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PD
Dr. Marcus Stiglegger (Universität Siegen)
Filmgenres
Keynote zur Gattungspoetik des Films
Ludwigsburg, November 2009
„Das Publikum erzwingt sich die Filme, die
es haben will.“
Rudolf Arnheim, „Film als Kunst“
1. Genresynkretismen
Genre gehört zu jenen Verständigungsbegriffen,
deren jeweiliges Verständnis am unmittelbarsten mit dem populären
Verständnis vom Film verbunden scheint. Doch dieses landläufige
Verständnis von einem vermeintlichen Kanon der Filmgenres macht die
wissenschaftliche Analyse dieses Phänomens umso problematischer.
Unter einem Filmgenre wird zunächst einmal eine Gruppe von Filmen
verstanden, die unter einem spezifischen Aspekt Gemeinsamkeiten aufweisen.
Diese Gemeinsamkeiten können in einer bestimmten Erzählform,
einer speziellen Grundstimmung, hinsichtlich des Handlungssujets oder
in historischen oder räumlichen Bezügen bestehen.
Zunächst spielte die Differenzierung von Filmgenres in der Frühphase
des Hollywood-Studiosystems eine Rolle: Man drehte Filme nach bestimmten
Schemata, mit bestimmten Stars und an den selben Drehorten. Dieses Vorgehen
befriedigte die wachsende Nachfrage des Stummfilmpublikums und optimierte
die Dreharbeiten in wirtschaftlicher Hinsicht. So entstanden die frühen
Genres aus logistischer Notwendigkeit, und zwar nicht nur in den USA,
sondern weltweit und insbesondere auch im Kino der Weimarer Zeit. Eine
kritische und theoretische Reflexion von Filmgenres setzte indes erst
spät ein. Erste Versuche unternahmen André Bazin in Frankreich
(1954) und Robert Warshow in den USA (1954). In Deutschland sprach Rudolf
Arnheim 1932 in „Film als Kunst“ noch abwertend vom „Konfektionskino“.
Lange galt der singuläre, genreunabhängige Autorenfilm als Königsdiziplin
des Filmschaffens. Erst die Autoren der Cahiers du cinéma entdeckten
den amerikanischen Genreauteur und bestätigen die Virtuosität
der sog. Professionals, die im besten Falle zum „Maverick Director“
wurden, der den Genrekontext nutzt, um seine persönliche Handschrift
und seine vision du monde umzusetzen. Erst die 1970er Jahre brachten eine
differenziertere Genretheorie, zunächst in den USA (siehe Barry Keith
Grants Film Genre Reader, 1977ff.), dann auch in Deutschland (Georg Seeßlens
Geschichte und Mythologie des Films, 1979ff.).
Wie Knut Hickethier in seiner Bestandsaufnahme „Genretheorie
und Genreanalyse“ feststellt, hat sich im Laufe der Zeit eine enorme
(dreistellige) Zahl von Genredifferenzierungen ergeben, die vor allem
im alltäglichen Gebrauch (z.B. in Fernsehzeitschriften) immer neu
konstruiert werden. Dieses Phänomen erklärt sich durch das Bedürfnis,
bereits in der Genrebezeichnung eine verbindliche Aussage über Stil
und Inhalt eines Films zu treffen. Dabei werden vor allem verschiedene
Genres miteinander verschmolzen und ein Genresynkretismus konstatiert.
So wird Alien (1979) etwa zum „Science-Fiction-Horror“
oder Sam Peckinpahs Convoy (1978) zu einem
„Trucker-Western“. Dabei fällt auf, dass diese neu kombinierten
Bezeichnungen auf durchaus unterschiedliche Bedeutungskontexte Bezug nehmen:
Science Fiction hat sich etabliert als Bezeichnung für
eine spekulative Darstellung zukünftiger Technik („Wissenschafts-Fiktion“),
der Film muss also aus sich seines Produktionsdatums in der Zukunft spielen
(auch wenn diese Handlungszeiträume von der Wirklichkeit bereits
eingeholt wurden, spricht man von SF). Horror dagegen bezeichnet einen
angestrebten Affekt: Der Film soll ein Gefühl des Grauens, von Angst
und Schrecken im Zuschauer evozieren. Dafür haben sich klassische
und moderne Settings etabliert, die – wie im Fall von Alien
– durchaus auch in der Zukunft oder im Weltall verortet sein können.
So kann man den besagten Film einerseits als Science-Fictions-Film betrachten
(Schauplatz: Raumschiff, Zeit: die Zukunft), wie auch als Horrorfilm (die
Protagonisten werden von einem übernatürlichen Monstrum gejagt
und dezimiert). Letztlich ist aber beides gleichberechtigt und essenziell
im Film angelegt, so dass man hier von einem intendierten Genresynkretismus
ausgehen kann.
