Seduktionstheorie des Films I

Marcel Barion

Das Kairos-Prinzip im Film

und sein seduktives Potential

 

Der Kairos

Griechisch „Kairos” meint einen „passenden Ort”, einen „richtigen Zeitpunkt”, ein „rechtes Maß”, im Speziellen sogar eine „tödliche Wunde” und ebenso „Vorteil”, „Nutzen” usf. (vgl. Gemoll 2006). Im Kontext mit bilden-der Kunst ist der Kairos-Begriff in mindestens zwei dieser Bedeutungen zur Anwendung gekommen:

"Plutarch erwähnt ihn im Zusammenhang mit ausgewogenen Körperproportionen, Symmetrie und harmonischer Ponderation. Hier ist er als „rechtes Maß” zu verstehen und verweist damit auf das kanonische Dispositiv der Antike (vgl. Moralia 45 C), das insbesondere in der griechischen Klassik von Polyklets mustergültigem „Doryphoros” verkörpert worden war" (vgl. Pochat 1996, S. 108 f.).

Die andere Bedeutung des Kairos als „rechter Zeitpunkt” ist die für die vor-liegende Arbeit entscheidende: Da Malerei und Plastik faktisch unveränderliche Bilder schaffen, können sie – wie Lessing formulierte – „nie mehr als einen einzigen Augenblick” und im Falle der Malerei „insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte” dar-stellen (vgl. Lessing 1962 [1766], S. 34 f.).

Dieser eine Moment, der im Bildwerk zur Darstellung gelangt, kann auf die bewusste Auswahl eines einzigen, „richtigen Zeitpunktes” durch den Künstler zurückgeführt werden. Während sich z.B. im Falle der Portraitmalerei (beim gewissermaßen gleichförmigen „Modellsitzen”) sozusagen ein möglicher Kairos an den nächsten reihen mag (und das Kairos-Prinzip hier deshalb an Bedeutung verliert), wird im Kontext von Darstellungen ephemerer Vorgänge das Finden und Zeigen eines rechten Zeitpunktes umso wichtiger. Dazu gehören Bildwerke, die einen prägnanten Augenblick aus einer großen Fülle von klar unterscheidbaren Augenblicken einer bestimmten Handlung, vielleicht einer ganzen Geschichte, herausheben müssen, oder auch solche, die auf Bewegungssuggestion ausgelegt sind und daher die Dimension der Zeit zur Darstellung bringen.
Auf die Frage, wo in der zeitlichen Abfolge von Augenblicken der am bes-ten geeignete Augenblick zur Verewigung des Geschehens zu verorten sei, hat Lessing mit Bezug auf Winckelmann eine durchaus prominente Antwort gegeben: „Dasjenige (...) allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Je mehr wir dazudenken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affektes aber ist kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat als die höchste Staffel desselben.” (ebd. S. 35)

Den Augenblick der „höchsten Staffel”, also den Moment der Klimax einer Geschichte zu wählen, hieße also, dem Betrachter eine gewisse Fantasieleistung abzuerkennen. Das Kunstwerk erführe nach Lessing in nur unzulänglicher Weise eine kreative Rezeption, wenn es sich im Moment der Peripetie zeigt. Daher schlägt er den fruchtbaren Augenblick als Moment der „Reduktion” vor (Pochat 1996, S. 132) – zu Gunsten der Einbildungskraft des Rezipienten und einer gewissen, damit verbundenen „Dynamisierung” der Rezeption.

Laokoon (Abb.1) schreit noch nicht, er ist erst im Schreien begriffen. Sein Leiden ist nach Lessing nicht unmittelbar zu erkennen, sondern erst dabei, sich im nächsten Moment zu erkennen zu geben. Gerade in der reinen aber begründeten Antizipation eines bevorstehenden Schmerzensschreis und der damit verbundenen konkreten Vorstellung desselben besteht hier die kreative Seite der Rezeption (vgl. Schneider 1997, S. 39).
Lessing ist scheinbar nicht selten nachgesagt worden, er habe diese Reduk-tion für den Fall des Laokoon allein darin begründet, dass der von antiken Schönheitsidealen geprägte Künstler jede „affektive Verzerrung” des Gesichts als Ideal und daher als darstellungswürdig ausgeschlossen hat (vgl. Schneider 1997, S. 34). Götz Pochat hat diesbezüglich auf die Paradoxie hingewiesen, dass doch die Darstellung von größtmöglicher Schönheit die Vorstellungskraft des Betrachters im Sinne Lessings wiederum lahmlegen müsste, da sie doch gerade in ihrem Höhepunkt, einer Art qualitativer Klimax, gezeigt wäre (vgl. Pochat 1996, S. 132). Dass Winckelmanns Formel der „edlen Einfalt und stillen Größe” keine Hässlichkeit erlaubt (vgl. Schneider 1997, S. 34), scheint also als die ausschlaggebende Motivation schlechthin für die Darstellung eines fruchtbaren Augenblicks (also nicht nur für den Fall des Laokoon) begriffen worden zu sein (vgl. ebd. ff.). Doch damit ist Lessing offenbar missverstanden worden.

 

Denn bereits in seinem nächsten Beispiel vom Medea-Fresko (Abb. 2) ist von der Affirmation eines Schönheitsideals mit dem fruchtbaren Augenblick als einem Mittel zum Zweck keinerlei Rede mehr. Vielmehr habe sich der Maler Timomachos aus Gründen der visuellen Narration für einen verfrühten Augenblick kurz vor dem tatsächlichen Kindermord entschieden, in dem Medea den noch blanken Dolch in den Händen hält – mit dem Rücken zu den nichts ahnenden Kindern gewandt – und vor der Tat zu zögern scheint (vgl. Lessing 1962 [1766], S. 36).

