Alexander Dvorak

Morgenstern
Anmerkungen zum Mythos 'Lucifer'

 

Er sprach aber zu ihnen: ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.
Lukas 10, 18

Lucifer is the Light God, not the devil – that’s a Christian slander. The devil is always other people’s godes. Lucifer is the Rebel Angel behind what’s happening in the world today. His message is that the Key of Joy is Disobedience.
Kenneth Anger, Lucifer Rising

Die Bibel beschreibt Lucifer – den sie gelegentlich, wenn auch nicht immer, mit Satan und dem Teufel identifiziert – als einen Blitz, der vom Himmel fährt, aus den göttlichen Gefilden vertrieben als einen Rebellen, einen Widergänger, der sich die göttliche Macht zu eigen machen wollte; Lucifer, ein rebellischer Engel, der Gott nicht mehr als die Höchste Instanz über sich anerkennen wollte. Der erste Verkünder einer Weisheit, die einst mit dem Namen des englischen Magiers Aleister Crowley verbunden bleiben sollte: „Jeder Mann und jede Frau ist ein Stern.“ Ein Morgenstern? „Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie wurdest du zu Boden geschlagen, der du alle Völker niederschlugst! Du aber gedachtest in deinem Herzen: 'Ich will in den Himmel steigen und meinen Thron über die Sterne Gottes erhöhen [...]. Ich will auffahren über die hohen Wolken und gleich sein dem Allerhöchsten.‘ Ja, hinunter zu den Toten fuhrest du, zur tiefsten Grube. [...] Man wird des Geschlechtes der Bösen nicht mehr gedenken. Richtet die Schlachtbank zu für seine Söhne um der Missetat ihres Vaters willen, dass sie nicht wider hochkommen und die Welt erobern und den Erdkreis voll Trümmer machen.“ Was der Prophet Jesaja hier (14, 12-23) beschreibt, ist der Sturz des babylonischen Königs, der hier mit dem gefallenen Ketzer, dem Rebellenengel Lucifer gleichgesetzt wird.

Nimmt man die Herkunft des Lichtbringers aus dem Geblüt der Engel an, gewinnt seine symbolische Figur Gestalt: Die Engel fungieren in Form geistiger Geschöpfe an den „Grenzen der Ewigkeit und der Zeit“ (Denis de Rougemont) als Boten der göttlichen Wahrheit (so besagt es auch ihr griechischer Name angelos). Aber: „Ein jeder Engel ist schrecklich,“ so will es Rilke in den Duineser Elegien, doch was ist so schrecklich an diesen göttlichen Boten der Wahrheit? Etwa die Botschaft selbst? Dem Ketzerischen dieser Figur nähert sich ein Abschnitt aus Anton Szandor LaVeys Satanic Bible (1969), S. 39: „Der römische Gott, Lucifer, war der Bringer des Lichts, der Geist der Luft, die Verkörperung der Erleuchtung. In der christlichen Mythologie wurde er synonym mit dem Bösen, was zu erwarten war von einer Religion, deren Existenz bestimmt wird von schwammigen Definitionen und heuchlerischen Werten! Es ist Zeit, dies zu berichtigen. [...] Es wurde gesagt, 'die Wahrheit mache den Menschen frei.‘ Die Wahrheit alleine hat noch niemanden befreit. Nur der ZWEIFEL bringt die mentale Eigenständigkeit. [...] Wie naheliegend, dass die Heilige Schrift den Infernalen Monarch 'Vater der Lügen‘ nennt – ein deutliches Beispiel für die Umpolung eines Charakters. [...] Wenn ein Zweifel dem anderen folgt, droht die Blase angesammelter Falschheit zu zerplatzen. Für jene, die bereits vorgebliche Wahrheiten bezweifeln, ist [die 'Satanic Bible‘] eine Offenbarung. Dann wird Lucifer auferstehen. Jetzt ist die Zeit für den Zweifel! Die Blase birst und ihr Lärm ist der Aufschrei der Welt!“

Wenn die überbrachte Wahrheit den Zweifel nähren würde und somit für den gläubigen Christen so „schrecklich“ wäre, dann kann sie nur eines besagen: Die Wahrheit ist, dass es Gott nicht gibt, dass seine Boten und letztlich die Menschen selbst Gott sind. Der Aufschrei erfolgt angesichts einer überwältigenden Einsicht in die unglaubliche Verantwortung, die auf den Menschen zurückfällt, wenn „jeder Mann und jede Frau ein Stern“ ist, wenn am Ende (und Anfang): Gott tot sein sollte. Lucifer wurde aus den göttlichen Heerscharen verwiesen, weil er „Träger seines eigenen Lichts“ (de Rougemont), Überbringer seiner eigenen Botschaft werden wollte. Und diese anarchische, autonome Botschaft konnte niemals die Gottes sein, dessen eigenen Sturz sie bedeutete. So wird es für die Blinden weiterhin nötig sein, den Nachkommen des Morgensterns „die Schlachtbank zu bereiten“, um niemals von dem Licht der Erkenntnis getroffen zu werden. An die Stelle dieses Lichtes, das den Zweifel nährt, um die Wahrheit zu erlangen, trat eine Ära der Ignoranz und Blockade. Wer den Zweifel nährte, wurde zum Ketzer, zum Nicht-Gläubigen erklärt. Lucifer galt so bereits früh als einen Synonym des Bösen, der Lüge und der Sünde, doch das, was als die Verführung zum Bösen gewertet und verurteilt wurde, ist am Ende nur eines: ein Aufruf zum Ungehorsam – die Motivation zum Dionysischen und Prometheischen. Lucifer ist der Querdenker, der mutige Ketzer, in dessen Wahrheit die Freiheit liegen könnte – wenn sie denn in all ihrer Konsequenz ergriffen würde...

Illustration: Franz von Stuck: Lucifer (1890)
„Luzifer (lat.: Lichtbringer, Erleuchter), der gefallene Engel, wird im Symbolismus teilweise zur Identifikationsfigur umgedeutet. Als Ursache des Engelssturzes gilt die Hybris Luzifers. Wie Prometheus, nur mit diabolischeren Zügen, ist Luzifer ein Rebell wider die herrschende Gottesmacht. In die Rolle des Antihelden gedrängt, repräsentiert er das negative Prinzip, die dunkle Kehrseite des göttlichen Lichts. [...] Stucks Höllenfürst ist melancholisch: Er sitzt auf einer Steinbank, den Kopf in die Hände gestützt, und starrt sein gegenüber, den Betrachter, aus glühenden Augen an. Der direkte 'Blickkontakt‘ ermöglicht gleichsam den faustischen Pakt.“ (Anja Petz, SeelenReich. Die Entwicklung des deutschen Symbolismus 1870-1920, 2000)