Ästhetik der Auflösung

Anmerkungen zum Einfluss der Industrial-Culture auf das japanische Kino

von Marcus Stiglegger

 

Industrialmusik bietet Dokumente auditiver Destruktion: Tonspuren nahezu physisch wahrnehmbaren Lärms, kaum Struktur, kaum Variation, nur auditiven Schmerz. Der förmlich anti-musikalische, bruitistische Klang der Industrialmusik der späten siebziger Jahre demaskierte das „wahre Gesicht“ des industriell-technisierten Lebens. Die Vorreiter der Industrial-Welle, Throbbing Gristle, S.P.K. und NON, adaptierten Strategien der modernen Avantgarde-Bewegungen, verwendeten „noisige“ Klänge (abgeleitet von dem atmosphärischen Rauschen white noise) und an den bruitismo des Futurismus erinnernde Maschinenrhythmen. Der Australier Graeme Revell von S.P.K. z.B. benannte sein späteres Label „musique brut“, und die spanischen Rhythmusprimitivisten Esplendor Geometrico gaben sich ihren Namen nach Filippo Tommaso Marinettis Gedicht „Esplendore géométrico e mécanico“. Atonale Klangstrukturen wurden aus der Neuen Musik , Improvisationsstrategien aus dem Freejazz importiert, wobei konkret „jazzige“ Elemente nur selten Eingang in die Industrial Musik gefunden haben .

Aber auch ein performativer Aspekt gehört zum Wirken der frühen Industrialformationen: „Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich tabuisierten Themen wie Perversion, Gewalt und Tod gehörte zu den wesentlichen Merkmalen der Industrial Culture, die Ende der siebziger Jahre als avantgardistische Strömung gezielt vorgegebene künstlerische Grenzen durchbrach. Die Darstellung einer verdrängten Wirklichkeit wurde als Teil einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen wie auch mit inneren psychischen Strukturen verstanden, die sich letztlich gegen die systemtragenden Mechanismen der medialen Manipulation von Bewusstsein und Bedürfnissen richtete“, schreibt Wolfgang Sterneck in der Kulturzeitschrift Ikonen. Er führt diese künstlerische Ströumg vor allem auf Antonin Artauds Konzept eines „Theaters der Grausamkeit“ zurück: „Artaud zufolge kann das Theater ‚erst dann wieder es selbst werden, wenn es dem Zuschauer der Wahrheit entsprechende Traumniederschläge liefert, in denen sich sein Hang zum Verbrechen, seine erotischen Besessenheiten, seine Wildheit, seine Trugbilder, sein utopischer Sinn für das Leben und die Dinge, ja sogar sein Kannibalismus auf einer nicht bloß angenommenen und trügerischen, sondern inneren Ebene Luft machen. Das Theater muss durch alle Mittel ein Infragestellen nicht nur aller Aspekte der objektiven Außenwelt, sondern auch der inneren Welt erstreben.‘ Es bedarf nur eines Austausches des Begriffs des Theaters mit dem der Musik und die Ausführungen entsprächen einer charakteristischen Beschreibung des Selbstverständnisses einer Industrialband.“ Bereits 1979 hatte die Londoner Performance-Formation Throbbing Gristle, entstanden aus der durch obszöne Happenings (Ausstellung von Monatsbinden, Verzehren von Erbrochenem) berüchtigten Aktionskunstgruppe COUM-Transmissions , mit ihrer LP 20 Jazz Funk Greats von sich reden gemacht, die auf dem Label „Industrial Records“ erschienen war und „noisige“ Klangcollagen mit zum Teil rhythmischer Struktur präsentierte. Auf dem Cover ist eine Gruppe junger Leute (die vier Musiker) zu sehen, auf einer idyllischen Wiese lachend um eine nackte Frauenleiche versammelt. Versatzstücke der Popmusik wurden dabei mit einem trügerischen „Heile Welt“-Gestus kombiniert: „Wir sind nicht an der Musik als solcher interessiert, wir interessieren uns für Informationen. Die Macht über diese Welt liegt im Grunde in den Händen derjenigen, die Zugang zur größtmöglichen Information haben und diese Information kontrollieren. All die Paranoia, die durch Politik ausgelöst wird, resultiert fast ausschließlich aus der Frage, was denn nun wirklich abläuft, was geheim bleibt, worüber man uns nichts sagt...”, sagt Gründungsmitglied Genesis P-Orridge.