Keine Emporregelung von Winckelmannscher Schönheit (vgl. Schneider 1997, S. 30 ff.) und natürlich noch weniger eine allumfassende Zügelung sämtlicher Register – etwa um die Notwendigkeit einer Art von Brechtscher „Kunst der Betrachtung” zu konstituieren – sondern „lediglich” eine rein erzählerische Zurückhaltung im Hinblick auf den herausgehobenen Punkt einer Spannungskurve scheint Lessing mit Bezug auf zumindest dieses Bei-spiel interessiert zu haben – also eine „Reduktion” im (wörtlichen) Sinne von „Wegführung”, weg von der Peripetie.

Ohne aber dieses Problem weiter vertiefen zu wollen – für die Belange der vorliegenden Arbeit ist in jedem Fall das losgelöste und reine Prinzip des Kairos entscheidend, der wie im Medea-Fresko nicht in der kulminativen Peripetie, sondern schon – man könnte es so nennen – in einem suspensiven Augenblick davor zu verorten ist.

Halte- und Wendepunkte

Im Medea-Fresko sind das Zögern der Hauptfigur und gleichermaßen die letzten Atemzüge ihrer Kinder verewigt worden. Es ist also kein Augenblick der bereits ausgebrochenen Katastrophe – eher ein Augenblick der sich anbahnenden Katastrophe, der Entscheidung in einem sich kulminierenden, nicht in einem bereits kulminierten Sinne.

Lessing erkennt das Vermögen dieses Bildwerks, ein stilles Begehren im Betrachter hervorzurufen: Wäre es doch dabei geblieben, hätte sich „der Streit der Leidenschaften” doch nie entschieden (vgl. ebd. S. 36 f.).

So werde ein „Vorauszittern” (vgl. ebd.) im Rezipienten ermöglicht, ein ge-wisses „Entgegenfiebern”, das die Peripetie im Geiste vorwegnimmt und sie insgeheim zu verhindern wünscht. Zwischen der Furcht vor der Unvermeidbarkeit des Schicksals und der vorsichtigen Erwägung einer etwaigen Abänderung desselben ergibt sich sozusagen das bittersüße Spiel mit der Spannung.

Im Hinblick auf das Spannungs-Moment kann nun die Betrachtung einer ähnlichen aber nicht identischen Auffassung des Kairos weiteren Aufschluss geben:

 

Sich auf Panofsky (1926) und die Bewegungslehre des Aristoxenos von Tarent berufend hat Max Imdahl seine Idee der „Halte- oder Wendepunkte” am Beispiel von Myrons „Diskobol” veranschaulicht (Abb. 3). Er begreift den hier dargestellten Augenblick des vorübergehenden Stillstands als besonders fruchtbar, da ihm noch immer eine „latente Bewegung” innewohnt. Der zu suggerierende Bewegungsablauf verdichtet sich in einem mit „potentieller Bewegung” geladenen „Spannungsmoment” – im Falle des Diskobol im Haltepunkt zwischen Aushol- und Wurfbewegung (vgl. Imdahl 1996 [1968] S. 256 ff.). Überwiegend wird durch die Präsentation eines „bewegungsme-chanischen Spannungsmaximums” (Imdahl 1996 [1970], S. 85) die faktische Dauererscheinung des Werkes überwunden und schließlich der Eindruck einer Spannung – und nicht etwa einer Starre – vermittelt.

Lessing seinerseits hat also die vorausweisende Qualität des Kairos aufgezeigt, der eine Antizipation des Kommenden bedeutet und durch eine Reduktion hinsichtlich des dargestellten Augenblicks in der Handlung erreicht wird. Schon die Metapher des „Fruchtbaren” deutet in erster Linie vom Eben-Jetzt in die unmittelbare Zukunft. Demgegenüber verweisen Imdahls Begriffe „Halten” und „Wenden” eher auf eine unmittelbare Gegenwarts-erfahrung. Sein Augenmerk liegt auf dem Spannungspotential des Kairos, ihm geht es weniger um eine Reduktion von Handlung, sondern mehr um eine Kulmination von Spannung.

Um schließlich beide Aspekte in einem Begriff zu vereinen und sich dadurch ein wenig vor einem zu tiefen Eindringen in geistesgeschichtliche Labyrinthe zu schützen, soll an dieser Stelle die Begriffsidee von einem suspensiven Augenblick (S. 4) wiederaufgegriffen werden.

 

Der suspensive Augenblick

Ein mesopotamisches Relief aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. (Abb.4) wirkt im Vergleich mit dem nocheinmal gut 100 Jahre älteren attischen Diskobol auf den ersten Blick deutlich „naiver” – für den unbekannten Bildhauer aus Uruk war eine mimetische Auffassung von Kunst entweder fremd oder nicht von Interesse. Eine aufs Äußerste typisierte Figur vermittelt hier in ihrer kleinen, planimetrischen Welt die Idee einer Jagd. Doch bewerkstelligt wird dies beachtenswerter Weise durch die Darstellung eines suspensiven Augenblicks – so wird diese Darstellung vergleichbar mit dem Diskobol: Im „Gespannt-Sein” des Bogens zeigt sich der Akt des Bogenschießens im Kairos verewigt, weiter spannt er sich nicht mehr, der Schütze zielt, die Bewegung ist im Halte- oder Wendepunkt, im Augenblick des „Spannungsmaximums” eingefroren.

 

Dieses für unseren Zusammenhang besonders anschauliche Motiv ist nicht nur auf dieser Granitstele aus Uruk zur Anschauung gebracht worden – Darstellungen vom Bogenspannen reichen von altägyptischen Zeugnissen wie „Thutmosis IV. im Kampf gegen die Asiaten” (Abb.5), über zahlreiche antike Bildnisse Dianas, Apollos oder auch Amors, bis hin zu deren postmodernen Verkitschungen. Neuerdings ist das Motiv zudem nicht selten auf z.B. „Robin Hood”-Filmplakaten aufgetreten, ganz gleich ob nun Russel Crowe (2010), Kevin Costner (1991), ein Zeichentrick-Fuchs (1973) oder Errol Flynn (1938) die Hauptrolle gespielt hat.

