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Christian Moises
Taiwanese Ghost Stories
Anmerkungen zu Tsaï Ming-Liangs What Time is it
there? und Goodbye, Dragon Inn
I. Einleitung
Löst man seinen Blick, vielleicht nur für einen kurzen Augenblick,
vom Gros der den Weltmarkt des Kinos (gemessen an Verbreitung, Umsatz
und Publikumszuspruch) vielleicht mehr denn je beherrschenden Mainstream-Produktionen
Hollywood’scher Prägung und richtet diesen etwa gen Osten,
genauer: auf die asiatische Filmproduktion der letzten zehn bis fünfundzwanzig
Jahre, so fällt auf, dass neben vielen Filmemachern, die bereitwillig
auf den reichen Fundus an filmischen Ausdrucksmöglichkeiten, an Genre-konventionen,
etc. zurückgreifen, zum Teil auch einen eher spielerischen Umgang
damit pflegen, diese etwa mit geographischen/kulturellen/etc. Spezifika
zu mitunter aufregenden hybriden Filmwerken amalgamieren, einige wenige
Regisseure unbeirrt an ihrem je eigenen, persönlichen Blick auf die
Welt – damit durchaus auteurs im Sinne Astrucs – festhalten,
die Sehgewohnheiten des (westlichen) Zuschauers herausfordern, das Kino
somit zu einem „privilegierte[n] Ort der Fremderfahrung“,
zu einer „Schule der Wahrnehmung“ werden lassen. So etwa –
um ein Beispiel aus jüngster Zeit zu nennen – im südost-asiatischen
Raum der Thailänder Apichatpong Weerasethakul. Aber auch im ostasiatischen
Kino lassen sich Filmemacher entdecken, die uns einerseits einen Blick
auf uns unbekannte Regionen, uns unbekannte (historische) Ereignisse werfen
lassen, aber uns auch einen neuen Blick auf die (uns nur scheinbar vertraute)
Welt eröffnen, (moderne) menschliche Grunderfahrungen wie Einsamkeit,
Trauer, Entfremdung, etc. auf eine Art ins Bild setzen, die etwa James
Udden von einem speziellen „Pan-Asian Style“ sprechen ließen,
einer Art filmischem Minimalismus, als dessen wesentlichen formal-ästhetischen
Kern er „the rare combination of long take and static camera“
ausmacht.
Als zwei der wesentlichen Protagonisten dieser Ästhetik nennt Udden
die taiwanesischen Regisseure Hou Hsiao-Hsien und Tsai Ming-Liang, letzterer
in Malaysia geboren und zehn Jahre jünger als Hou. Dass sich gerade
auf der lediglich 36 Quadratkilometer großen Insel im Pazifik, 180
Kilometer vom chinesischen Festland entfernt, ein Kino entwickelt hat,
das Filmkritiker immer wieder zu Vergleichen mit Filmemachern der europäischen
Moderne (Antonioni, Bresson, etc.) greifen ließ, hat zu einem nicht
unerheblichen Teil mit der wechsel- und leidvollen Geschichte Taiwans
im 20. Jahrhundert zu tun, mit der (national-historischen/politischen/kulturellen)
Vereinnahmung Taiwans durch einerseits die ehemalige Besatzungsmacht Japan
(1895-1945) und andererseits durch politische Kräfte vom chinesischen
Festland (zuletzt vorwiegend durch das Kuomintangregime ab 1945). Das
heißt: seit der Ankunft des Mediums Film im Jahre 1901 bis in die
1960/70er Jahre war der (kommerzielle) taiwanesische Film nahezu ausnahmslos
das Produkt politisch-kultureller Fremdbestimmung, war eine freie (spezifisch
taiwanesische) Entfaltung des Films (als Filmkunst) durch strenge ideologische
Vorgaben respektive Zensurmaßnahmen nahezu unmöglich.
Just as its native identity was organized into oblivion by historical
and sociopolitical discourse, “Taiwan”, as a modern historical
subject, was similarly absent from the island’s literature and cinema,
dominated for so long by escapist narratives that seldom dealt with sociohistorical
realities unique to the island.
Dies, begünstigt durch die anhaltende wirtschaftliche Krise der taiwanesischen
Film-industrie Ende der 1970er Jahre und deren Versuch, die Gunst des
Publikums zurück zu gewinnen, führte schließlich zu einer
Ausbildung (schlussendlich radikaler) neuer Tendenzen, die man durchaus
analog zu Entwicklungen des europäischen Kinos der unmittelbaren
Nachkriegszeit sehen könnte: der inhaltlichen Neuorientierung, dem
Interesse an der eigenen (taiwanesischen) Gegenwart, der (durchaus kritischen)
Auseinandersetzung mit der sozialen Realität, d.h. einer Gesellschaft
„zwischen rücksichtsloser Modernisierung und verwestlichter
Kommerzialisierung auf der einen und den noch immer wirkmächtigen
Traditionen andererseits“, aber auch mit der jüngsten taiwanesischen
Geschichte, korrespondiert auf der formal-ästhetischen Ebene eine
sukzessive Ablösung von ‚klassischen’, linearen Erzählmustern,
eine Annäherung an (scheinbar?) spezifisch westliche Erzähl-
und Gestaltungskonzepte, die Anfang des 20. Jahrhunderts (in Bildender
Kunst, Literatur, Theater) respektive zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte
(im Film) radikal mit traditionellen Erzählmustern und Darstellungs-weisen
brachen. Die zunehmende Inanspruchnahme solcher narrativer Muster und
formaler Charakteristika, die ästhetischen und/oder strukturellen
Ähnlichkeiten der Filme von Regisseuren wie Hou, Yang oder auch Tsai
mit Werken Antonionis, Bressons, der Nouvelle Vague, etc., die diesen
immer wieder attestiert werden, mag einer seit den 1980er Jahren stärkeren
(da über den Umweg des Videomarkts erleichterten) Rezeption dieser
Autorenfilmer geschuldet sein, mag jedoch auch Ausdruck einer (unbewusst?)
eurozen-trischen Sichtweise sein, welche die Werke dieser ostasiatischen
auteurs in einen Kanon einzugliedern sucht, der die Kinematographie vieler
asiatischer, afrikanischer oder lateinamerikanischer Länder zur Peripherie
oder gar zur bloßen Fußnote vorwiegend westlicher (‚US-europäischer’)
Filmkunst degradiert, und folglich etwa die spezifischen wirtschaftlichen
oder gesellschaftlichen Gegebenheiten im Taiwan des letzten Drittels des
20. Jahrhunderts ignoriert oder auch ‚produktionstechnische Präferenzen’
außer Acht lässt, die sich in der jeweils spezifischen Ästhetik
eines filmischen Werks niederschlagen.
Tsai selbst hat aus seiner Faszination für den europäischen
Film der 1950er bis 1970er Jahre nie einen Hehl gemacht, vor allem aus
seiner Wertschätzung der Filme Truffauts oder auch Fassbinders, die
er jedoch (auch) inhaltlich begründet:
The European films of the Nouvelle Vague or the New German Cinema films
were indeed very different. And they moved me enormously. I was moved
just as much by the films of my childhood. But I think European films
are closer to me because they are about modern life and ordinary, modern
men. And I have the idea they are more realistic, true to life.
Vor allem seine Bewunderung der Filme Truffauts gründet sich weniger
auf formale Charakteristika dieses Œuvres als vielmehr auf den ganz
persönlichen Filmkosmos, den Truffaut vor allem mit seinem Antoine
Doinel-Zyklus geschaffen hat.
Truffaut for me is different. He has created his own world, which he films
again and again. He always has the same preoccupations that find their
way back into his films. And I like that very much.
So hat Tsai sich auf ähnliche Weise über die Jahre seinen eigenen
Kosmos um die Figur des Hsiao-kang erschaffen, dessen Darsteller Lee Kang-sheng
er beim Casting für den Fernsehfilm The Kid (1991) entdeckt hat und
dem er (dabei formal und inhaltlich weitaus radikaler bzw. gewagter als
Truffaut zu Werke gehend) seit seinem 1992 entstandenen Spielfilmdebüt
Rebels Of The Neon God unerbittlich – im wahrsten Sinne des Wortes
– auf den Leib rückt. In Filmen, die zuweilen eher Laborexperimenten
gleichen, mit denen Tsai – einerseits – immer wieder neue
Bedingungen schafft, die Umgebungsvariablen ändert, so etwa Hsiao-kang
(auch dies ein wesentlicher Unterschied zu Truffauts Doinel) sich mal
zu dem einen, mal zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen lässt;
sich – andererseits – ein ganz spezielles Repertoire an Räumen
schafft, auf welche (respektive Tsais ganz eigenen Umgang mit/Zugang zu
diesen Räumen) ich im nächsten Kapitel näher eingehen werde,
aber auch ein festes Arsenal an Figuren, zu denen er immer wieder zurückkehrt,
die immer (wenn auch nicht unbedingt identisch mit ihrer ‚Emanation’
im vorhergehenden Film) wiederkehren. So etwa die von gegenseitiger Entfremdung
gezeichnete Familie Hsiao-kangs: dessen stoischen Vater (Miao Tien), den
Tsai zum Beispiel in The River (1997) durch Schwulensaunen streifen lässt,
wo schließlich eine merkwürdige, inzestuöse Begegnung
mit seinem Sohn diesen von seinen ominösen Nackenschmerzen befreien
wird, und dessen Frau, Hsiao-kangs Mutter, die hin- und hergerissen scheint
zwischen den Anforderungen des Lebens in der (modernen) Metropole Taipeh
und ihrem Festhalten an (vormodernen) religiösen Überzeugungen
und Ritualen. In diese steigert sie sich geradezu hinein, als Tsai am
Beginn von What Time is it there? (2001) – auf den ich mich in meinen
weiteren Überlegungen fast ausschließlich beziehen werde –
Hsiao-kangs Vater sterben lässt (es ist nur ein einziger (Film-)Schnitt,
der hier zwischen Leben und Tod liegt). Ein Ereignis, das nicht nur Hsiao-kang
und seine Mutter nachhaltig beeinflusst, ihr Verhalten zunehmend merkwürdiger,
ja manischer erscheinen lässt, sondern auch die Geschicke einer fremden
jungen Frau (Chen Shiang-chyi), der Hsiao-kang (er verdient sich nun seinen
Lebens-unterhalt mit dem Verkauf von Uhren) kurz vor ihrer Abreise nach
Paris seine eigene Armbanduhr verkauft, nachdem sie ihn schließlich
– mit der Begründung, sie sei Christin und somit quasi gegen
Flüche immun – dazu überredet hat, ist er doch überzeugt
davon, dass die Uhr eines Trauernden ihr Unglück bringen wird. Mit
den nun folgenden Geschehnissen, für die Tsai (im Film) zum ersten
Mal seine Heimatstadt Taipeh verlässt und Paris Teil seines filmischen
Kosmos werden lässt (vgl. Kapitel III), in denen er seine Protagonisten
von diffusen Ängsten und Begierden (um)getrieben durch die beiden
Metropolen streifen lässt, dabei durch geheimnisvolle Kräfte
(i.e. durch die Magie der Montage und der Mise en Scène), durch
ein „Geflecht magischer Korrespondenzen“ miteinander verbunden
(vgl. Kapitel V und VI), werde ich mich im Folgenden befassen. Dem Umstand,
dass Tsais Film sich dabei unter anderem als eine liebevolle Hommage an
das Kino Truffauts entpuppt, wird in Kapitel IV Rechnung getragen.