Der Name des Labels Industrial Records entstammt einem Ausspruch des amerikanischen S/M-Performers Monte Cazazza: „There’s an irony in the word 'industrial‘, because there’s the music industry. And then there’s the joke we often used to make in interviews about churning out records like motorcars – that sense of industrial. And...up till then the music had been kind of based on the blues and slavery, and we thought it was time to update it to at least Victorian times – you know, the Industrial Revolution. [...] And then Monte Cazazza was the person who suggested the slogan 'Industrial Music for Industrial People‘.“

Verbreiten konnte sich diese Musikrichtung – Stil läßt sich angesichts der gestalterischen Willkür kaum sagen – vornehmlich auf in Hochindustrieländern gegründeten Labels wie „Industrial Rec.“, „Susan Lawly“, „Mute“ (GB), „Tesco“, „Steinklang“, „Loki“ (BRD) und selbstverständlich auch in den USA und Japan sowie mit Einschränkungen in Italien und Spanien, später durch „Cold Meat Industries“ auch in Schweden. Gemeinsam ist allen Projekten aus dem Bereich der Industrial Culture der späten 70er und frühen 80er Jahre die Beschäftigung mit einer stets präsenten, alles dominierenden Zerstörung, begriffen als Quintessenz industriell-kultureller Errungenschaften: Zerstörung wird gleichgesetzt mit „Kultur“. Jon Savage nennt im bereits erwähnten „Industrial Culture Handbook“ insgesamt fünf kreative Strategien, die die frühe Industrial Culture der 80er Jahre kennzeichnet: 1) organisatorische Autonomie außerhalb der Medienindustrie; 2) Forderung nach einem umfassendenden Zugang zu Information in Erwiderung der ständig präsenten Kontrollinstanzen; 3) der Einsatz von syntheischer und „Anti“-Musik; 4) die Miteinbeziehung außermusikalischer Elemente wie Film und Video; und außerdem 5) Schocktaktiken, um das Publikum wachzurütteln. Das Label-Emblem von „Industrial Rec.“ zeigt bei näherer Betrachtung den Brennofen des Konzentrationslagers Auschwitz, und bis in die Gegenwart liefert die 'Todesindustrie‘ des Dritten Reiches ein bevorzugtes Bildreservoir für die visuellen Attacken der Industrial-Performer. Auch Bands, die sich „Whitehouse“, „Rasthof Dachau“, „Thee Grey Wolves“, „Streicher“ oder „Genocide Organ“ nennen, provozieren durch die Bezugnahme auf verschiedene totalitäre Destruktionssysteme. Mehr als in anderen musikalischen Strömungen spielt in der Industrial-Szene die Visualisation immer gleicher Motive eine bedeutende Rolle: Leichenberge, Leichensektionen, Tierversuche, Exekutionen, Sodomie, Pädophilie, Bondage, Sadomasochismus, schließlich auch der „Riefenstahlismus“ etwa in der Selbstdarstellung der slowenischen Band Laibach in den achtziger Jahren.