 

Und natürlich lässt sich eine Vielzahl an weiteren Beispielen für die Ver-ewigung eines suspensiven Augenblicks in der bildenden Kunst nennen: Zum Schlag erhobene Hiebwaffen wie in Rubens' „Anghiarischlacht” nach Leonardo (ca. 1605, Abb.6) oder in Rembrandts „Bileam und die Eselin” (ca 1626), sich aufbäumende oder im Sprung befindliche Tiere, besonders Pferde – dies ist nicht erst bei Jacques-Louis Davids Historienmalerei zu beo-bachten (z.B. „Napoleon überschreitet den großen St. Bernhard-Paß”, 1800) sondern auch schon in prähistorischer Höhlenmalerei. Sogar Verbeugungen wie in Degas' „Ende der Arabeske” (ca. 1877) sind eingefroren worden, die das Ende einer Bühnenperformance auf ewig zu verschieben scheinen (Abb.7), oder sich anbahnende Berührungen, z.B. zweier Hände, prominent vertreten in Michelangelos „Erschaffung Adams” (ca. 1512, Abb.8) – indes ist auf dem Filmplakat von Spielbergs „E.T.” (1982, Abb.9), das diese Geste zu zitieren scheint, interessanterweise auf die Wahl eines suspensiven Augenblicks verzichtet worden.

 

Als besonders hervorstechend erweist sich jedoch ein weiteres mesopotamisches Relief, das sogar erneut eine Löwenjagd zeigt, diesmal aus dem 7. Jahrhundert v. Chr.: Hier wird eine besonders eigentümliche Art zu Jagen veranschaulicht (Abb.10):

 

Eine Käfigtür öffnet sich, ein Löwe springt heraus und hechtet zielstrebig auf einen bewaffneten Mann zu, der spannt geistesgegenwärtig seinen Bo-gen, der Löwe setzt zum Sprung an, erhebt sich in die Luft... und hier bricht die Handlung ab – allerdings nicht, weil das Relief unvollständig erhalten wäre.

Die Darstellung des Königs Assurbanipal auf Löwenjagd macht seinen Handlungsinhalt durch die Zerlegung des zeitlichen Vorgangs in räumlich nebeneinander positionierte „Teilaktionen” oder „Einzelphasen” deutlich – keine Gruppe von Löwen ist also gemeint, sondern der Bewegungsablauf eines einzelnen (vgl. Pochat 1996, S. 72). Das Relief präsentiert sich somit im „kontinuierenden Stil” (vgl. Imdahl 1996 [1968], S. 258), allerdings nicht in der Art und Weise, wie sie z.B. an der Malerei Duccios zu beobachten ist: So sind im Falle von Duccios „Flucht nach Ägypten” (Abb.11) zwei „Plot-Points” einer biblischen Geschichte ins selbe Bild gesetzt worden – die Figur des Joseph taucht zweimal auf und markiert damit zwei verschiedene Stadien der Geschichte.

 

Während es Duccio also eher um Erzählung geht, handelt es sich bei der Löwenjagd vielmehr um Bewegung. Denn die dargestellten Phasen liegen – im zeitlichen Sinne – erstaunlich eng beieinander. Dadurch, dass sich allein die Löwenfigur in drei Phasen auflöst – und keine der restlichen Figuren und ebensowenig das Rauminventar – wird das Gefühl von Tempo auf Seiten des Löwen und von Stillstand auf Seiten der restlichen Bildelemente vermittelt. So als hätten sich wie bei einer Fotografie mit ein paar Sekunden Belichtungszeit die Menschen und Gegenstände naturgemäß nicht sonderlich bewegt – der flinke Löwe hingegen hat die Strecke vom Käfig bis zum König innerhalb der selben Zeit zurückgelegt.

Vor dem Hintergund dessen, dass hier also ein quasi-kinematografischer Effekt erzielt wird (vgl. ebd. S. 257), wird besonders signifikant, dass sich die Handlung nicht bis zur Peripetie oder ggf. sogar darüberhinaus erstreckt, sondern nur bis zu dem Punkt, der als Kairos zu identifizieren ist:

Beim Verlassen des Käfigs sind alle vier Tatzen noch geerdet, dann setzt der Löwe zum Sprung an und zuletzt verewigt sich schließlich der Moment der sich anbahnenden Entscheidung, des Gegeneinanders von entfesselter Natur und menschlicher Gewalt. Auch wenn sich dieses Duell höchstwahrscheinlich zu Gunsten des Königs entscheiden wird, da der Löwe bereits in den Speer der königlichen Leibwache hineinzuspringen droht, so ist doch der Umschlagspunkt selbst nicht dargestellt. Die Peripetie, der tödliche Treffer (oder etwa doch der tödliche Biss?) wird ausgespart. Auf ewig wird sich die Handlung kulminieren, doch niemals wird sie kulminiert sein.

Für den Betrachter bedeutet diese Darstellungsweise einen Verzicht auf die Information des tatsächlichen und endgültigen Handlungsausgangs. Auch wenn dieser vorhersehbar erscheint, bleibt das gedankliche Spiel mit dem möglichen anderen Ausgang der Handlung – und zwar zu Gunsten des Löwen – bestehen. Da sich im suspensiven Augenblick eine derartige Offenheit bezüglich der Entscheidung oder des Ausgangs etabliert, wird ein „Entgegenfiebern” möglich gemacht.

Besonders bemerkenswert aber ist, dass das Relief diesen hervorgehobenen Moment innerhalb einer Kontinuität zeigt, in einem zeitlichen Zusammenhang mit zwei anderen, deutlich untergeordneten Momenten. Gewissermaßen wird die dritte und letzte Phase, in der sich der suspensive Augenblick konstituiert, von den ersten beiden Phasen eingeleitet oder vorbereitet.

Das rund 2700 Jahre alte Relief scheint daher nicht nur ein kinematografisches Moment aufzuweisen, sondern vermag darüberhinaus zu veranschaulichen, wie das Kairos-Prinzip nun unter Zuhilfenahme filmtheoretischen Werkzeugs aus dem Kontext der bildenden Kunst herausgelöst und auf den Film übertragen werden kann.