II. Confined Space(s) – die Räume in Tsaïs Kino
Die für Tsais sämtliche Filme typische radikale Reduktion des
Schauplatzes hat viel mit der je spezifischen Qualität des jeweiligen
Ortes zu tun, mit der Beziehung der Figuren zu diesem (öffentlichen/privaten)
Raum, den Wechselwirkungen zwischen (Film-)Figur und (sozialem/filmischem)
Raum. Hierzu Tsai:
Every location holds a certain form of life. I try to simplify the locations
as much as possible and point out its traces of life. In my various scenarios,
it works somewhat the same way. I want to define the essence of the matter,
the main point of a place. This could be hidden in the colour, the atmosphere.
Usually it takes me a long time to locate this main point.
Tsais Beschränkung auf wenige solcher Schauplätze hängt
jedoch auch stark mit seiner speziellen Arbeitsweise, seiner Vorliebe
für lange, weitwinklige Einstellungen (vorwiegend Totalen und Halbtotalen)
und der Möglichkeit der (absoluten) Kontrolle über diese eng
begrenzten Räume zusammen, die jedoch zugleich hohe Anforderungen
an die visuelle Gestaltung der Szenen stellt, wie Benoît Delhomme,
Tsais Kameramann bei What Time, bestätigt, der diese Herangehensweise
mit den Erfordernissen und Möglichkeiten der Malerei vergleicht.
Zu diesem Aspekt der Be- respektive Abgrenzung nochmals Tsai:
On the one hand, it is a restriction; on the other it is very safe. Maybe
I am always in search of a small confined space like this. I very much
like to use them in my films. I like to film in hotel rooms, in elevators
or on moving staircases. What counts is that the space itself is very
clearly divided from the rest of the world. This might have to do with
the subconscious. I do not like to have too many eyes focussed on me.
And I cannot feel safe until I have excluded these eyes. This means I
have to create boundaries. In my work I can do this.
Hotelzimmer, Aufzüge und Treppenhäuser – Räume des
Übergangs, des ‚Dazwischen’. Einerseits scheinen diese
(Nicht-)Orte Gefühle der Ortlosigkeit, der Unzugehörigkeit,
der Unbehaustheit, ja des Gefangenseins zu evozieren: so scheint Hsiao-kangs
Mutter in The River (1997) im Fahrstuhl, den sie Tag für Tag bedient,
ohne groß auf das ständige Kommen und Gehen ihrer Passagiere
zu achten, gefangen wie in einem Käfig, ohne festen Halt und ohne
Ziel sich hin- und herbewegend zwischen den Stockwerken, (im übertra-genen
Sinne) zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen (religiöser/spiritueller)
Tradition und (säkularer) Moderne. Andererseits – mit Blick
auf das Gesamtwerk Tsais – ermöglichen diese ‚Schwellenräume’
jedoch auch einen nicht seltenspielerischen Umgang mit tradierten Klassifikationen
und/oder gesellschaftlichen Zuschreibungen, ein (zeitweiliges) Ausbrechen
aus festgefügten Strukturen, ein Sich-verweigern gegenüber der
‚sozialen Anrufung’ (Althusser), wie etwa Homi K. Bhabhas
Überlegungen zur symbolischen/metaphorischer Einbindung der Museumarchitektur
in der Installation Sites of Genealogy der afroamerikanischen Künstlerin
Renée Green verdeutlichen, die sich durchaus analog auf Tsais Kino
übertragen und Rückschlüsse auf seine Vorliebe für
derartige Räume zulassen:
Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen
wird zum Prozeß symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge
[...]. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang
in der Zeit, die es gestattet, verhindern, daß sich Identitäten
an seinem oberen oder unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten
fest-setzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen
Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen
Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene
oder verordnete Hierarchie gibt.
In Hinsicht auf das Gesamtwerk Tsais ließen sich zu diesem Repertoire
an Schwellen- oder Binnenräumen neben Treppenhaus und Fahrstuhl (die
u.a. in Wayward Cloud eine zentrale Rolle spielen) noch die Rolltreppe,
die öffentliche Sauna (in The River), Fußgängerüber-gänge,
Brücken, Hotel- und Badezimmer (What Time), etc. ergänzen –
wobei die hier angedeutete Zuordnung keinesfalls im Sinne einer Ausschließlichkeit
zu verstehen ist.
Doch lassen sich diese Orte nicht nur als Metaphern für den in Tsais
Filmen durchaus porösen Begriff des Selbst, den ephemeren Charakter
der (gesellschaftlichen/sexuellen) Identität begreifen, sondern auch
als ‚Ermöglichungsräume’. Denn sosehr zuweilen diese
oft so unwirtlichen Räume, diese zum Teil unendlich erscheinenden
Korridore und Flure, die mechanischen Rolltreppen und Fahrstühle
– die tagtäglich Menschen, in der Monotonie ihres Alltags gefangen,
in die eine oder andere Richtung transportieren – die Entfremdung,
die Verlorenheit der Figuren sinnfällig zum Ausdruck bringen, so
scheinen sie doch die einzigen Orte zu sein, an denen diverse Formen der
Begegnung, Kontaktaufnahmen möglich sind – wenn auch selten
und mit oft ungeahnten Folgen, wie etwa in The River oder What Time, für
den Tsai zum ersten Mal außerhalb Taiwans dreht. Dabei lassen sich
jedoch in den Szenen, die in Paris spielen, die gleiche formale Strenge,
die gleichen Vorlieben in der Wahl der Schauplätze erkennen, die
seinen Blick auf das heutige Taipeh bis heute kennzeichnen, wodurch das
uns vertraute Parisbild in eine zuweilen gespenstische Schieflage gerät.
III. P+A+R+I+S=… oder: Tsaïs Blick auf Paris in What Time is
it there?
Im Gegensatz etwa zu Henri Decaës Kamera, die in den ersten Bildern
von Truffauts Les quatre cents coups den Eiffelturm (das unverwechselbare,
zuerst verhasste, später von den Einwohnern stolz vereinnahmte Wahrzeichen
der Stadt an der Seine) nie aus dem Blick verliert, sich diesem, untermalt
von den Klängen der Musik Jean Constantins, in konzen-trischen Kreisbewegungen
annähert und schließlich wieder von diesem Fixpunkt löst,
jedoch auch im weiteren Verlauf des Films dessen Hauptschauplatz keinesfalls
verleugnet, scheinen Tsai und sein französischer (!) Kameramann Benoît
Delhomme in What Time geradezu versessen, jeglichen Verweis auf die französische
Metropole zu tilgen. Ihr Paris scheint reduziert auf Innen-, Zwischen-
und Transiträume: anonyme Hotelzimmer, Metro-Stationen, Telefonzellen,
Restaurants und Cafés, endlos erscheinende Fahrsteige, Fußgängertunnel,
ein verlassener Friedhof, usw. Räume, die nicht selten über
keinerlei Verbindung zur Außenwelt zu verfügen scheinen, deren
Kadrierung zumindest kaum je einen Blick nach draußen zulässt,
die Existenz einer Welt jenseits des Bildkaders zunehmend in Frage stellt.
Zum einen finden Tsai und sein Kameramann durch diese Reduktion zu Bildkompo-sitionen,
die Paris zunächst als ‚Fremde’, als unvertrautes Terrain
etablieren, als einen Ort, in dem sich die zierliche Taiwanesin Shiang-chyi
fern ihrer Heimat Taipeh zurechtfinden muss, ohne die Sprache der Einheimischen
zu verstehen. Ohne diese Möglichkeit, in direkten Kontakt mit den
Menschen um sie herum treten zu können, erscheint ihr vieles unverständlich,
fremd, schließlich sogar bedrohlich. In ihrem Hotelzimmer gleicht
sie mehr und mehr einer Gefangenen ihrer eigenen, durch seltsame Geräusche
über ihr genährten Ängste; die Kamera drängt sie in
die Ecke des Raumes, der über kein einziges Fenster zu verfügen
scheint und von dem in der Halbtotalen wenig mehr als Teile der Wände
und des Bettes zu sehen sind, oder sie zeigt sie von oben, schlaflos im
Bett liegend.