Wolfgang Sterneck schreibt in Ikonen: „Der innerhalb der Industrial Culture angestrebte Prozess der Überwindung von verinnerlichten repressiven Strukturen als Teil eines 'Krieges um Information‘, der letztlich die Frage nach der Kontrolle von Bewusstsein und Bedürfnissen einschließt, läßt sich dabei in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase ist bestimmt von Elementen der Konfrontation, wobei entsprechende Texte, Sounds, Motive und Filme gezielt provozierend und schockierend eingesetzt werden. Sie erhalten dadurch den Charakter einer unterdrückten Information, die nun zugänglich gemacht wird. Dabei steht jedoch nicht nur die Verbreitung des Inhalts dieser Information im Vordergrund, sondern insbesondere der weitgehend abgestumpfte Mechanismus der Wahrnehmung. Diese Abstumpfung soll über eine direkte, besonders extreme Konfrontation mit der verdrängten Wirklichkeit in all ihren grausamen, ekelerregenden und unmenschlichen, aber gleichermaßen alltäglichen Auswüchsen emotional aufgebrochen werden. Dieser Aufbruch von Mustern des Denkens und Fühlens markiert die zweite Phase. Das Aufzeigen von zuvor nicht wahrgenommenen Aspekten der Realität führt dabei zu einer Dekodierung des gesellschaftlich vorgegebenen manipulierten Bildes der Wirklichkeit. Darin wiederum wurzelt eine befreiende Veränderung des Bewusstseins als dritte und abschließende Phase dieses Prozesses als Grundlage einer weiterführenden individuellen Entwicklung bzw. als eine Voraussetzung gesellschaftlicher Veränderung.“ Industrial Culture ist also eine performativ-aktionistisch ausgerichtete künstlerische Ausdrucksform, weniger ein musikalisches Genre, als welches sie oft betrachtet wird. Industrial ist der künstlerische Gewaltakt auf audiovisueller Ebene, ein Overkill destruktiver Bilder, Symbole und Zeichen.

Der Einfluß der Industrial Culture der frühen 1980er Jahre machte sich international vielseitig bemerkbar. In allen Schlüssel- und Verbreitungsgebieten der Industrial Culture (also England, Deutschland, USA, Japan, Italien, Spanien etc.) widmeten sich Filmemacher der Visualisation der Musik oder schufen audiovisuelle Äquivalente zu den schwer konsumierbaren, monotonen Rythmusstrukturen. So inspirierte die Musik von Throbbing Gristle den britischen Avantgardisten Derek Jarman zu dem Super 8-Film IN THE SHADOW OF THE SUN (GB 1980), der – unter Verzicht auf Charaktere, Handlung und anderer narrativer Elemente – eine imaginäre „Landschaft“ inszenierte: „Ich benutze die Kamera wie ein Maler, um zu sehen, wie weit ich mit Super 8 vordringen kann.“ In TG PSYCHIC RALLY IN HEAVEN (GB 1981) filmte Jarman einen Live-Auftritt von Throbbing Gristle, ohne die für das Genre typischen, der Selbstdarstellung dienenden Großaufnahmen der „Stars“, ließ die Musiker in den Hintergrund treten zu Gunsten einer visuellen Entsprechung der ständig mutierenden, nahezu atonalen Geräuschcollagen Throbbing Gristles. Auch später hielt Jarman Verbindung mit den Gründungsmitgliedern der Band. Mit Peter Christophersons Projekt COIL filmte er den meditativen, „ambienten“ Spielfilm THE ANGELIC CONVERSATION (GB 1985), der nur vordergründig eine homosexuelle Liebesgeschichte erzählt: Im Mittelpunkt stehen Stimmungen, visuelle und akustische Strukturen, die teils Assoziationsflächen und teils Entspannungsmomente bieten, und auch die rezitierten Shakespeare-Sonette können vom Zuschauer und -hörer assoziativ verwendet werden, ohne zwangsläufig mit dem Gezeigten verknüpft werden zu müssen. Die wesentlichen Elemente der Industrial-Musik bleiben auch in diesem Avantgardefilm noch spürbar: Improvisation, Collagen kaum zuzuordnender Geräusche, Verfremdung alltäglicher Objekte, Beliebigkeit des Gegenständlichen, Vieldeutigkeit und Fragmentierung durch schwer zuzuordnende Nahaufnahmen des Körpers.

Auch in Japan etablierte sich früh eine Industrial-Subkultur, wenn auch hier der Schwerpunkt auf extremen Geräuschkünstlern lag wie Merzbow, Gerogerigege, Masonna und Grim. In diesen massiven Lärmexzessen trat eine weltanschauliche Dimension in den Hintergrund. Die Musik diente immer noch als künstlerische Reflexion einer umfassenden Industriegesellschaft, auch der körperliche Performance-Aspekte wurde gepflegt (oft im Kontext erotischer Fesselungskunst), der „unbedingte Zugang zu Information“ jedoch wurde hier ignoriert. So war es dann auch die deutsche Gruppe Genocide Organ, die das japanische Publikum jüngst mit Bildern der Atombombenopfer und der japanischen Kriegsverbrechen an der chinesischen Bevölkerung konfrontierte. Ein kritischer Umgang mit diesen Phänomenen findet in Japan selbst offenbar weder in der Gesellschaft allgemein noch im künstlerischen Untergrund statt.