Der filmische Kairos

Mit Bezug auf Henri Bergsons „Matière et Memoire” (1896) und „L'evolution créatice” (1907) hat Gilles Deleuze auf einen bedeutsamen Unterschied zwischen bildender Kunst und Filmkunst hingewiesen.

Da ein Werk der bildenden Kunst einen herausgehobenen Augenblick zur Anschauung bringt, einen Kairos, der damit zum „Wesensmoment” des Sujets bestimmt wird, werde dabei eine „Pose” geschaffen, eine für sich stehende „transzendente” Form, die sich selbst aktualisiert (vgl. Deleuze 1997 [1983], S. 16 ff.).

Im Gegensatz zu Malerei und Plastik entstehe hingegen Film durch das Hintereinander „immanenter materieller Elemente (Schnitte)”, durch „Momentaufnahmen im gleichen Abstand”, also durch Bilder, die im Einzelnen „beliebig” sind und nicht wie die Bilder der bildenden Kunst einzigartige „Aktualisierungsmomente einer transzendenten Form” (vgl. ebd. S. 18 ff) darstellen.

Das bedeutet für unseren Zusammenhang: Film definiert sich per se nicht über das Finden und Zeigen eines Kairos', da er Bewegung und Handlung nicht in einzelnen Bildern verdichten muss. Es gehört zu seinem Wesen, diese Bewegungen und Handlungen in ihrer konkreten, zeitlichen Ausdehnung, ihrer Sukzessivität zu zeigen.

„Dennoch”, so räumt Deleuze schließlich ein, „lebt der Film anscheinend von herausgehobenen Momenten (ebd. S. 18).” Diese Momente seien zwar immernoch „beliebige Momente”, doch trotzdem „kann der beliebige Moment regulär oder singulär, gewöhnlich oder auffallend sein (ebd. S. 19).”

So wie bei der assyrischen Löwenjagd sind auch ein Großteil der Bilder ei-nes Films einem geringeren Teil der Bilder untergeordnet, da sie sie sozusagen vorbereiten. Diese vorbereiteten Bilder an sich können schließlich zu den nach Deleuze „singulären”, „auffallenden” oder „herausgehobenen” ge-zählt werden – so wie auch das „Fliegen” des Löwen von den untergeordneten Momenten des – jetzt auch metaphorisch zu verstehen – „Losrennens” und „Abspringens” eingeleitet wird.

Den Bilderfluss des Films also nicht als homogen, sondern als heterogen zu begreifen – wie in der Geschichte der Filmtheorie zu Genüge geschehen – z.B. mit den Möglichkeiten der Montage (Eisenstein), welche Syntagmen erzeugt (Metz) und Konzentrationen erlaubt (Pudowkin), usw. – dies ermöglicht schließlich eine Übertragung des Kairos-Prinzips auf den Film. Denn auch wenn für ihn weder Möglichkeit, noch Notwendigkeit der exklusiven Auswahl und Extrahierung eines „rechten Zeitpunkts” besteht, so kann er einen solchen „rechten Zeitpunkt” doch in besonderer Art und Weise aus sei-nem Bilderfluss hervorheben und zur exponierten Anschauung bringen.

Beispiel „Spielberg und Isaak”

In Spielbergs „Raiders of the Lost Ark” (1981) entgeht Indiana Jones un-zählige Male dem Tode. In der 47. Minute droht er sich sogar aus eigener Unwissenheit heraus selbst zu vergiften. Fast eineinhalb Minuten lang hat er eine tödliche Dattel in der Hand gehalten, stets ist er von zu wichtigen Wortwechseln, Überlegungen und Erkenntnissen davon abgehalten worden, sie zu essen. Jetzt aber ist das Ziel der Szene erreicht, Indy und sein Freund Sallah wissen, wie die Jagd nach dem verlorenen Schatz weiterzugehen hat, Sallah beginnt, aus Freude darüber zu singen und verlässt den Bildkader. Endlich wirft Indy seine Dattel in die Luft, um sie mit geöffnetem Mund wieder aufzufangen. Noch im Moment des Werfens erstirbt plötzlich Sallahs Gesang im Off. Die Dattel – in Nahaufnahme, in Zeitlupe und bei gerade erst verstummtem Ton – also „dreifach” exponiert – fliegt empor, erreicht ihren „Zenit”, fällt wieder herab, aus der Stille schwillt ein Pauken-Tremolo heran, doch bevor sie Indys geöffneten Mund erreichen kann, schnellt Sallahs Hand dazwischen, erwischt sie wenige Zentimeter über Indys Gesicht. Die Gefahr ist zwar gebannt, doch trotzdem wird sie von dissonanten Violinen und den beunruhigten Gesichtern retrospektiv kommentiert. Denn erst im unmittelbaren Rückblick wird nun klar, dass Sallah seinen Gesang (vor gut 5 Sekunden) noch mitten in der Verszeile abgebrochen hatte, weil er den toten Affen hatte daliegen sehen und daneben die Überreste einer weiteren vergifteten Dattel.

 

Sallah und seine rettende Hand erinnern an den Engel in Ghibertis Relief „Opferung Isaaks” (1401, Abb.12). Der Kairos kurz vor der Peripetie, den Ghiberti hier für seine Verewigung der biblischen Szene ausgewählt hat, ist ein suspensiver Augenblick, in dem die Dramatik des Gegenwärtigen ebenso erfahrbar wird wie die Vorausschau auf das Bevorstehende und das Bangen um den Ausgang.

Abraham, auf Gott vertrauend, ist entschlossen, seinen Sohn zu töten, ein einziger Stich mit dem Dolch ist zum dargestellten Zeitpunkt noch nötig, um es zu besiegeln. Im Hintergrund aber naht der Engel, die Hand ausgestreckt, um Abrahams Arm zu fassen und ihn aufzuhalten.