Auch unter Menschen, in einem Café, in einem Restaurant bleibt
sie isoliert. Ein kurzer Blickkontakt mit einem Unbekannten im Café
– die Kamera zeigt ihn nur von hinten: ein Mann mittleren Alters
im Trenchcoat, glattes Haar, Zigarette rauchend – bleibt ohne (sichtbare)
Folgen; ähnlich im Restaurant: Shiang-chyi, sichtlich verloren zwischen
munter in ihrer Muttersprache parlierenden Einheimischen – das lautstarke
Durcheinander erinnert eher an ein deutsches Wirtshaus als an französisches
savoir-vivre –, versucht vergeblich den Inhalt der Speisekarte zu
entziffern. Der letztlich hilflose Versuch eines jungen Mannes, ihr in
gebrochenem Englisch, der Lingua franca der Touristen und Reisenden, ihr
die Bedeutung des Wortes tartare näher zu bringen, stiftet eher Verwirrung
als dass er zu echter Verständigung führt.
Eine der wenigen Szenen, die tatsächlich auf der Straße spielen,
ist erfüllt vom Heulen einer Feuerwehrsirene und dem hasserfüllten
Brüllen eines Franzosen, der neben Shiang-chyi in der Nachbartelefonzelle
seinem Ärger Luft macht, seinen Gesprächspartner mit (für
die junge Frau unverständlichen) Schimpftiraden überschüttet
und die verängstigte Taiwanesin schließlich in die Flucht schlägt.
Von Paris selbst ist auch hier wenig mehr zu sehen, als die Reflexionen
in den Glaswänden der Zelle erahnen lassen. In der folgenden Einstellung
verstärkt die Enge des Bildausschnitts die Enge im U-Bahnwaggon,
in dem sich Shiang-chyi befindet, wie eingepfercht zwischen den Pendlern.
Als sich kurz darauf der Wagen völlig unerwartet zu leeren beginnt
und die junge Frau endlich einen Platz findet, um sich auszuruhen, wird
ihr erst allmählich bewusst, dass der Zug seine Reise nicht fortsetzen
wird: wegen ‚Personenschadens’ wird das Linienfahrzeug geräumt.
Offenbar hat sie als einzige den Aufruf des Wagenführers nicht verstanden.
Tsais/Delhommes Paris trägt jedoch auch mehr und mehr unheimliche
Züge, eine Einstellung im Treppenhaus von Shiang-chyis Hotel erinnert
gar an den expressio-nistischen Stummfilm, an dessen Faszination für
dunkle Korridore und Treppen, die Lotte Eisner so eindrücklich beschreibt:
der Raum wirkt wie verzerrt, scheint durch die Diagonale des Treppengeländers
fast keilförmig auf die halbgeöffnete Tür zuzulaufen, diese
erscheint seltsam schmal, in die Länge gezogen. Das Poltern, die
seltsamen Kratz- oder Schleiftöne lassen allerdings eher an die Tradition
des Spuk- und Geisterfilms denken: das haunted house, das von unbekannten
Besuchern heimgesucht oder gar selbst zum Leben erwacht scheint. Als Shiang-chyi
auf der Suche nach dem Ursprung der seltsamen Geräusche durch die
Flure des Hotels streift und eine Dachluke öffnet, verweigert uns
Tsai die Subjektive: ihr Blick scheint sich im Nichts, im Jenseits des
Bildkaders zu verlieren. Was immer sie dort, über den Dächern
von Paris, erblicken mag, es bleibt der Imagination des Zuschauers überlassen.
Paris wird in diesen narrativ nur lose verknüpften Totalen und Halbtotalen
zunehmend selbst zu einer Art Transitraum, durch den die junge Reisende
aus Taiwan ohne erkennbares Ziel zu irren scheint. Eine junge Frau, die
sich auf ihren Streifzügen durch die Metropole, im Niemands-/Grenzland
zwischen Sein und Schein zu verlieren droht, in den Strassen und Gassen
einer Stadt, die zunehmend geheimnis- und rätselvoller, gar zu Drohkulisse
wird – hier werden Erinnerungen wach an einen anderen Meister der
Nouvelle Vague: an Jacques Rivettes Paris der Phantome, der Halb- und
Mischwesen, der Geheimgesellschaften und der (scheinbaren) Verschwörungen,
in dem jedoch auch Raum für Magie, für Erlösung ist. So
lässt auch Tsai, der Schöpfer dieses oft durchaus defätistisch
stimmenden Filmkosmos, sich zu einem Akt der Gnade hinreißen –
doch dazu an anderer Stelle mehr…
Fragmentierung des Raums…
Das Bild von Paris in What Time erlangt somit mehr und mehr Patchwork-Charakter:
die einzelnen Fragmente fügen sich zu keinem (logischen) Ganzen mehr,
die Bewegungen, welche die (filmischen) Teilräume zu einer in sich
stimmigen, kohärenten Topographie zusammenfügen, eine Verbindung
zwischen den einzelnen Orten stiften könnten, sind durch den Schnitt
getilgt, finden im räumlichen/zeitlichen Jenseits (Off) der Filmbilder
statt. Ebenso scheint das ‚eigentliche Paris’, das Paris,
das wir aus der eigenen Erinnerung, aus Filmen, von Fotografien oder Postkarten
zu kennen glaub(t)en, zwischen den Ein-stellungen verloren gegangen zu
sein. Das Paris des Films wird so zu einem Paris, das sich den Erwartungshaltungen
der Zuschauer (als Idylle, als Urlaubsort, etc.) verweigert. Das Paris
der Touristen, die Stadt der Mode, die Stadt der Liebe und die Stadt des
Films, in der am 28. Dezember des Jahres 1895 im indischen Salon des Grand
Café am Boulevard des Capucines die Gebrüder Lumiere die Geschichte
des Kinos begründeten, diese Stadt, deren Straßen, Plätze
oder Appartements unter anderem den markanten Schauplatz so vieler der
frühen Filme der Nouvelle Vague bildeten, beginnt sich zunehmend
zu verflüchtigen. Nicht selten gleicht dieser Ort einer Geisterstadt,
scheint Shiang-chyi von dunkel gekleideten Männern verfolgt, die
Phantomen gleichen, oder bewegt sich gar selbst wie ein Geist durch diese
unwirtlichen/unwirklichen Räume. In den letzten Einstellungen des
Films wandelt sich die Stadt, die Capitale de l'Amour tatsächlich
zu einer Capitale des Morts – auch hierzu an anderer Stelle mehr.
Während so Shiang-chyi durch das ‚reale’ Paris streift
(welches in den Bildern Benoît Delhommes zunehmend irreale Züge
aufweist), sich auf der Suche nach dem ‚Vertrauten im Fremden’
mehr und mehr in dieser unwirtlichen ‚Geisterstadt’, in diesem
‚Un-Ort’ verirrt, gibt sich Hsiao-kang in Taipei der Sehnsucht
nach einem imaginären Paris hin, das sich unter anderem aus den Filmen
Truffauts und den üblichen Klischees (Rotwein) speist; Paris wird
hier zur Projektionsfläche, zum mythischen Sehnsuchtsort, zu einem
(pop)kultu-rellen Amalgam, zu einem (kulturellen/temporalen) ‚Jenseits’,
auf das all sein Begehren sich richtet – zu einer Utopie, einem
‚Nicht-Ort’.
Es scheint fast, als wäre hier der Grund für oben beschriebene
Dekonstruktion des (landläufigen) Parisbildes zu finden, als setzte
sich diese Stadt tatsächlich aus (filmischen) Versatzstücken
zusammen, aus Fragmenten, die sich – als wären sie vom Montagetisch
(dem Truffauts?) gefallen, aussortiert worden – zu keinem kohärenten,
pittoresken Ganzen (zu keiner konventionellen Filmerzählung?) mehr
fügen wollen. Ähnlich dürfte es einem Kenner Taipeis mit
den Bildern der taiwanesischen Hauptstadt in Tsais Filmen ergehen. So
gesehen fügen sich die einzelnen Fragmente (Paris und Taipei) doch
noch auf eine eigentümliche Art zusammen: zu einem „kinematografische[n]
Weltgebäude, in dem die einzelnen Apartments unmittelbar benachbart
sind“, zu einer einzigen, gesichtslosen (virtuellen), Ost und West
umspannenden Metropole.
…und Diffusion der Zeit
Zu dieser Fragmentierung des Raums, der Topographie tritt eine eigentümliche
‚Verunklarung’ der Zeit: die Art, wie Tsai und sein Cutter
Chen Sheng-chang die größtenteils statischen Einstellungen
montieren, macht es dem Zuschauer zunehmend schwer, die einzelnen Ereignisse
in ein spezifisches temporales Verhältnis zueinander zu setzen, die
alternierend montierten Syntagmen – um ein aus der Linguistik/Semiotik
entlehntes Begriffsvokabular einzuführen, das Christian Metz für
die Filmwissenschaft fruchtbar gemacht hat – in ein dezidiertes
Verhältnis der Parallelität bzw. Konsekution zu setzen. Während
die (räumlich geschiedenen) einzelnen Stränge selbst (Taipei/Paris,
später: Hsiao-kang/Hsiao-kangs Mutter/Shiang-chyi) zunehmend achronologischen
respektive diskontinuierlichen Charakter annehmen (in dem Sinne, dass
sich die aufeinander folgenden Elemente eines Strangs kaum noch in ein
lineares Kontinuum einordnen lassen, das Verhältnis zwischen Erzählzeit
und erzählter Zeit immer unklarer wird, der Zuschauer keine Möglichkeit
hat, zu eruieren, wie viel Zeit zwischen den einzelnen Einstellungen verstrichen
sein mag), scheinen die Stränge untereinander zunehmend kausal respektive
konsekutiv verknüpft, Ereignisse in einem Strang (z.B. ‚Hsiao-kang’)
die Ereignisse in einem anderen (‚Shiang-chyi’) zu beeinflussen
– analog zu Hsiao-kangs zunächst nur wie eine bloße Donqui-chotterie
erscheinenden Egalisierung der Zeitzonen. Denn tatsächlich scheint
sich mit jeder weiteren umgestellten Uhr zusammen mit der zeitlichen auch
die räumliche Distanz zwischen den beiden Welten (Zonen) aufzulösen.