Einer der ersten Filmemacher, die sich von der Lärmmusik inspirieren ließen, war Toshihiro bzw. 'Sogo‘ Ishii: Er drehte 1985 wiederum für eine deutsche Musikformation, die Einstürzenden Neubauten, eine Filmversion ihres legenbären Albums „1/2 Mensch“. Ishiis Wurzeln liegen eher in einem anarchistischen Punk-Gestus, den er bereits als zwanzigjähriger Filmemacher in dem 8mm-Film PANIC HIGH SCHOOL kultivierte. Zu Beginn der achtziger Jahre drehte er Videoclips für japanische Punkbands, bis er 1984 mit seiner Chaoskomdöie DIE FAMILIE MIT UMGEKEHRTEM DÜSENANTRIEB international bekannt wurde. Das Neubauten-Projekt im folgenden Jahr war in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt: Wieder wandte er sich der experimentellen Form zu, baute dabei jedoch traditionelle japanische Motive ein: So schafft er in den performativen Höhepunkten des kurzen Films, etwa zu dem Lied „Z.N.S.“, eine Fusion industrialtypischer Metallmüll-Ästhetik und klassichem Butoh-Tanz. Auch tritt die Materialität der kakophonischen Musik in den Vordergrund der Inszenierung: Lange beobachten wir, wie F.M. Einheit sich Schrottteile aussucht, um sie später als Rhythmusinstrumente zu verfremden.

Auch in seinen späteren narrativen Psychothrillern ANGEL DUST (1995) und LABYRINTH DER TRÄUME (1997) bleibt die Manipulation der Tonspur mit all ihren maschinellen Elementen stilprägend. ANGEL DUST, ein esoterischer Mysterythriller, bezieht seine Spannung aus den Gegensätzen von urbanen und ländlichen Klangkulissen. Erst mit dem Industrial-Metal-Märchen ELECTRIC DRAGON 80.000 V (2001) kehrte Ishii dann explizit zur Industrialästhetik zurück: Er drehte in Schwarzweiss, mit körnigem, kontrastreichem Material, unterlegt fast alle Sequenzen mit dem Lärm der elektischen Gitarren, mit denen sich zwei rivalisierende Musiker buchstäblich duellieren. Auf den Dächern von Tokio liefern sie sich einen Endkampf von apokalyptischer Dimension, den man sonst aus japanischen Manga-Serien kennt – oder allenfalls aus deren filmischer Variante, dem Anime.

Das Erbe des noch heute avancierten Filmemachers Ishii trat zu Beginn der neunziger Jahre der etwas jüngere Regisseur und Theaterautor Shin’ya Tsukamoto an. Der Filmpublizist Mark Shilling beschreibt Tsukamoto in seinem Buch „Contemporary Japanese Film“ (1999) als den „geborenen Filmemacher, der schon mit neunzehn Jahren, wenn andere Filmstudenten noch die Unibänke drücken, sein Werk bei einem NTV-gsponserten Filmfestival vorführen durfte.“ Seinen ersten Versuch filmischer Verwirklichung unternahm er mit dem erst 1995 aufgeführten Kurzfilm (50 Minuten) DENCHU KOZO NO BOKEN / ADVENTURES OF ELECTRONIC ROD BOY / THE PHANTOM OF REGULAR SIZE (1988). Diese dramatische Groteske über einen Jungen (Nariaki Senba), dem ein elektrischer Arm aus dem Rücken wächst, nimmt wesentliche Momente des folgenden Films, der Industrial-Phantasie TETSUO, vorweg. Der Film porträtiert den Jungen als eine tragische Figur, einen Einzelgänger, Opfer des allgemeinen Spotts. Eines Tages schlüpft er durch einen Zeitschleife in die von einem tyrannischen Vampir (Tomoroh Taguchi) beherrschte Parallelwelt. In einem idealistischen Kampf gelingt es ihm mit Hilfe seiner besonderen Begabung, die Versuche dieses Vampirs, das Sonnenlicht mittels einer Bombe zu eliminieren, zu vereiteln. Einige der in späteren Filmen auftauchenden Elemente sind hier bereits vorhanden, etwa das Zwischenspiel mit einen Bohrer-Penis, oder die Tatsache, daß sich beide Antagonisten später in überlebensgroße Metallgiganten verwandeln. Was hier noch wie ein Spiel, eine manierierte wenn auch unterhaltsame jugendliche Fingerübung anmutet, wird bereits im Jahr darauf zu einem ikonischen Klassiker der Cyberpunk-Science-Fiction.