Ähnlich wie der Betrachter dieses Reliefs weiß, dass Isaak nicht durch die Hand seines Vaters umkommen wird, weiß auch der Zuschauer von „Raiders of the Lost Ark”, dass Indiana Jones nicht an einer vergifteten Dattel sterben wird, selbst dann nicht, wenn sie sich schon auf ihrem Weg in seinen Mund befindet. Es wirkt beinahe so, als vertraue Indy auf Spielberg, so wie Abra-ham auf Gott. Als könnten beide den Mord am eigenen Blute wagen, gerade weil er ihnen nicht gelingen wird.

Und weil auch der Zuschauer Spielberg vertraut, wird hier der suspensive Augenblick – in seinem Charakter zwischen einem Wissen um das noch nicht Eingetretene und einem leisem Bangen um das vielleicht doch Eintretbare – gewissermaßen zu einem ungefährlichen und dabei doch spannenden Spiel.

Spielberg beweist schließlich, dass man ihm weiterhin vertrauen kann. Tatsächlich schickt er ja einen Engel, um Indy vor der letalen Dummheit zu bewahren.

Beispiel „Peckinpah und Medea”

Wie schon Pudowkin angemerkt hat (1932), gewinnt der Inhalt einer Ein-stellung an „Gewicht” und „Bedeutsamkeit”, wenn diese zeitlich gedehnt wird. Er hat damit auf die Möglichkeit eines bewussten Einsatzes der Zeitlupe hingewiesen, welche, ohne sich in bloßer Attraktion zu erschöpfen, der Konzentration und damit der Exponierung eines Filmsegments dienen kann (vgl. Pudowkin 1983 [1932], S. 310 f.).

Auch im vorangegangenen Beispiel ist eine solche Exponierung u.a. durch den Einsatz der Zeitlupe erreicht worden.

Bei Spielberg zeigt sich also, inwiefern das Prinzip eines suspensiven Augenblicks auf den Film übertragbar ist. Es geht hier nicht mehr um die Auswahl eines Kairos zur exklusiven Darstellung desselben, sondern um seine besonders hervorhebende, exponierende Inszenierung im filmischen Bilder-fluss – mit welchem „Zweck”, davon wird noch die Rede sein.

Hier ist nicht etwa nur ein beliebiger Moment zur Exponierung ausgewählt worden, sondern einer, der bereits bzgl. des klimatorischen Szenenaufbaus als Kairos zu bestimmen ist. So wird er zu einem der „singulären” und „auffallenden” Momente innerhalb der vielen „beliebigen” und schließlich als ein suspensiver Augenblick kurz vor der Entscheidung in hervorhebender Art und Weise inszeniert – wohlgemerkt nicht nur durch die Nutzung der Zeitlupe, sondern auch durch die vergrößernde Kadrierung und den dramati-sierenden Musikeinsatz.

Ferner lässt sich feststellen, dass das Kairos-Prinzip im Film in einem weit-reichenderen Zusammenhang zu begreifen ist, da nun filmeigene Mechanismen eine Rolle spielen, die sich besonders im sukzessiven Wesen des Films begründen. Sam Peckinpah soll nun ein Beispiel dafür liefern (in dem die Exponierung übrigens nicht, wie im Zusammenhang mit Peckinpah viel-leicht zu erwarten wäre, durch einen Einsatz der Zeitlupe erreicht wird):

In der 126. Minute von „The Wild Bunch” (1969) ist die Gruppe um Pike Bishop in General Mapaches Lager vorgedrungen und rechnet mit der Frei-lassung ihres gefangenen Freundes. Diesem aber schneidet der General ganz unvermittelt – vor den Augen Pikes und seiner Truppe – die Kehle durch. Noch im direkten Affekt wird der General erschossen, ob aus Pikes Revolver oder dem eines anderen oder gar aus mehreren, wird angesichts der Bilderflut nicht klar ersichtlich.

Nun folgen knappe 35 Sekunden Stille, durchzogen von 23 Schnitten: Ver-blüffte und entsetzte Gesichter, die Gefolgsleute des Generals im Begriff, die Waffen zu ziehen, aber doch innehaltend, sie scheinen es nicht zu wagen. Die Truppe eingekesselt, jeder in Bereitschaft, Pike blickt um sich, als könne er die allgemeine Bewegungslosigkeit selber nicht fassen. Erst nach etwa 20 Sekunden lacht einer seiner Mitstreiter kurz auf. Ob dieser gerade erst den Tod des Generals oder auch die Ausweglosigkeit der Lage realisiert hat, ob sich darin seine Verblüffung über den so einfachen Mord am Feind oder sei-ne Unsicherheit, sein Unwissen über das kurz Bevorstehende veräußerlicht – sein Freund Pike zumindest gewinnt die Fassung zurück. Und als würden ihm sämtliche Anwesenden alle Zeit der Welt lassen, dreht er sich tatsächlich um, zielt auf einen weiteren Feind in Uniform und schießt – der Schuss ist laut und tödlich, alles gerät wieder in Bewegung, nun dürfen auch weitere Schüsse fallen, Stimmengewirr auf spanisch, der Schwebezustand ist vorbei, man handelt wieder, das unvermeidbare Chaos beginnt.

Es wird deutlich, dass sich der suspensive Augenblick nicht zwangsläufig in einer einzelnen Einstellung konstituieren muss, sondern auch als montierter, konstruierter und erst in der Rezeption vermittelter Augenblick verstanden werden und ferner unempirisch und immateriell, vielmehr gedanklich begriffen werden kann. Der suspensive Augenblick im Beispiel „Spielberg” ließe sich noch in der einzelnen Einstellung der empor- und herabfliegenden Dattel verorten, im Beispiel „Peckinpah” allerdings „verteilt” er sich vielmehr auf ein Einstellungs-Ensemble. In beiden Fällen wird jedoch die Zeit auf unterschiedliche Art und Weise gedehnt.

Außerdem kann im weiteren Vergleich der beiden Filmszenen festgestellt werden, dass – gegenüber der eher ironischen Inszenierung bei Spielberg – durch die Ausweglosigkeit der Peckinpah-Situation durchaus ein tragisches Ende nahegelegt wird.

