist mehr als zeitgenössisches Dekor. Georges hervorragendes Kleidungsstück ist ein Damenhut, der als unangemessene Kopfbedeckung erscheint und seine Irrationalität – seine Offenheit gegenüber Adas Ausdrucksform symbolisiert.

 

Eine Besonderheit in der filmischen Inszenierung rückt die Ereignisse gänzlich in eine Traumwirklichkeit: liest man aus den Kompositionen einzelner Einstellungen findet man immer wieder Hinweise auf einen zukünftigen Handlungsverlauf. Klopft Ada an die Tür von George, so rückt ihre linke Hand in unmittelbare Nähe von vier Geflügelknochen, die an der Schwelle zu Georges Lebensraum angebracht sind. Später wird Ada durch die Verbindung zu George einen Finger ihrer rechten Hand verlieren. Als George zum ersten Mal Adas Musik wahrnimmt, positioniert ihn die Komposition der Mise en Scène zwischen Ada und ihrer Tochter – Georges Liebe zu Ada wird sich zwischen sie und Flora stellen. Am Ende wird Ada durch Alisdair verletzt und verstümmelt werden: Alisdair erfasst Ada und schleppt sie aus dem Haus, um ihr auf einem Holzblock den Finger abzuschlagen. Ein Stoss, der Garnröllchen auf einem Tisch durcheinander wirbelt, lenkt für einen kurzen Augenblick die Aufmerksamkeit auf eine Einstellung, die in ihrer Komposition das folgende Ereignis vorwegnimmt. Stellvertretend für die Ada, Flora und Alisdair inszeniert Campion eine Mise en Scène mit Garnröllchen umgeben von Buchstaben, die das englische Wort für „Hilfe“ bilden. Eine Lügengeschichte Floras, die sie während der Hochzeitszeremonie der Tante Morag erzählt, entpuppt sich als Orakel zukünftiger Ereignisse.

 

Durch die Augen der Hauptfigur Ada McGrath betreten wir die filmische Wirklichkeit und obwohl wir die Innenansicht Adas direkt verlassen, uns unwirklich erheben, frei werden von einer festgelegten Betrachtung, scheinen wir uns doch in einem von einem Geist erzeugtem Universum zu befinden. Dem augenblicklichem Gedanken gleich, der eine umfassende Phantasie oder einen Traum durchstreift, bewegen wir uns durch die Welt von Ada. Durch die Beziehung aller Ereignisse und durch ein Licht das alle Landschaft in der Vorwegnahme der Todesnähe zu einer Unterwasserlandschaft werden lässt, müssen wir uns in der Fremde des Gegenüber – Anderen – des Du verorten.
Am Ufer des neuen Landes, nach einer einsamen Nacht am Strand, begegnen sich Ada, Flora, George und Alisdair. Durch eindringliche Gebärden und mit Hilfe ihrer Tochter versucht Ada die Bedeutung des Pianos hervorzuheben. Vor allen Dingen ist es wichtig, dass das Piano sie auf der Reise ins innere des Landes begleitet. Wie Zufällig werden Gesten, Gebärden und Mimik der beteiligten Personen durch die umherstehenden Maori verdoppelt - nachgeahmt. In diesem Augenblick verweist Jane Campion auf die Art ihrer filmischen Inszenierung: alle Ereignisse sind von mehrfacher Bedeutung. Dieser selbstreflexive Moment öffnet die geschlossene Form des Films – des filmischen Kunstwerks. Die Welt wird lebendig, ein Gegenüber wird sichtbar. Wie das Piano Ada als Instrument dem Ausdruck ihrer Befindlichkeit dient, wird der Film THE PIANO zum Mittel zwischen dem Betrachter und einer Künstlerin, die uns einlädt ihrer inneren Stimme zu lauschen - mit ihr, aus ihrem Dasein herauszutreten und sie so als Mensch zu erfahren. „Das Piano“ wird zum Synonym für „Der Film“ – „Die Kunst“ – „Die Menschlichkeit“.

Die DVD-Scans wurden vom Autor hergestellt. Veröffentlichung des Textes mit freundlicher Genehmigung des Autors.