So betrachtet könnte man die – vage an Harold Lloyds berühmten
Kampf mit der Wolkenkratzeruhr in Safety Last (1923) erinnernde –
Szene, in der Hsiao-kang mit Hilfe einer Stange die riesige Uhr an einer
Hauswand auf Paris-Zeit umzustellen versucht, als Klimax einer Entwicklung
ansehen, in deren Verlauf sich die (vermeintlichen) Grenzen von Raum und
Zeit mehr und mehr auflösen, Shiang-chyi schließlich gar auf
einen Widergänger aus dem filmischen Kosmos Truffauts treffen wird…
IV. Tsai meets Truffaut
Antoine und Hsiao-kang
Während seine Mutter fest davon überzeugt scheint, dass die
Seele ihres verstorbenen Gatten zu ihr zurückkehren wird, sie deshalb
– gemäß den Anordnungen des Priesters – Hsiao-kang
dazu anhält, neunundvierzig Tage lang keine lebendes Wesen zu töten,
sich immer mehr zurückzieht und die Wohnung in eine Art großen
Schrein, eine Andachtsstätte verwandelt, markiert der kurze Anruf
Hsiao-kangs bei der Zeitauskunft den Beginn einer anderen Art von Besessenheit,
die den Uhrenverkäufer in zunehmend grotesk erscheinen-den Szenen
durch Taipei streifen lässt, um jede Uhr, derer er habhaft werden
kann, auf Pariszeit umzustellen: von den Armbanduhren in seinem Verkaufssortiment
und der Wanduhr in der Wohnung, über Zwischenstationen wie etwa einem
Uhrenladen, einem Filmtheater (in das Tsai in Goodbye, Dragon Inn (2004)
zurückkehren wird) oder einem Einkaufszentrum, bis hin zu einer riesigen
Uhr an der Wand eines hohen Gebäudes.
Mehr und mehr im Banne der Sehnsucht nach einer Frau, die mit seiner –
wie er glaubt anderen Menschen Unglück bringenden – Armbanduhr
durch die französische Metropole streift, beziehungsweise nach einer
Stadt, die er ebenso wie diese Frau kaum kennt, erkundigt Hsiao-kang (Tsais
taiwanesischer Antoine Doinel) sich schließlich bei einem Straßenhändler
nach Filmen über Paris. Neben Alain Resnais’ Film Hiroshima
Mon Amour – auch dies das Spielfilmdebüt eines französischen
Regisseurs, wie Truffauts Film im Jahr 1959 entstanden – verweist
ihn der Mann auf Les quatre cents coups, einen Film, der das Geschick
des jungen Mannes ebenso wie das der jungen Frau im (nicht allzu) fernen
Paris auf unvermutete Weise beeinflussen wird.
Diese Szene auf der Strasse geht direkt in eine Szene über, in der
Hsiao-kang, nur vom bläulich schimmernden Licht der Bildröhre
angestrahlt und offenbar weiterhin von Schlaflosigkeit und diffusen Ängsten
geplagt, vor dem Fernseher kauert. Die heimische, vertraute Wohnung ist
ihm nach dem Tod des Vaters – ganz im Sinne Freuds – zu einem
unheimlichen Ort geworden. Mit den über den Bildschirm flimmernden
Bildern etabliert Tsai nun einen innerfilmischen, aber auch einen inter-
bzw. metafilmischen Diskurs, der den Film über weite Teile bestimmen
wird. In einem Text des Online-Magazins Reverse Shot findet sich eine
feinfühlige, hier etwas ausführlicher gewürdigte Beschreibung
dieser Szene:
Drawn to Truffaut by the director's nationality, to France by a glancingly
met girl who left Taiwan to study in Paris, Lee finds himself in mute
dialogue with an image of Antoine Doinel who's diminished but still very
much intact behind a pane of Sony glass. The unadorned presentation of
the scene, which unfolds within one of the staid, static frames that comprise
the entire film […] is deceptively simple. But contemplative pacing
and Tsai's overarching richness of conception helps us to understand the
preciousness of these two heartsick, never-to-meet young men unabashedly
regarding one another across a darkened bedroom, of their creators engaging
in an impossible paternal-filial communion, of Lee's conjuring up his
imagined love through images of a subtitled Paris, and of our own privilege
in watching and sharing all of this in the dark and solitude. With only
the sparest of means, we've been located within an international, intergenerational,
intertextual echo chamber of longing.
Tsai wählt für diese nächtliche, stumme Begegnung, für
diese direkte Hommage an einen seiner erklärten Lieblingsfilme, den
Moment in Truffauts Film, als Antoine die rotierende Trommel auf dem Jahrmarkt
besteigt, um sich für einen kurzen Augenblick mit der Schwerkraft
auch von dem bedrückenden, ihn einengenden privaten und sozialen
Verhältnissen loszusagen – eine Szene, die vielerorts selbst
als Teil einer Reflexion Truffauts über das Medium Film gedeutet
wurde. So schreibt etwa Lorenz Engell:
Diese Trommel ist nichts anderes als ein riesiges Phänakistiskop,
eine Wundertrommel, wie sie im 19. Jahrhundert als Spielzeug gängig
war und zu den Vorläufern des Kinos zählt. In dieser kurzen
Sequenz spielt Truffaut an auf die Neuerfindung des Kinos, auf den Neubeginn,
den die Nouvelle Vague setzen will […].
Aber zurück zu What Time: Hsiao-kang wird von den Rufen seiner Mutter
aus der Versenkung in Truffauts Film gerissen. Diese glaubt endlich einen
Hinweis auf die Rückkehr ihres verstorbenen Mannes entdeckt zu haben
– wer sonst sollte die Uhr in dem gespenstisch ausgeleuchteten Flur
um sieben Stunden zurückgestellt haben? Mit der eher an sich selbst
gestellten Frage, ob er (ihr Mann) wohl vielleicht noch etwas Ente möge,
beginnt sie zu beten. (Später im Film werden im Beisein des bereits
vom Beginn des Films bekannten religiösen Zirkels zeremonielle Rituale
folgen, um dieses Ereignis entsprechend zu würdigen.) Hsiao-kang
allerdings bleibt stumm, während zur gleichen Zeit Shiang-chyi in
Paris von seltsamen Geräuschen über ihr – Schritte, das
Schließen einer Tür – um den Schlaf gebracht wird.
Als Hsiao-kang in einer weiteren, gleichsam schlaflosen Nacht die Trauer
(nun tatsächlich sichtbar) zu übermannen droht – Tränen
rinnen ihm über das Gesicht, der Atem wird schwerer und schwerer
–, sucht er erneut Zuflucht in der Welt Truffauts, folgt dem ebenso
verlassenen Antoine durch die Strassen des nächtlichen Paris. Hier
scheinen die beiden (Film-)Welten wiederum für einen Moment zu konvergieren,
füllen die Bilder von Les quatre cents coups zum ersten Mal die gesamte
Leinwand: wir verfolgen nun zusammen mit Hsiao-kang, wie der verfrorene
jugendliche Ausreißer eine Flasche frischer Milch, die ein Transporter
wie wohl jeden Morgen vor der Tür eines kleinen Ladens abliefert,
aus dem Korb stibitzt und den Inhalt sogleich hastig verschlingt. Das
gierige Trinken des kleinen Doinel erinnert nicht von ungefähr an
die Helden Tsais, denen dieser wieder und wieder Wasserflaschen in die
Hand gibt, die diese zum Trinken oder auch für andere Zwecke benutzen.
Tsai hierzu und allgemein zur Bedeutung von Wasser in seinen Filmen:
For me, water means a lot of things. It's my belief that human beings
are just like plants. They can't live without water or they'll dry up.
Human beings, without love or other nourishment, also dry up. The more
water you see in my movies, the more the characters need to fill a gap
in their lives, to get hydrated again. If they are lonely people, with
no love or no friends, you'll see them drinking a lot of water.
Auch in Bezugnahme auf eine andere, frühere Szene in What Time geht
Tsai kurz auf die Bedeutungsfülle dieses Elements, von Flüssigkeiten
aller Art ein:
For example, in What Time Is It There?,[Hsiao-kang] is shown urinating
a lot. […] It's like he has a lot of passion and emotion in him,
but he has no place to put it, so it just goes out through the system.
Dass die von Tsai gewählte Episode aus dem Spielfilmdebüt Truffauts
zudem wiederum eine der wenigen ‚stummen’ (dialoglosen) Szenen
des Films ist, die Tonspur nur vom Schlucken Antoines und – eine
Wischblende später – dem Zerspringen der entsorgten Glasflasche
erfüllt ist, dürfte im Grunde wenig(e) überraschen.
Offenbar von dieser weiteren Begegnung mit seinem französischen Alter
ego bestärkt in seinem Vorhaben, sich dem Diktat der Zeit(zonen)
nicht weiter zu unterwerfen, dringt Hsiao-kang in den folgenden Einstellungen
in einen mysteriösen Kontrollraum in der Unterwelt Taipeis ein. Angefüllt
mit technischem Gerät, mit Uhren verschiedenster Form und Größe
wähnt man sich für einen kurzen Moment in der (modernisierten)
Schalt-zentrale des Chronos. Doch anstatt – wie erwartet –
durch den altgriechischen Gott der Zeit, sieht sich der kleine Uhrenverkäufer
(dessen Stellvertreter oder wie Prometheus gegen die göttliche Macht
aufbegehrend?) lediglich durch einen Techniker gestört, der es sich,
kaum eingetroffen, auf einem Drehstuhl bequem macht und einnickt.