Tsukamoto machte sich endgültig an die Arbeit, seine bei Sogo Ishii und Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ erlernten Lektionen für den Spielfilm zu adaptieren. TETSUO – THE IRON MAN (1989) und TETSUO II - BODY HAMMER (1991) nannte er seine beiden rasanten Science-Fiction-Filme, die ihm weltweite Aufmerksamkeit bescherten und als konsequenteste Umsetzung der Industrial-Ästehtik in das Medium Film gelten können. Dabei erzählen beide Filme eine nur in den Ausmaßen der Darstellung variierte, sehr ähnliche Geschichte. Im ersten Teil entdeckt der durchschnittliche Bürokaufmann Tetsuo (Tomoroh Taguchi) einen kleinen Metallspan, der aus seiner Wange zu wachsen scheint. Tatsächlich – so stellt sich bei näherer Betrachtung heraus – befindet sich sein Körper schon in einem weiteren Stadium der Transformation, der Umwandlung in einen Metall-Maschinenkörper. Diese Mutationen scheinen sich auch auf andere Menschen zu übertragen, etwa in einer bizarren Sequenz, in der sich Tetsuos Penis in einen rotierenden Keilbohrer verwandelt, mit dem er dann seine Freundin attackiert. In einer kollabierten Industrial-Welt verschmelzen dort Menschen, gleich David Cronenbergs und H. R. Gigers Biomechanoiden, mit metallenen Maschinen, vornehmlich mit Waffen, um sich schließlich – so will es vor allem der zweite Teil – Endkämpfe von archaischer Wucht zu liefern. BODY HAMMER entwickelt im Gegensatz zu IRON MAN, in dem nur wenige Sätze gesprochen werden, eine rachemotivierte Geschichte, die den Film stellenweise einem gängigen Fantasy-Manga annähert. Dort muß der Geschäftsmann Tetsuo (wiederum Tomoroh Taguchi) mit ansehen, wie eine Band Skinheads seinen kleinen Sohn entführen und grausam verbrennen. Hier wird nun eine Schußwunde zum Ausgangspunkt für Tetsuos Verwandlung in ein lebendes Waffenarsenal, mit Hilfe dessen er sich den ebenfalls mutierten Skinheads entgegenstellt. Erstmals führt Tsukamoto hier das Motiv der ungleichen, rivalisierenden Brüder ein, die er gegen Ende des Films in einem äußerst blutigen Falshback, in dem der aggressivere Mutant die Eltern beim S&M-Spiel in Fetzen schießt, vorstellt und motiviert. Angesichts des audiovisuellen Overkills muten solche narrativen Tendenzen jedoch eher wie eine Entschuldigung an.