Deshalb wird auch hier wie im Beispiel des Medea-Freskos ein „Vorauszittern” oder „Entgegenfiebern” in besonderer Art und Weise ermöglicht. Die Peripetie wird in gewissen Zügen antizipiert, worauf man die Unvermeidbarkeit des Bevorstehenden „befürchtet” und doch vorsichtig seine Abänderung erwägt. Das Spiel mit dem Gedanken eines unvorhergesehenen Auswegs oder einer Rettung durchzieht hier den weit gedehnten suspensiven Augenblick.
Doch Peckinpah lässt seine Hauptfiguren wirklich sterben, er ist nicht so gnädig wie Spielberg, vielmehr konsequent wie Medea.


Seduktion durch Suspension

Durchaus wäre es möglich, das Theorem des suspensiven Augenblicks wei-ter zu abstrahieren, um so etwa auch minutenlange Sequenzen zu beschreiben, in denen ebenso eine Verzögerung der Entscheidung zu Gunsten eines Spannungsaufbaus erreicht wird – wie etwa die in Coppolas „The Godfather” (1972) mehrere Szenen umfassende Vorbereitung Michael Corleones auf den Mord an Polizeichef McCluskey und „Türke” Sollozzo, eine Situation, die sich über viele Minuten hinwegzieht, allmählich zuspitzt und schließlich entscheidet – die Interpolation gleich mehrerer hinauszögernder Szenen zwischen die Grundstein-Szene (wenn der Mord beschlossen wird) und die Entscheidungs-Szene (wenn der Mord ausgeführt wird) stünde hier im Zeichen einer Art von „suspensiver Inszenierung”.

Doch betrachten wir weiterhin den suspensiven Augenblick an sich – dem Umfang der vorliegenden Arbeit angemessen – als Moment innerhalb eines konkreten Handlungs- oder Bewegungsablaufs, so kann ihm nun – u.a. mit Bezug auf das Deleuzesche Bewegungsbild-Kino – eine gewisse Rolle in Marcus Stigleggers Seduktionstheorie zugewiesen werden.

Es ist kein Zufall, dass die beiden bisher angeführten Filmbeispiele aus dem Bereich des „kinetischen, taktilen Kinos” stammen, das Stiglegger dem Dis-positiv des Bewegungsbildes zugeordnet hat (vgl. Stiglegger 2006, S. 110 f.).
Dieses Bewegungsbild nach Deleuze entsteht durch die Verkettung von „Wahrnehmung”, „Aktion” und „Affekt” zu einem „sensomotorischen Intervall” (vgl. Deleuze 1997 [1983], S. 91 ff.). Der klassische Actionheld, paradigmatischer Protagonist des Bewegungsbild-Kinos, ist im ständigen Wahrnehmen und Reagieren begriffen – Indiana Jones und ebenso Pike Bishop kennen das Unbewegte so gut wie nicht, ihnen ist das Erstarren vor einer nicht zu bewältigenden Situation fremd. Letzteres nämlich hat nach Deleuze im Neorealismus zur „Krise des Aktionsbildes” geführt (Deleuze 1997 [1985], S. 14) – hier finden sich Figuren in „rein optischen und akus-tischen Situationen” wieder (vgl. ebd. S. 60), wie beispielsweise Antonio Ricci in De Sicas „Ladri di biciclette” (1948), der ohne sein Fahrrad zu keinerlei Aktion mehr fähig und im bloßen Wahrnehmen der Umwelt gefangen ist. Auch Ozu, Tarkowskij oder Haneke kappen dieses sensomotor-ische Band und formulieren damit Zeitbilder, in denen mythische Erzählstrukturen nicht mehr aufrechterhalten werden, welche aber für die Konstitution suspensiver Augenblicke offenbar bedeutsam und höchstwahrschein-lich sogar Voraussetzung sind.

„Kinetisches und taktiles Kino” funktioniert gerade durch die andauernde und damit zyklisierende Verkettung intakter sensomotorischer Intervalle und gleichsam durch die Konstitution von Erzählstrukturen, das bedeutet u.a.: Es definiert sich u.a. über die Zeichnung von Spannungskurven, ob nun auf die gesamte Filmfabel oder auf einzelne Szenen oder sogar nur auf Situationen innerhalb der Szenen bezogen. Nur hier ist ein Kairos ausmachbar, da es ja eine Peripetie geben muss, der er vorzuschalten ist.

Im sensomotorischen Intervall nach Deleuze könnte der suspensive Augenblick nun eine Hinauszögerung der Aktion bedeuten, vielleicht auch eine Zerdehnung der Wahrnehmung oder sogar eine „Androhung” der Aktionsbild-Krise. Letzters scheint zumindest für das Beispiel „Peckinpah” in gewisser Weise zuzutreffen, denn immerhin befinden sich sämtliche beteiligten Figuren für einen relativ langen Zeitraum in einem Zustand der Reaktions-unfähigkeit.

Wie in einer „rein optischen und akustischen Situation” sehen sie sich einer Entscheidung um Leben und Tod gegenüber und schaffen es für eine gewisse Zeit nicht, sie zu treffen. Dutchs plötzliches Lachen scheint diesen Zustand der Unbeweglichkeit beinahe zu kommentieren, so als wisse er um das sensomotorische Band, das zu zerreißen sie nicht im Stande sind, sprich: Sie können es sich nicht leisten, noch länger abzuwarten – eine Handlung muss erfolgen. Dieser suspensive Augenblick scheint den Bewegungsbild-Figuren aber eine Ahnung davon zu geben, wie es denn ist, nicht reagieren zu kön-nen, wie es ist, De Sicas Antonio Ricci zu sein. Doch als wäre Pike vom gemeinsamen Lachen an seine Verpflichtung ans Aktionsbild erinnert wor-den, beendet er den suspensiven Augenblick, den Moment „vorübergehenden Stillstands” (Imdahl) und damit auch das begonnene Intervall.