Ein Schatten aus der Zeit
Die überlebensgroße Figur zu ihren Füßen (die sich
ikonografisch/motivisch schwer zuordnen lässt, scheint es sich doch
einerseits um eine schlafende Figur – es könnte auch der ‚ewige
Schlaf’ sein – zu handeln, andererseits scheint das Buch neben
ihr sie als ‚lesend’ zu definieren) ist erst auf den zweiten
Blick als fast monumentaler, skulpturaler Grabschmuck zu erkennen, während
Shiang-chyi still neben ihr verharrt, ihren Blick schließlich abwendet,
auf einen Punkt jenseits des Bildkaders richtet. So scheint es –
eingestimmt durch die fast andachtsvolle Stille dieser Szene(rie) –
durchaus vorstellbar, dass mancher sich verwundert die Augen reiben mag,
wenn die zunächst bewegungslos auf einer Bank verharrende Figur in
der nächsten Einstellung die junge Frau zu bemerken scheint und langsam
den Kopf in ihre Richtung dreht. Und ähnlich wie die steinerne Figur
auf eine andere Zeit, auf ein vergangenes Leben verweist, scheint auch
dieser Mann auf der Bank Zeuge, aber auch zentraler Protagonist einer
vergangenen (Film-)Epoche: Jean-Pierre, wie er sich mit seinem ‚weltlichen
Namen’ vorstellt, gibt der jungen Taiwanesin, die in ihrer Handtasche
erfolglos nach einer irgendwo notierten Telefonnummer sucht, die seinige,
zusammen mit seinem Namen hastig auf einen Zettel gekritzelt, den er aus
seiner Gesäßtasche zieht. Jean-Pierre… tatsächlich
Jean-Pierre Léaud? Oder doch Antoine Doinel persönlich, der
gealterte Antoine Doinel, dessen (fiktives) Leben Truffaut über zwanzig
Jahre hinweg in insgesamt fünf Filmen (zählt man den Episodenfilm
L’Amour à vingt ans (1962) dazu) verfolgt hat. Der Umstand
allerdings, dass Tsai diese Begegnung an einem Ort spielen lässt,
der dem Gedenken gewidmet ist, der Retrospektion, der Erinnerung an unwiederbringlich
Verlorenes, kurz: auf einem Friedhof, lässt den Zuschauer diese Form
der Ehrerweisung mit gemischten Gefühlen goutieren: der moderne europäische
Film – vor langer Zeit bereits zu Grabe getragen? Ein Leichnam,
dessen Erbe längst andernorts (in Ostasien?) verwaltet, dessen Visionen
und Utopien fern seiner ursprünglichen Heimat weiterverfolgt, weitergeträumt
werden? Ein frevelhafter – aber vielleicht nicht allzu abwegiger
Gedanke…?
V. Zwischenspiel: Temporale Dysphorie
A Jetlag Situation
Mehr und mehr entspinnt sich im Verlauf des Films ein komplexes Gespinst
aus raum-zeitlichen Beziehungen, ein Oszillieren zwischen Hier und Dort,
zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Vergangenheit und Gegenwart,
eine Art ‚Netzwerk der Sehnsucht und des Begehrens’ über
Raum und Zeit hinweg, das nach und nach die Figuren erfasst und sie in
einen Zustand der Unruhe, des Unbehagens, einer Art ‚temporal induzierten
Unwohl-seins’ versetzt, den Fran Martin mit dem Begriff „temporal
dysphoria“ zu fassen sucht und als „disorientation in relation
to time rather than space“ definiert. Sie nimmt damit einerseits
Bezug auf die anhaltende Faszination, die das europäische (Kunst)Kino
(vorwiegend der 1960er und 70er Jahre) auf zeitgenössische taiwanesische
Schriftsteller und Filmemacher auszuüben scheint, andererseits auf
die zeitlichen Brüche und Verschiebungen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung
Angehöriger ehemaliger Kolonialstaaten, wie sie unter anderen Postkolonialismus-Theoretiker
wie Homi K. Bhabha und Johannes Fabian in ihren geopolitischen und/oder
anthropologischen Studien beschrieben und analysiert haben.
Designating something analogous to motion-sickness (time-sickness?) that
is a subjective effect of the regime of cultural time-lag as experienced
by postcolonial subjects, this temporal dysphoria underlines the enduring
effects of the former, strongly hierarchized relations between centre
and periphery; west and non-west; and, arguably, between European film
and its “others.” I think that in its meditation on temporal
dysphoria, What Time implies a broad, relatively non-specific –
yet, arguably, nonetheless consequential – postcolonial relation
that [...] positions Taiwan as peripheral “other” to the presumptively
European centre of world art film culture.
Für die zum Teil nostalgisch anmutenden Sehnsuchtsgefühle, die
sich auf eine vergangene Epoche westlich-europäischer (Film)Kultur
richten und die Martin als Ausdruck bzw. Effekt eines solchen Zustandes
„postkolonialer Zeitverschobenheit“ (Bhaba) deutet, scheinen
sich zunächst kaum Anknüpfungspunkte in der jüngeren Geschichte
Taiwans finden zu lassen, war doch mit den Holländern die letzte
europäische Kolonialmacht bereits im 17. Jahrhundert von den Truppen
Zheng Chenggongs vertrieben worden. Diese spezielle Form der ‚Europhilie’,
die Entdeckung dieser fremden Tradition als einem ‚kulturell(en)
Anderen’, zu dem sich das eigene künstlerische Schaffen in
Bezug setzen lässt, scheint somit eher eine direkte (Abwehr-)Reaktion
auf die wechselhafte und leidvolle Geschichte Taiwans im zwanzigsten Jahrhundert
zu sein, die ich bereits in der Einleitung kurz skizziert habe. Tsai zumindest
– der, in Malaysia geboren, einer späteren Generation der ‚neuen
Welle’ taiwanesischer Filmemacher zuzurechnen ist und sich selbst
eher als „citizen of the world“ denn als spezifisch taiwanesischen
Filmemacher sieht (auch wenn er bis heute nahezu ausschließlich
in Taipei und mit taiwanesischen Darstellern dreht) – hat den Einfluss,
den die Werke der ‚europäischen Film-Moderne’ auf ihn
ausgeübt haben, niemals bestritten.
Before I got to Taipei, I was exposed to a lot of movies, but almost all
of them were from Hollywood […], so I thought that the Hollywood
style was the only way to make a movie. But after I got to Taipei, I had
access to the Taiwan Film Archives, and I was exposed to a full range
of European movies—the German expressionists, the French New Wave,
the Italian neo-realists. All of a sudden, my mind opened up to a whole
new world of movie-making, and it affected me a lot, especially the period
during the late '60s and early '70s.
Au-delà
Löst man Tsais Werk von diesem speziellen taiwanesischen Hintergrund
ab, so ließe sich ein Film wie What Time auch im transnationalen,
transhistorischen Bereich des beyond verorten, wie ihn Bhabha an der Schwelle
zum 21. Jahrhundert vielerorts ausmacht, einem Moment des Übergangs,
wo Raum und Zeit sich kreuzen und komplexe Konfigurationen von Differenz
und Identität, von Vergangenheit und Gegenwart, Innen und Außen,
Einbeziehung und Ausgrenzung erzeugen. Denn im „darüber hinausgehenden“
Bereich herrscht ein Gefühl der Desorientierung, eine Störung
des Richtungssinns: eine erkundende, rastlose Bewegung, die im französischen
Verständnis der Wörter au-delà so gut zum Ausdruck kommt
– hier und dort, überall, fort/da, hin und her, vor und zurück.
Auch Tsais Figuren bewegen sich in diesem Bereich des au-delà,
diesem Bereich des ‚jenseits von’, des ‚darüber
hinaus’, in einem Bereich, der über die Gegenwart, über
die Grenzen von Raum und/oder Zeit hinausgeht, oder anders: in einem Bereich,
in dem das Hier und Dort, Gegenwärtiges und Vergangenes, Diesseitiges
und Jenseitiges gleichzeitig zu existieren scheinen bzw. das eine scheinbar
nahtlos in das andere übergeht. So ließe sich auch die nostalgisch
anmutende Hinwendung zur Nouvelle Vague, zu den Filmen Truffauts oder
allgemein zum europäischen Filmschaffen in den 1960er und 1970er
Jahren, das Tsai in einem Interview als „highest point in film history“
gewürdigt hat, als ein weniger sentimentaler denn als existentieller
Akt begreifen, den Bhabha als „kulturelle Grenz-Arbeit“ bezeichnet.
Kulturelle Grenz-Arbeit verlangt nach einer Begegnung mit der „Neuheit“,
die an dem Kontinuum von Vergangenheit und Gegenwart nicht teilhat. Sie
erzeugt ein Verständnis des Neuen als eines aufrührerischen
Aktes kultureller Übersetzung. Diese Art von Kunst ge-wärtigt
Vergangenheit nicht einfach als gesellschaftliche Ursache oder ästhetische
Vorläufer; sie erneuert die Vergangenheit, indem sie sie neu als
angrenzenden „Zwischen“-Raum darstellt, der die konkrete Realisierung
der Gegenwart innoviert und unterbricht. Die Relation „Vergangenheit-Gegenwart“
wird zu einem notwendigen, keinem nostalgischen Teil des Lebens.
VI. Von irdischem Verlangen und göttlicher Intervention
– Klimax und Schluss von What Time is it there?