Die Bildsprache paßt in beiden Filmen Tsukamoto dem monoton-hämmernden Stahlschlagrhythmus der Tonspur konsequent an: Suggestiv und rasend schnell sind Bilder aus schneidendem Schwarzweiß aneinandergereiht, die schon in ihrer stroboskopartigen Kontrastmontage eine Verbindung von Fleisch und Metall/Maschine andeuten – William Friedkins immer wieder eingesetzte, nur Bruchteile von Sekunden lange Subliminalbilder (z.B. in THE EXORCIST) erscheinen zahm dagegen. Der Schnitt schafft die rythmisierte Verknüpfung, die dem Zuschauer die reizlastige Bilderflut ungefiltert ins Gehirn hämmert – zur Verdeutlichung einer „Quintessenz“ der Megalopolis Tokio. Tsukamoto kreierte so die denkbar eindringlichste filmische Umsetzung einer zeitgemäßen Industrial-Äthetik: Fleisch und Metall verschmelzen in eindeutig sexueller Konnotation letztendlich zu einer biomechanischen Waffe. In einer eindrucksvollen Sequenz wird der Protagonist des ersten Teils von einem medusenhaft wuchernden biomechanoiden Mädchen qualvoll penetriert, was seine Transformation besiegelt. Tsukamoto schließt hier deutlich an Tendenzen an, die bereits mit Aufkommen der historischen Epoche der Industrialisierung aktuell wurden: Die Auffassung vom Körper als mechanisches Objekt, die einen eventuellen Austausch von organischem Wesen und maschineller Kreatur möglich macht. Die Fetischisierung bzw. Sexualisierung mechanischer, vornehmlich metallischer Objekte erinnert an Marshall McLuhans Ideen aus „The Mechanical Bride“ (1954) oder etwa James G. Ballards Roman „Crash“ (1971). Der industrialisierte Mensch – und mit ihm Tsukamoto – ist auf der Suche nach neuen Mythen fündig geworden im industriellen Alltag, dessen wuchernden, rhythmischen und letztlich sinnlichen Elementen sich nur zu leicht mythische Strukturen überstülpen lassen.

Drei Jahre später folgte das Boxerdrama TOKYO FIST (1995), in dem der Regisseur selbst zusammen mit seinem Bruder Khoji Tsukamoto ein brutal rivalisierendes Freundespaar spielt und so zu einer TETSUO ebenbürtigen originären Form findet. Während die beiden früheren Filme den Körperhorror auf der surrealen Ebene durchspielten, wendet er sich hier einem realen Ambiente und aktuellen Phänomenen der neunziger Jahre zu: Der Versicherungsvertreter Tsuda (Tsukamoto) begegnet unfreiwillig seinem früheren Schulkameraden Takuji (Khoji Tsukamoto) wieder, als dieser sich Tsudas Lebensgefährtin Hizuru in eindeutiger Absicht nähert. Die junge Frau geht auf Takujis Werben ein, zieht in seine Wohnung und beginnt, ihr neues Lebensgefühl parallel zu der gewalttätigen Rivalität der Männer in exzessivem Bodypiercing auszuleben. Tsuda beginnt, selbst Boxen zu lernen und löst damit einen Schwur ein, der die Männer seit ihrer Schulzeit verbindet; doch ein finale Begegnung der Haßfreunde im Ring findet schließlich nicht statt. Während sich Takuji eine blutige Schlacht mit einem weiteren Wunschgegner liefert, verarbeiten Tsuda und Hizuru die Beziehungskrise auf ihre eigene Weise: Sie fügen sich gegenseitig schwere Verletzungen zu. Tsudas kurzes, verbissenes Aufbegehren durch das Boxen endet letztlich in Verwirrung. Nahm er zu Beginn die Großstadt noch als innerlich kranke, verwesende Hochglanzmaske wahr, scheint er am Ende gänzlich blind geworden zu sein: Mit seinem trüben, toten Auge steht er bewegungslos starrend auf einer einsamen Stahlbrücke.

Tsukamoto gelingt es, die in TETSUO entwickelten Stilmittel nahtlos und konsequent in ein der Grundstruktur nach klassisches Dreiecks-Melodram zu integrieren: Pulsierende metallische Rhythmen, ruhelose Handkamera und Stakkato-Schnitt lassen den Film selbst zur Großstadterfahrung werden. Er zeigt Charaktere im alltäglichen Leerlauf, auf dem Weg zur Arbeit, in U-Bahnen und vor dem Fernseher, die den Bezug zum komplexen Geflecht ihrer emotionalen Bedürfnisse längst verloren haben.