Allmählich wird das besondere seduktive Potential des suspensiven Augenblicks deutlich. Verführerisch am vorübergehenden Stillstand in Form eines zeitlich gedehnten Augenblicks ist nach Stiglegger zunächst das „Überlisten von Flüchtigkeit” (Stiglegger 2006, S. 78) bei ständigem Gewahrsein der faktischen Vergänglichkeit des Geschehens (vgl. ebd.). Was die bildende Kunst leistet, nämlich das Transitorische, das Ephemere, also die „Flüchtigkeit” auf ewig einzufrieren, so offenbart der Film gerade das Illusorische dieses Unterfangens, indem er das „Vorlaufen zum Tode” (ebd. S. 79) ein tatsächliches „Vor-Laufen” bleiben lässt, und es nicht etwa im Laufe anhält. Bezeichnender Weise geht es im Beispiel „Peckinpah” und ebenso im Beispiel „Spielberg” um das Hinauszögern eines möglichen Todes.

An dieser Stelle wird erneut die Doppelnatur des suspensiven Augenblicks deutlich. Denn ebenso verführerisch wie das „Verharren” und die Ahnung vom „ewigen Moment” (ebd.) sind das „Vorlaufen”, das „Bangen”, das „Vorauszittern”, und dies in verschiedenerlei Hinsicht. Mit Bezug auf Freud hat Stiglegger beispielsweise auf die in diesem Zusammenhang wesentliche Rolle des „Wunsches” hingewiesen (vgl. ebd., S. 22 f.), der sich während der suspensiven Hinauszögerung der Entscheidung manifestieren kann. Die Erfüllung eines Wunsches – der sich in einer klassisch erzählten Geschichte durchaus auf den alles entscheidenden Moment der Peripetie ausgerichtet hat – wird noch im unmittelbaren Moment davor hinausgezögert, was die bereits angestaute Erwartungshaltung und ebenso die damit einhergehende Befürchtung des Scheiterns kulminieren lässt – und damit womöglich auch die Eindringlichkeit der Seduktion.

Stigleggers Ausführungen über die Seduktionstheorie des Films handeln ohnehin vermehrt von „Begehren”, „Bedürfnis”, „Wunsch”, „Erwartung” – und es ist mehr als deutlich geworden, dass der suspensive Augenblick all dies konstituieren kann. Ferner kann hier das von Girard beschriebene Konzept des „mimetischen Begehrens” weiteren Aufschluss geben: Durch die Identifikation mit den Figuren springt der Funke des Begehrens auf den Rezipienten über – und letztlich greift hier wieder das Moment der Hinauszögerung in Form eines „Hinhaltens”.

Des Weiteren kann besonders dem Versprechen von „Transzendenz” oder „Transgression” (vgl. ebd. S. 81 ff.) seduktive Qualität zugeschrieben werden – auch der Deleuzesche Begriff der „Sensation” (vgl. ebd. S. 85) verweist auf eine Überführung von einem Zustand in den anderen. Da die Peripetie einer Szene oder gar einer gesamten Filmhandlung durchaus transzen-denten oder transgressiven Charakter haben kann, liegt auch hier das besondere sedukive Potential einer Hinauszögerung dieser Schwellenüberschrei-tung nahe.

Schließlich ist es auch das Interesse des Filmrezipienten an kinetischen, taktilen Attraktionen, am „Spectaculum” (vgl. ebd. S. 108), woran das seduktive Potential einer „Verzögerungstaktik” (vgl. ebd. S. 111) augenfällig wird. Auch wenn Stiglegger hier zwar die Bewegungsperformance im Actionkino, wie etwa die Verfolgungsjagd selbst, schon in sich als Verzögerungstaktik begreift, so ist die Verwandtschaft zum suspensiven Augenblick doch auffällig – Stiglegger vergleicht diese Art der Verzögerungstaktik nicht umsonst mit der „Suspense”, der „Erwartungsspannung”: Suspense ist in sich – und an seiner Wortverwandschaft erkennbar – suspensiv. Und der suspensive Augenblick verdichtet die aufgebaute Erwartungsspannung gewissermaßen in einem konkreten Filmmoment.

Wenn Hans Landa in Tarantinos „Inglourious Basterds” (2009) gegen Ende des ersten Kapitels (in der 20. Minute) seine Waffe hebt und in aller Ruhe auf die flüchtende Shosanna zielt, so kommt es sogar zu einem suspensiven Augenblick, der die naheliegende Erwartung des Zuschauers gar nicht erfüllen wird. Durchaus ist hier zu erwarten, dass Landa schießt – das „Bangen” und „Vorauszittern” kreist um die Frage: Trifft er oder trifft er nicht?

Dass er schließlich die Waffe wieder senkt und nur spielerisch, fast wie ein Kind mit Spielzeugpistole ein Schussgeräusch verbalisiert, verdeutlicht seinen zynischen und ebenso Tarantinos ironischen Gestus – der panisch Flüchtenden und ebenso dem Zuschauer gegenüber, der nicht nur um seine Attrak-tion gebracht wird, sondern auch um eine Entscheidung.

Dieses Beispiel veranschaulicht erneut die Bandbreite von Möglichkeiten, nicht nur eines Einsatzes, sondern eines Spiels mit dem Kairos-Prinzip.

Diese erweiterten Möglichkeiten sind gerade der Sukzessivität des Films geschuldet. Der suspensive Augenblick kann auf eine bestimmte Peripetie ver-weisen, die jedoch niemals eintritt, und somit aus einem „suspense”-Moment einen „surprise”-Moment machen.