Time Sickness
Shiang-chyi, nach der geradezu gespenstischen Begegnung mit Léaud/Doinel,
diesem Widergänger einer vergangenen Kinoära, mittlerweile völlig
im Griff der ‚temporalen Verstimmung’, welche nun offenbar
ihren gesamten Metabolismus erfasst hat, scheint unvermutet doch die Chance
gegeben, ihre Isolation zu durchbrechen: eine Hongkong-Chinesin, als (Fast-)Landsmännin
offenbar empfänglich für das Leid Shiang-chyis, bringt der nach
Kontakt und Zuneigung dürstenden Taiwanesin ein Glas Wasser (Tsai
bleibt seinem ‚symbolischen Vokabular’ treu!). Die Kontaktaufnahme
gestaltet sich zunächst etwas schwierig: durch eine Art Türbogen
getrennt, in entgegengesetzter Richtung sitzend, ist hierfür zu Beginn
des Gesprächs manche Verrenkung nötig. Doch gleichzeitig schafft
dieser Dialog über die Diagonale, der sich zunächst wie eine
touristische Plauderei ausnimmt, eine Verbindung: die Kamera konzentriert
sich ganz auf die beiden Frauen, isoliert sie von den anderen Restaurantgästen,
die nur im Anriss am Bildrand und im Hintergrund zu sehen sind. Die nächste
Einstellung zeigt die sich bewegenden Seile eines Aufzugs, der die beiden
Frauen nach oben befördert – dem unverbindlichen Gespräch,
der zaghaften Kontaktaufnahme, ist augenscheinlich ein Angebot gefolgt,
eine ‚Solidarisierung zweier Gestrandeter’: während die
Reisende aus Hongkong mit Einkaufstüten aus dem Fahrstuhl steigt,
ist Shiang-chyi mit ihrem gesamten Gepäck beladen. Gemeinsam werden
sie eine Nacht im Hotelzimmer der ersteren verbringen, die von zaghaften
Annäherungs-versuchen, sexuellen Avancen, jedoch auch von Missverständnissen
und von Verlust geprägt sein wird. Doch sie werden nicht die Einzigen
sein…
Der Reigen des Begehrens
Während sich Hsiao-kang im provisorischen Domizil seines Wagens dem
Rotwein und Fast Food hingibt, bereitet sich seine Mutter auf eine ganz
besondere Nacht vor, schlüpft im Dämmerlicht weniger Kerzen
geschminkt und frisiert in feierliche Kleidung, um wenig später ihren
verblichenen Gatten zum Gastmahl zu laden. Selbst die Rose im Haar fehlt
nicht, als sie in der nächsten Einstellung am feierlich für
den erwarteten Gast gedeckten Esstisch sitzt und dem (zumindest für
unsere Augen) leeren Stuhl zuprostet. Mit einer Kerze in der Hand –
die Schminke in ihrem Gesicht lässt sie fast puppenhaft erscheinen
– betritt sie schließlich das Zimmer des Verstorbenen, eine
Porträtaufnahme von Hsiao-kangs Vater lehnt an der Wand. Die Reduktion
auf den Schein der Kerze(n) taucht die Szenerie in ein merkwürdig
irreales Licht, das die Schicksale Hsiao-kangs und seiner Mutter auf eigentümliche,
magische Weise zu verbinden scheint. Auch das Innere von Hsiao-kangs Wagen
ist in ein merkwürdig gelbes, fast goldenes Licht getaucht, als er
nach kurzem Zögern einer durch die einsame Straße streifenden
Prostituierten Zeichen gibt, dass er gewillt ist, ihr ‚Angebot’
anzunehmen.
Während in einem (von eher kalten, blauen Farbtönen dominierten)
Pariser Hotelzimmer Shiang-chyi die (körperliche) Nähe zu ihrer
Zimmergenossin sucht, verliert sich Hsiao-kangs Mutter in einem bizarr
anmutenden Liebesakt: vom Verlangen nach einer (Wieder-) Vereinigung mit
dem verstorbenen Gatten übermannt, wird ein korbähnliches Gefäß
in ihren Händen zum Phallus-Ersatz, wandelt sich die Trauerarbeit
zum sexuellen Akt. Auch Hsiao-kang sucht seine diffuse Sehnsucht, den
Schmerz über den Verlust (seines Vaters, Shiang-chyis, des Kontakts
zu seiner Mutter) durch einen kurzen Moment der Lust, der sexuellen Ekstase
(im wörtlichen Sinne des ‚Aussichherausgetretenseins’)
zu lindern, zumindest für kurze Zeit zu vergessen. Das Desiderat
wirklicher Nähe, seelischer (überpersönlicher) Vereinigung
wird durch das Surrogat des sexuellen Akts substituiert. Doch Shiang-chyis
Wunsch nach körperlichem Kontakt bleibt ohne wirkliche Erfüllung
– die fremde Frau neben ihr entzieht sich schließlich ihren
Annäherungsversuchen, ein merkwürdiges Schluckgeräusch
scheint Zeichen einer geradezu körperlichen Abneigung zu sein.
While mother's grief crescendos with a fancy (and ultimately masturbatory)
date at home with her beloved's photograph, the two young principals move
against their tide of isolation and try to connect with other human beings:
Hsiao-kang, in his car, with a prostitute, and Shiang-chyi in the bed
of a fellow female Chinese expat. Fresh from letting their mutual connection
pass too quickly, they each hold on too long and too strong, looking for
company where only momentary comfort was on offer.
Shiang-chyi zieht sich in die Toilette zurück, um sich anzuziehen,
die spiegelnde Oberfläche der Tür, die sich hinter ihr schließt,
scheint sie wie magisch verschwinden zu lassen, die Reflexion des Hotelzimmers
auf deren Oberfläche scheint dieses nun in die Tiefe zu verlängern,
lässt die Frau dahinter mit ihrer Einsamkeit, ihrer Trauer zurück.
Die Bewegung der sich schließenden Tür korrespondiert mit der
sich öffnenden Wagen-tür in der nächsten Einstellung: die
Prostituierte stiehlt sich im Morgengrauen mit Hsiao-kangs Uhrensortiment
in den Straßen Taipeis davon. Doch auch Shiang-chyi scheint in der
folgenden Einstellung etwas verloren zu haben: wie sich schließlich
herausstellt ist es Hsiao-kangs Uhr, welche die Fremde aus Hongkong am
Arm getragen hatte – der (unbewusste) Grund dafür, dass sich
Shiang-chyi von ihr körperlich angezogen fühlte? Hsiao-kangs
Angst vor dem unheilvollen Einfluss fluchbelasteter Uhren auf ihre Besitzer
scheint sich auch anderweitig zu bewahrheiten – wenn auch diesmal
mit einer Wendung zum Guten: der Zimmertür, die sich (hinter Shiang-chyi)
schließt, folgt wiederum eine Tür, die geöffnet wird.
Hsiao-kang, mit dem Verschwinden der Uhren offenbar von seiner Rastlosigkeit,
seinem (sexuellen) Verlangen befreit, kehrt nach Hause zurück und
bringt – durchaus im wörtlichen Sinne – Licht in das
Dunkel, in das sich seine Mutter eingeschlossen hatte: Nach und nach nimmt
er die Decken und Tücher von den Fenstern und Türen, mit denen
seine Mutter – den vermeintlichen Hinweisen des Verstorbenen folgend
– diesem bzw. seiner Seele die Rückkehr so angenehm wie möglich
zu gestalten suchte, um ihn nicht für immer zu verlieren. Schließlich
findet er sie, offenbar friedlich schlummernd im Zimmer des Toten. Nach
einem kurzen Blick auf das Porträt seines Vaters deckt er –
eine zärtlich-liebevolle Geste – seine Mutter mit seiner Jacke
zu, legt sich schließlich neben sie und schläft ein. Nach Tagen
der Unrast, der Getriebenheit, scheinen beide nun für einen Moment
Frieden gefunden zu haben, scheinen Schmerz und Trauer über den Verlust
etwas gelindert. Sie scheinen nun in der Lage, loslassen zu können,
sich vom Ehemann, vom Vater zu verabschieden, ihn gehen zu lassen.
Göttliche Intervention
Wie um unsere Erinnerung an den Toten aufzufrischen, ist es sein Blick,
sein Porträt auf dem Tisch, das auf unvermutete Weise die Verbindung
zur nächsten, von Tsai mit ungeheurem Feingefühl choreographierten
Schluss-Szene stiftet. Denn just in dem Moment, als Shang-chyi, hunderte
Kilometer entfernt, am Ufer des Grand Bassin im Jardin des Tuileries gestrandet
ist, wieder allein mit ihrer Trauer, ihrer Verzweiflung, scheint auch
ihr ein Zeichen der Hoffnung vergönnt, schenkt Tsai uns/ihr einen
Akt der Gnade. Nachdem Jugendliche, die sich dort herumtreiben –
fast ist man gewillt, in den beiden den jungen Antoine und seinen Freund
René aus Truffauts Les quatre cents coups zu erkennen –,
den hilflosen Zustand Shiang-chyis ausgenutzt, der Schlafenden den Koffer
entwendet und im Bassin versenkt haben, erhält sie unvermutet Hilfe
von einer (uns Zuschauern) ‚vertrauten Seele’.
Then, after staring filmlong into the faces of absence, there's presence.
As the girl sleeps a lonely sleep in the grey dawn by the Tuileries, a
familiar face appears and retrieves her errant suitcase from the reflection
pool. Paris time is “his time” after all. It's a gift from
the filmmaker, a generous, godly gift of grace. There's no rest for the
weary in the real world – nor even for the three achingly lonely
principal characters in What Time Is It There? – but before releasing
the privileged viewers from his world, his lovely, lovingly human spell,
Tsai Ming-liang reaches across time zones, across language barriers, and
likely well into the future, to provide comfort.
Als wäre sie eine Statue, die plötzlich zum Leben erwacht und
sich aus der Skulpturen-gruppe rund um den Grand Bassin herauslöst,
scheint diese Figur wie ein Gesandter aus einer anderen Welt, einer anderen
Zeit, der seine bevorstehende Reise nur einen kurzen Moment aufschiebt,
um der in Not Geratenen zur Seite zu stehen. Wie beiläufig zieht
er den Koffer mit Hilfe seines Regenschirms aus dem Wasser, blickt sich
kurz um: Kann es möglich sein, ist es tatsächlich Hsiao-kangs
Vater, der hier Shiang-chyis Schutzengel spielt? Tatsächlich scheint
die Frage nun bedeutungslos, ob es Hsiao-kang war, der die Uhr in der
elterlichen Wohnung auf Paris-Zeit umgestellt hat, oder doch der Verstorbene,
der sie auf ‚seine Zeit’ umgestellt hat; spätestens in
diesem Moment fallen beide Welten auf magische Weise in eins, konvergieren
die jenseitigen Bereiche: der eine jenseits von Taipei, der andere jenseits
der Welt der Lebenden – und What Time „transforms unexpected-ly
into a romantic ghost story and an ode to eternal love.“ Auch das
unheimliche Treiben im Stockwerk oberhalb von Shiang-chyis Hotelzimmer
und andernorts, ihr Gefühl, verfolgt zu werden, erhält nun eine
neue, übersinnliche Erklärung.