Einen kurzfristigen Ausweg aus diesem urbanen Alptraum bieten allenfalls die Körpertechniken der Modern Primitives: Piercing, Scarification, Tätowierungen und Sadomasochismus sowie der blutige Kampfsport. Die spezifische Verbindung von Sexualität, physischem Schmerz und Gewalt, auf die letztlich alle Filme Tsukamotos rekurrieren und in der die Protagonisten neue, ungekannte Formen der sinnlichen Reinheit sucht, ist schwer zu fassen und noch problematischer zu definieren: Der Soziologe Wolfgang Sofsky z.B. unterscheidet in seinem „Traktat über die Gewalt“ zwei Formen von Gewalt, die nicht destruktiv auf den Mitmenschen ausgerichtet sind, sondern zur Erweiterung des eigenen Empfindens dienen: „Rituale der Initiation oder asketische Techniken der Selbstkasteiung sind kulturelle Praktiken des Schmerzes. Sie nutzen den Umschlag des auf Leibesinseln eingehegten Schmerzes in Wollust, in die Wonnen der Pein. Oder sie aktivieren Kräfte, die sich dem Schmerz erfolgreich zu widersetzen vermögen. Diese Techniken zielen jedoch weniger auf den Schmerz als auf dessen Überwältigung, auf die Restitution der personalen Einheit. Im Zugewinn an leiblicher Intensität und Handlungsmacht bestehen Lust und Triumph der Souveränität, nicht im Erleiden des Schmerzes.“ Auch TOKYO FIST deutet an, wie sich eine schmerzliche Initiation innerhalb der populären Kultur Wege bahnen kann, um sich der Entfremdung vom eigenen physischen Bewußtsein innerhalb der Industriegesellschaft entgegenzustellen. Und da Initiation immer die Konfrontation mit dem Un-Faßbaren bedeutet, wird der Film hier zum reflektierten Leidensmoment, einem Moment der Krise: einer künstlichen, provozierten Krise, wenn man so will. Tsukamoto bedient sich der kulturell naheliegenden Affektbilder und -situationen, die er komplex in sein eigenes ästhetisches Universum bettet – so bieten sich gerade die Bizarrerien des Modern Primitivsm sogar – im Gegensatz zur irrealen Welt von TETSUO – zur Simulation von „Authentizität“ an. Zärtlichkeit, Sexualität, Gewalt, Tod, Qual, Schöpfung, Irritation, Relativierung, Bestätigung, Alltäglichkeit und Mythos sind die Dreh- und Angelpunkte des initiatorischen Werkes TOKYO FIST, das sich mal einer Darstellung modern primitiver Körpertechniken bedient, oder im anderen Fall den Stil der Darstellung aus einer Reflektion dieser Techniken bezieht und somit das Industrial-Konzept weiter entwickelt. Zudem wird im Moment existenzieller Entäußerung – im Schmerz, in der Lust – jede Grenze hinfällig: Die Mauern der Geschlechtergrenzen fallen, egalisieren alle Partizipienten: Im Schmerz sind hier alle Menschen gleich.

Zusammenfassend lässt sich schließlich sagen, dass die Erneuerungsbewegung des japanischen Films der achtziger Jahre durchaus unter dem Einfluss der Industrial Culture stand und einige der musikalisch-performativ vorgedachten Elemente auf die Leinwand übertrug. Analog zur Entwicklung der japanischen Industrialmusik bliebt jedoch der zeitkritische Bezug eher diffus. Ishiis und Tsukamotos Filme diagnostizieren Entfremdung, Vereinsamung, Entindividuation und Paranoia, ohne diese Phänomene klar zu verorten oder gar zu analysieren. Bezüge zur japanischen Geschichte und Gesellschaft sind interpretierbar aber nicht evident. Von daher wird das eigentliche Ziel der Industrial Culture – die konstruktive Umformung des Industriemenschen durch bewußtseinserweiternde Schocktaktiken – ignoriert. Ishiis und Tsukamotos Filme bleiben hier auf einer Oberfläche, bieten keinen praktizierbaren Gegenentwurf. Selbst die Körperexzesse aus TOKYO FIST bleiben ohne positiven Effekt auf die Individuen. Noch gegenwärtig finden sich Industrial-Elemente im aktuellen japanischen Kino, sei es in Filmen von Takashi Miike, Mamoru Oshii oder eben Sogo Ishii und Tsukamoto selbst, doch Bruitismus, Schock und Bildgewitter muten hier zunehmend wie eine leicht verfügbare, spektakuläre Attraktion an.