Eine ganz andere Möglichkeit zur inszenatorischen Nutzung des Kairos-Prinzips soll letztendlich nicht ganz unerwähnt bleiben: In der 72. Minute von Ridley Scotts „Alien” (1979) bewegt sich das titelgebende Wesen aus einer fremden Welt durch den Luftschacht auf Captain Dallas zu, der eben-hier nach ihm sucht. Der Jäger wird zum Gejagten, doch erkennbar wird dies lediglich auf der abstrahierenden Anzeige des Suchgeräts, das Alien selbst ist also nicht sichtbar, nur ein beweglicher Punkt, die Möglichkeit eines falschen Alarms bleibt sozusagen bis zum Szenenende im Hinterkopf, auch wenn sie verschwindend gering ausfallen mag. Die Szene endet schließlich im suspensiven Augenblick: Im Licht der Taschenlampe erscheint das Alien für einen kurzen Moment, es streckt die Arme nach Dallas aus, doch anstatt den Angriff und Dallas' Tod erleben zu dürfen (oder zu müssen), verlassen wir an dieser Stelle den Ort der Handlung, überspringen ein wenig Zeit und Raum und finden uns plötzlich in der Gesellschaft der geängstigen Crew wieder. Parker hat Dallas' Waffe gefunden und berichtet, es sei sonst nichts da gewesen, noch nicht einmal Blut. Was er also nicht gesehen hat und eben-so kein anderer der Besatzung, das haben auch wir nicht sehen dürfen. Im Moment kurz vor der Entscheidung haben wir die Handlung verlassen und wagen es wie die verbliebenen Figuren kaum, den Hergang der Handlung zu rekonstruieren, vielmehr tappen wir zusammen mit der nun führerlosen Gruppe weiterhin im Dunkeln.

Hier ist der Kairos nicht zu einem suspensiven Augenblick gedehnt worden, sondern markiert vielmehr den verfrühten Endpunkt einer klimatorischen Szene, so dass es erst nach dem „Schnitt”, also im räumlichen sowie zeitlichen Off zur Peripetie kommt. Es wird deutlich, wie die „Fruchtbarkeit” des Kairos auch im Film ganz im Sinne Lessings der Konstruktion von Leerstellen sowie der damit verbundenen Aktivierung einer kreativen Re-zeption dienen kann. Um weiter mit Lessing zu sprechen – die „höchste Staffel” der Szene, der Tod des Captains, wird zu Gunsten einer Fantasieleistung auf Seiten des Betrachters ausgespart. Es wird augenfällig: Ein Wegschneiden im Kairos hat Cliffhanger-Charakter.

Insgesamt kann nun festgehalten werden, dass das Kairos-Prinzip überall dort zur Geltung kommt, wo Geschichten in mehr oder weniger klassischer, bzw. mythischer Art und Weise erzählt werden, oder zumindest wo Einzelszenen klimatorisch aufgebaut sind. Wo es in der filmischen Fabel eine Peripetie gibt, dort gibt es ebenso den Kairos und der bietet sich mit seinem suspensiven sowie seduktiven Potential zur besonderen Inszenierung an.

Durch seine Einbettung in die Sukzessivität des Films als hervorgehobener Moment, durch Möglichkeiten seiner Vorbereitung und Präfigurierung anhand von vorausweisenden Momenten im Bilderfluss, sowie durch ein retrospektives Kommentieren werden inszenatorische Möglichkeiten eröffnet, die die bildende Kunst nicht bietet. Der Film konstruiert also nicht etwa eine ohnehin im Kairos vollständig enthaltene Geschichte um diesen herum, so dass er ebensogut in einem Werk der bildenden Kunst hätte dargestellt werden können, sondern ist gerade dadurch, dass er das Vorher und das Nachher zur Anschauung bringt, zu einem reicheren Spiel mit dem Kairos-Prinzip fähig.

Die besondere Qualität von Malerei und Plastik zeigt sich letztlich in ihrer expliziten Prägnanz bei impliziter Komplexität, was sich – mit Deleuze gesprochen – in der im Kairos „angespannten” und sich darin „selbst aktualisierenden” Form begründet. Dem Film indes kann für den Umgang mit dem Kairos-Prinzip (und natürlich auch darüberhinaus) eine Affinität zum Perfor-mativen attestiert werden, ein Hang zum Vorbereiten und Hervorheben, zum Verführen, Umspielen, Konzentrieren und Erleben-Lassen.

Literatur

Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 (1983). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.

Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2 (1985). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.

Gemoll. Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. Hg. Wilhelm Gemoll und Karl Vretska. München: Oldenbourg 2006.

Imdahl, Max: „Bildsyntax und Bildsemantik. Zum Centurioblatt im Codex Egberti” (1970). Gesammelte Schriften. Band 2. Zur Kunst der Tradition. Hg. Gundolf Winter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. 78-93.

Imdahl, Max: „Vier Aspekte zum Problem der ästhetischen Grenzüberschreitung in der bildenden Kunst” (1968). Gesammelte Schriften. Band 3. Reflexion – Theorie – Methode. Hg. Gottfried Boehm. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. 247-273.

Lessing, Gotthold E.: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). Paderborn: Schöningh 1962.

Plutarch: Moralia 1. 1A-86A. London: Heinemann 1969.

Pochat, Götz: Bild – Zeit. Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit. Wien: Böhlau 1996.

Pudowkin, Wsewolod: „Die Zeit in Großaufnahme” (1932). Die Zeit in Großaufnahme. Aufsätze, Erinnerungen,Werkstattnotizen. Hg. Tatjana Sapasnik und Adi Petrowitsch. Berlin: Henschel 1983. 305- 312.

Schneider, Norbert: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. Stuttgart: Reclam 1997.

Stiglegger, Marcus: Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film. Berlin: Berz + Fischer 2006.

Winter, Gundolf: „Das Werk als Ereignis. Max Imdahls Texte zur Kunst der Tradition.” Gesammelte Schriften. Band 2. Zur Kunst der Tradition. Hg. Gundolf Winter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. 7- 32.

 

Film

Coppola, Francis Ford: The Godfather. Paramount Pictures 1972.

De Sica, Vittorio: Ladri di biciclette. Produzioni De Sica 1948.

Peckinpah, Sam: The Wild Bunch. Warner Brothers 1969.

Scott, Ridley: Alien. Twentieth Century Fox 1979.

Spielberg, Steven: Raiders of the Lost Ark. Paramount Pictures 1981.

Tarantino, Quentin: Inglourious Basterds. Universal Pictures 2009.