Die letzte Einstellung des Films ist dominiert von einem Riesenrad, offenbar
Teil des allherbstlichen Jahrmarkts im Jardin des Tuileries. Es bildet
das graphische Zentrum des streng symmetrisch komponierten Bildes, das
auf bezwingende Weise viele Stränge des Films zusammenführt:
die Sorge um den Verbleib des geliebten Verstorbenen; die mysteriöse
Sehnsucht nach der schönen Unbekannten, nach ihrem Zielort, d.h.
dem Paris von heute; das Paris aus Truffauts Les quatre cents coups; der
Jahrmarkt, als Ort, an welchem dem jungen Antoine Doinel ein kurzer Moment
der Unbeschwertheit beschieden war, losgelöst von gesellschaftlichen
Erwartungen und privaten Sorgen; der Jahrmarkt aber auch als Ort der (zweiten)
Geburt des Films (als Massenvergnügen), nachdem die bewegten Bilder
(vorerst) ihren (technischen) ‚Sensationscharakter’ verloren
hatten. Aber auch eine religiös-spirituelle Bedeutung ließe
sich diesem Bild einschreiben/abgewinnen: das Rad als ‚Rad des Lebens’,
als Symbol für das zyklische Weltbild fernöstlicher Religion(en),
für den Kreislauf der Wiedergeburt im hinduistischen und buddhistischen
Glauben; das sich drehende Rad aber auch als Sinnbild für den sich
in ständigem Wandel befindenden Kosmos (Yin und Yang), der Kreis
als Symbol vollkommener Harmonie, ein Grund-gedanke, der im chinesischen
Universismus eine so zentrale Rolle spielt.
Der alte Mann, an der Position des goldenen Schnitts in diesem Tableau
Bild gewordener Harmonie platziert, zündet sich eine letzte Zigarette
an, wendet sich einen kurzen Moment um und blickt uns – wie der
junge Antoine Doinel in der letzten Einstellung von Les quatre cents coups
– unvermittelt an, während er den Zigarettenrauch ausstößt
und die Zigarette erneut an seine Lippen führt. Schließlich
dreht er sich um und spaziert in Richtung des Rades, weg von der Kamera,
weg von uns, hinfort von dieser irdischen Welt – und tatsächlich:
wie von Geisterhand beginnt sich das Rad zu drehen um den Neuankömmling
willkommen zu heißen.
Die folgende Widmung bestätigt nur noch, was spätestens diese
letzte Szene des Films bereits vermuten ließ: What Time ist auch
(und vor allem) eine Art filmischer Trauerarbeit, ein stilles aber vielstimmiges
(polyphones) Requiem, eine Elegie mit den Mitteln des Filmkünstlers,
eine Liebeserklärung Tsais und seines Hauptdarstellers Lee Kang-sheng
an den abwesenden Vater… Denn: um diese elegante, stolze Erscheinung,
die sich bereit macht, in eine andere Welt zu wechseln oder in einer weiteren
(Re)Inkarnation ein neues Leben hier auf Erden anzutreten – um diesen
alten Mann brauchen wir uns keine Sorgen zu machen!
VII. Goodbye, Dragon Inn
„Do you know this theater is haunted? … This theatre is haunted…
ghosts!”
- Chen Chao-jung in Goodbye, Dragon Inn -
Auch in Tsais Goodbye, Dragon Inn (2003) findet sich ein
ähnliches Netz transtemporaler respektive -historischer Verweise
und metafilmischer Referenzen, entfaltet sich ein Dialog über Raum
und Zeit(en) hinweg: die ersten Töne und Klänge des Films, die
wir hören, sind die eines anderen Films, eines Films der uns –
auf der Ebene der Handlung – zurück in die Ming Dynastie, in
das Jahr 1457 n. Chr. führt, mitten in die Auseinandersetzungen um
den Thron des chinesischen Kaiserreichs. Ein Film aber auch, der uns –
film- und rezeptions-geschichtlich betrachtet – in die (erste) Blütezeit
des Wuxia-Genres zurückversetzt, kurz bevor der Martial-Arts-Film
die Schwertkampffilme in der Gunst des Publikums ablöste: King Hus
Dragon Inn (Long Men Ke Zhen), der Tsais Film seinen englischen Verleihtitel
bescherte (welcher im Grunde wenig mit dem Originaltitel Bu san zu tun
hat ). Die Ent-stehungszeit von Hus Klassiker, den er 1967 in Taiwan für
die (von ihm selbst gegründete) Union Film Company drehte, nachdem
er sich kurz zuvor von den Shaw Brothers getrennt hatte, verweist zudem
auf eine andere Blütezeit – die des Kinos selbst, genauer:
die Zeit der traditionsreichen, weiträumigen Kinosäle, der Lichtspieltheater,
in denen sich Jung und Alt zusammenfanden, um gebannt dem Geschehen auf
der Leinwand zu folgen, und die mittlerweile nahezu völlig von Hightech-Multiplex-Palästen
verdrängt wurden. So auch das „Fu-Ho Grand Theater“ am
Rande von Taipei, das Tsai auf der Suche nach passenden Locations für
What Time entdeckt hatte und das unvermutet schließlich als Inspiration
wie auch als (einziger) Schauplatz für Goodbye dienen sollte, wie
Tsai erklärt:
I never wanted to make Goodbye Dragon Inn – it was not a film that
I had planned to make. But when I was scouting locations for What Time
Is It There? I discovered the theater in a small town outside of Taipei.
[…] A few months later I ran into the owner again and he told me
that he was going to have to close the theater. Audiences were small and
it was now mainly a cruising place for gay men. It was just an impulse
- I leased the theater for six months. I had no idea what I was going
to do and thought I'd just make a short film, but I wanted to try to capture
something of it on film. I feel like it was the theater that was calling
me to make the film.
Doch noch ein weiterer Aspekt tritt hinzu, ein biographischer, auch dies
ein Verweis auf Vergangenes, auf ein in der Zeit Verlorenes, das jedoch
in der Erinnerung (und in den (Un)Tiefen des Unterbewusstseins) weiter
erhalten bleibt: die (Bilder der) Kindheit.
That theater reminded me of my experience growing up in Malaysia. At that
time there were seven or eight grand theaters like that, that have disappeared
one by one over the past few years. Prior to making Dragon Inn I was having
this recurring dream of this particular theater in Malaysia. It’s
almost like these images of childhood wouldn't let me go.
So scheint auch Goodbye geprägt von einem alles durchwirkenden Gefühl
der Nostalgie, der Sehnsucht nach einem ‚Früher’, nach
einer anderen Zeit – doch diesmal nach einer ‚goldenen Zeit’
des chinesisch/taiwanesischen Films, der Zeit der prunkvollen Kinopaläste,
der Zeit der eigenen (Tsais) Kindheit in Malaysia. Diese Verweise, diese
‚Bewegungen in der Zeit’ fügen sich auch hier zu einer
Art Netzwerk, das u.a. chinesische Historie (d.h. so, wie sie in King
Hus Film erzählt wird), Filmgeschichte (Dragon Inn als Meilenstein
des Wuxia-Genres, aber auch als eine der künstlerisch und kommerziell
erfolgreichsten taiwanesischen Filmproduktionen jener Zeit), Filmrezeptionsgeschichte
(das Verschwinden der großen Filmtheater), Filmproduktions- bzw.
Werkgeschichte (das Fu-Ho-Theater als Schauplatz von What Time, an den
Tsai – zusammen mit seinen über die Jahre ‚angesam-melten’
Schauspielern – zurückkehrt) und persönliche Geschichte
(Tsais Erinnerungen an die Kindheit, seine emotionale Bindung zum Schauplatz)
kunstvoll zueinander in Beziehung setzt. Und wie in What Time erweist
Tsai auch hier einem filmischen Werk seine Referenz, das sowohl in Tsais
eigener Begegnung mit dem Medium Film als auch in der Geschichte des ostasiatischen
(taiwanesischen) Films eine wichtige Rolle einnimmt:
Dragon Inn is significant in that, for me, Hu's film really represents
the Golden Age of Taiwanese cinema. It represents the quality of those
films that were made during the Sixties. That's why at the beginning of
my film I show you the entire credit sequence of Hu's film. This is my
way of paying respect to filmmakers of that day and re-present them to
new audiences.
Jedoch: auch hier sind die Bindungen zwischen beiden Film(welt)en, zwischen
den Figuren in Tsais Film und denen auf der Leinwand (Hus Film) komplexer
als bisher angedeutet. So lässt Tsai die (filmischen ) Räume
der beiden Filme – den Mikrokosmos der titelgebenden Herberge in
Hus Film und den des Fu-Ho Theaters – zueinander in Beziehung treten,
lässt seine Figuren mit denen des projizierten Films in eine Art
stummen (visuellen) Dialog miteinander treten. Goodbye lässt sich
in dieser Hinsicht auch als eine persönliche Hommage Tsais an seinen
langjährigen treuen Darsteller Miao Tien ansehen, lässt er doch
diesen, nach einem (für Tsai-Verhältnisse) fast dramatischen
ersten Auftritt, im Halbdunkel des Kinosaals auf einen um Jahrzehnte jüngeren
Doppelgänger seiner selbst treffen, ein finster gesinntes Alter ego
aus Zelluloid: den weißgewandeten Handlanger des intriganten Eunuchen
– eine frühe Rolle Miaos in Hus Film. Doch auch mit dem Mann
in der Lederjacke (Chun Shih), auf dessen sichtbar gealtertem Gesicht,
dem das von der Leinwand reflektierte Licht irreale Züge verleiht,
die Kamera einmal lange Zeit verweilt, einen Moment der Rührung einfängt,
hat es eine besondere Bewandtnis: Tsai lässt mit diesen beiden Figuren/Darstellern
die einstigen Gegenspieler in Hus Dragon Inn im Dunkel des Kinosaals aufeinander
treffen, lässt sie kurz (abwechselnd) einander respektvolle Blicke
zuwerfen, während das Licht des Projektors die Bilder ihrer Jahrzehnte
zuvor auf Zelluloid gebannten, über Leben und Tod (ihrer Filmfiguren)
entscheidenden Auseinandersetzung auf die Leinwand wirft. In der gespenstisch
anmutenden Begegnung dieser Wider- respektive Doppelgänger gelangt
somit eine spezifische Eigenheit des filmischen Bildes zur Entfaltung,
wie sie Anne und Joachim Paech beschreiben:
Der Film ist im Kino immer doppelt, er ist auf der einen Seite Fotografie
und auf der anderen das Bewegungsbild der Leinwand. Auch die Phantome
des Kinos sind deshalb doppelt, sie sind photographisch-phantastische
Gegenwart des vor-filmisch Vergangenen (Lebens), die sich längst
von ihren Urbildern getrennt haben und ein phantastisches Eigenleben führen.
Der in Dämmerlicht getauchte Saal des Fu-Ho Theaters wird zur ‚transtemporalen’
Begegnungsstätte – zwischen den gealterten Darstellern und
den Phantomen (ihren ewig jungen Doppelgängern) auf der Leinwand,
zwischen den einstigen Widersachern aus Hus Film, zwischen der jungen
Kartenverkäuferin auf ihrem beschwerlichen Weg durch die dunklen,
schier endlos erscheinenden Gänge des Fu-Ho Theaters und der jungen
Schwertkämpferin, die in den Kampf zieht, usw. Hierzu, etwas ausführlicher,
Tsai:
The two films are very closely related. In King Hu's films, he pays a
lot of attention to public spaces, so in Dragon Inn there is a focus on
inns and temples, and then of course the theater is a public space, so
the two are responding to each other. In the earlier film, a group of
swordfighters are protecting a boy from evil and the most dangerous space
they have to go through is the Dragon Inn. So in the scene where Chen
Shiang-chyi and the female swordfighter share a mutual gaze, I'm trying
to show that movies can serve as a mutually encouraging force. […]
The Japanese character in my film is on a quest. He's entering an unknown
space full of possible danger, just like the swordfighters. And the two
older actors, Chun Shih and Miao Tien who appear in both films play a
very interesting position. They are both objective watchers, but they
are being watched. The audience doesn't necessarily need to know that
they are also watching their young selves – it could just be two
old men admiring the youth of the swordfighters. A contest of youth and
aging. Film can keep something eternal. It saves the youthfulness, but
it's also dying as well. Whatever you film is slowly dying at the same
time. Whatever you film is no longer there.
Preserving Time
Das filmische Bild, diese, wie Bazin schreibt, „Mumie der Veränderung“,
mit ihrer Gabe, den fotografisch festgehaltenen Gegenstand auf ‚magische’
Weise (i.e. durch Täuschung des menschlichen Auges) wieder zum Leben
zu erwecken, zeigt hier seine von der Fotografie geerbte Kehrseite: das
Vermögen, seinen Gegenstand in seinem So-sein festzuhalten, ihn gleichsam
zu mumifizieren, ihn (genauer: seine gegenwärtige äußere
Erscheinung) „wie der Bernstein den intakten Körper von Insekten
aus einer fernen Zeit“ im Zelluloid (des Filmstreifens) zu konservieren.
Im Spielfeld zwischen Verlebendigung und Mortifizierung/Mumifizierung
überlagert die indexikalische Natur des fotografischen Bildes (‚So
ist es gewesen’) mehr und mehr den narrativen Gehalt des filmischen
Bildes. Das fiktive Geschehen auf der Leinwand wird (als fotografisches
Abbild des Vergangenen, des Verlorenen) zum memento mori, zum Mahnruf
der (eigenen) Vergänglichkeit.
Den ersten Auftritt des strahlenden Helden (Chun Shih) in Hus Dragon Inn
lässt Tsai uns mit den Augen des gealterten Darstellers sehen, der
für diesen kurzen Moment ganz allein im Saal zu sein scheint, allein
mit diesem ewigjungen Phantom auf der Leinwand des Fu-Ho Theaters. Durch
den Blick der Kamera herausgelöst aus dem Fluss der Zeit, damit der
Vergänglichkeit und der Gewalt des (realen) Todes entrissen, tritt
der jugendlich anmu-tende Schwertkämpfer (Chun Shih in Hus Film)
unverändert seinem ‚realen Vor-Bild’ (Chun in Tsais Film)
aufs Neue gegenüber, jedoch ohne Notiz von diesem zu nehmen. Er ist
über die Jahre zu einem Anderen, zu einem Fremden geworden, dessen
Ähnlichkeit nun beinahe wie zufällig scheint. Die nostalgische
Gestimmtheit angesichts der Wiederbe-gegnung mit dem früheren Ich
(wenn auch als Teil einer fiktiven, filmischen Realität) mischt sich
im Zuge stetig wachsender (zeitlicher) Distanz mit „Gefühlen
der Fremdheit, der Diskontinuität und des Nicht-Identischen“.
Der alte Mann im Kinosaal und der junge Mann auf der Leinwand gehören
längst einer anderen Zeit an, die ersterem vielleicht bereits ebenso
weit entfernt erscheinen mag, wie uns – die wir diesen (Film-)Moment
miterleben – die Geschehnisse im (fiktiven) 15. Jahrhundert von
King Hus Film.
Der Blick auf die Leinwand wird zum Blick in die eigene (immer ferner
erscheinende) Vergangenheit, der Film zum Vermächtnis, das der alte
Mann (Miao Tien) an den Jungen neben ihm, an eine jüngere Generation
weitergibt – und damit auch an uns, die wir wiederum in einem anderen
Kinosaal dieses Geschehen verfolgen, das selbst bereits wieder einer anderen
Zeit angehört, nunmehr ebenso Teil der (medialen) Erinnerung, des
kollektiven Gedächtnisses des Kinos, das uns dorthin zurückkehren
lässt – zu einem Moment, verloren in der (realen) Zeit, zu
einem Ort, der vielleicht bereits nicht mehr existiert: das Fu-Ho Grand
Theater. Eine spezifische Qualität des Kinos, des Mediums Film, die
Tsai seit seinem ersten Spielfilm beschäftigt, ja fasziniert hat.
What I find very interesting in cinema is that you can preserve states
of the world. You can even preserve time. For instance, in 1992 I made
The Rebels and many of the things I filmed then are no longer there or
have changed. It’s the same with actors. They change as their life,
their self-development progresses. The very interesting thing about cinema
is that it isn’t just photos, you see it in real time. So it’s
a way of preserving time.
No one comes to the movies anymore
Die letzten Bilder von King Hus Dragon Inn flimmern über die Leinwand
des Fu-Ho Theaters, der Blick der Kartenverkäuferin durch den Vorhang
des Saaleingangs ist nunmehr der letzte Blick, der auf die (bespielte)
Leinwand fallen wird. Der riesige Saal, der zu Beginn der Vorstellung
bis auf den letzten Platz gefüllt schien (wie in den ‚guten
alten Zeiten’, als das Filmtheater noch die Massen anzog), ist nun
menschenleer, liegt still im kalten Licht der Neonröhren; einzig
der hallende Klang der Schritte der jungen Frau, die die Stuhlreihen ein
letztes Mal nach achtlos weggeworfenem Verpackungsmüll absucht, erfüllt
den Raum. Schließlich wird auch sie aus der Einstellung verschwinden,
werden nur noch ihre leiser werdenden Schritte zu hören sein, während
die Kamera noch minutenlang an ihrer Position, im verlassenen Saal verweilen
wird.
Ein letztes Mal lässt Tsai nun die beiden Darsteller aus Hus Film
aufeinander treffen, lässt sie vor einer Wand mit Filmplakaten –
beide gleichermaßen überrascht vom unverhofften Wiedersehen
– einen kurzen, wehmütigen Dialog führen, der eine Brücke
schlägt zu Peter Bogdanovichs The Last Picture Show aus dem Jahre
1971, wo dieser seine Protagonisten ein halbes Jahrhundert früher
ein ähnliches Lamento anstimmen lässt, nachdem der Film-projektor
im Saal des Royal Theater im texanischen Städtchen Anarene mangels
Publikums-zuspruch für immer erloschen ist.
Chun Shih: Teacher, you came to see the movie?
Miao Tien: I haven’t seen a movie in a long time.
Chun Shih: No one comes to the movies anymore.
Miao Tien: …and no one remembers us anymore.
Zum letzten Mal wird der Filmvorführer (Lee Kang-sheng)
den Film zurückspulen, wird die Kartenverkäuferin (Chen Shiang-chyi)
ihre Runde durch das von der Zeit gezeichnete Gebäude machen, die
Fenster schließen und die Lichter löschen. Zum letzten Mal
werden sie schließlich – ohne einander vorher zu begegnen
– von dort nach Hause aufbrechen, er auf seinem Motorroller, sie
zu Fuß.
In der letzten Einstellung des Films – die vielleicht nicht zufällig
an eine ähnliche Einstellung in Murnaus letztem Mann erinnert, in
der der kurz zuvor seines Postens enthobene Portier (Emil Jannings) in
seiner ehemaligen (gestohlenen) Uniform auf regennasser Straße das
Hotel Atlantic verlässt – lässt die junge Frau, nur dürftig
von einem Schirm vor dem strömenden Regen (der unaufhaltbare Fluss
der Zeit?) geschützt, das Fu-Ho Theater hinter sich zurück.
Und zum ersten Mal im Film lässt Tsai hier aus dem Off Musik erklingen:
„Can’t let go“, gesungen von Yao-Lee, ein (wie er selbst
im Abspann schreibt) Oldie aus den 1960ern – der Zeit von Tsais
Kindheit, der Entstehungszeit von Hus Film, aus dem „Golden Age
of Taiwanese cinema“ (Tsai) , dem Tsai mit Goodbye, Dragon Inn –
ähnlich wie zuvor mit What Time is it there? der Nouvelle Vague,
dem Kino Truffauts – ein (wehmütiges) filmisches Denkmal gesetzt
hat.
Literaturverzeichnis
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