Im Fall von Convoy, der
auf amerikanischen Highways spielt, dessen Protagonisten Menschen der
Straße (Trucker, Highway-Polizei) sind und sich ständig in
Bewegung befinden, müsste man zunächst von einem Road Movie
sprechen. Diese dritte Kategorie der Genrebezeichnung subsummiert Filme,
die einen bestimmten Schauplatz teilen: die Straße. Wichtig ist
dabei nur, dass nicht die gezielte Reise von A nach B im Zentrum steht,
sondern die Reisebewegung selbst das Ziel ist: eine eher ziellose Suche,
wie sie prototypisch in Easy Rider (1969)
dargestellt wurde. So teilen Road Movies nicht nur ihren Schauplatz, sondern
auch ein bestimmtes Gefühl des Unbehausten und der diffusen Suche.
So zählt auch Convoy zum Road Movie,
denn dessen Protagonisten sind Menschen der Straße, deren Leben
durch die ständige Bewegung definiert wird. Zugleich inszenierte
Western-Veteran Sam Peckinpah seine Protagonisten jedoch als Westerner,
die ihre Pferde gegen Lastwagen getauscht haben. Der neukreierte Genrebegriff
des Truckerwestern geht also über den eher allgemeinen des Road Movies
hinaus, indem hier zugleich die Protagonisten benannt und der Stil des
Films vorab interpretiert wird. „Trucker-Western“ lenkt die
Erwartung des Zuschauers bereits in die Richtung, hier nur einen modern
verkleideten klassischen Western zu sehen.
2. Metagenres
Die filmwissenschaftliche Genregeschichtsschreibung bemüht
sich in vielen Fällen zunächst um eine prototypische Darstellung
einzelner Meta-Genres – bereits im Bewusstsein, dass diese Idealtypen
darstellen und selten in dieser Form vorkommen – vor allem in der
späteren Filmgeschichte. Die Idee ist, konventionalisierte Formen
und Muster zu finden, die selbst in ihrer Neukombination erkennbar bleiben
und Traditionslinien kenntlich machen. Dabei haben sich folgende Metagenres
herauskristallisierte, die jedoch im einzelnen äußerst streitbar
bleiben:
Western: Er spielt im Nordamerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts
und thematisiert meist gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen
Farmern und Indianern bzw. Banditen und Gesetzeshütern. Besondere
Spielarten sind der Indianerwestern, der Kavalleriewestern, sowie der
Eurowestern, speziell der Italowestern. Als asiatisches Gegenstück
kann der kampfsportorientierte Eastern gelten. Die Hochphase des Western
war während des classical Hollywood zwischen 1930 und 1960.
Musical: Hier werden elementare Konflikte in Tanz und Gesang
ausgespielt und choreographiert. Dabei können andere Genreelemente
von Melodram über Western bis hin zum Gangsterfilm oder gar Horrorfilm
verarbeitet werden. Die Hochphase des Musicals liegt in der Frühzeit
des Tonfilms der 1930er Jahre.
Komödie: Komödien verbindet die Intention, den
Zuschauer zu belustigen. Dabei können unterschiedlichste Schauplätze
und Personenkonstellationen eine Rolle spielen, auch andere bekannte Genremuster
verarbeitet werden. Besondere Spielarten sind die frühe Slapstick-Komödie,
Parodien, Tragikomödien, Liebeskomödien und Teenie-Komödien.
Die Komödie erfreut sich von Beginn der Filmgeschichte bis heute
äußerster Beliebtheit.
Liebesfilm: Der Liebesfilm erzählt von einer großen
Liebe zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten, die über Irrwege
und gegen Widrigkeiten zustande kommt. Elemente des Liebesfilms kommen
auch in anderen Genres vor. Mit positiver Wendung und inszenatorischer
Leichtigkeit spricht man von der Romanze, wenn Tragik und Fatalismus dominieren
eher vom Melodram. Da es sich um ein sehr universales Motiv handelt, trifft
man auf den Liebesfilm international und in allen Dekaden.
Abenteuerfilm: Vom großen und spektakulären Erleben, von spannender
Aktion, aufregenden Reisen und monumentalen Konflikten erzählt der
Abenteuerfilm. Zum historischen Abenteuer zählen der Antikfilm, der
Mantel und Degen-Film, Piratenfilme, Ritterfilme und prähistorische
Erzählungen. Zeitgenössische Varianten sind Schatzsucher, Entdecker-
und exotische Actionfilme, aber auch Road Movies und Fantasyfilme. Während
die Hochphase des historischen Abenteuers im classical Hollywood liegt,
tritt der Abenteuerfilme heute meist gekreuzt mit Fantasy-Elementen auf.
Phantastischer Film: Filme mit übernatürlich
und phantastischen Elementen sind vielfältig und lassen sich in Science
Fiction, Horror und Fantasy unterteilen. Science Fiction behandeln positive
oder negative Gesellschaftsutopien, technische Zukunftsspekulationen und
epische Erzählungen vom intergalaktischen Konflikt. Berührungen
zum Abenteuer, Kriegs-, Western- und Horrorfilm sind häufig. Neben
der Hochphase in den 1950er Jahren (Invasionsfilme) ist der SF-Film seit
dem Erfolg der Star Wars-Filme (1976ff.)
ungebrochen. – Den Horrorfilm verbindet die Thematisierung der Urängste
des Zuschauers. Die Begegnung mit dem Unheimlichen kann mit Archetypen
wie Geistern, Monstern, künstlichen Menschen, Vampiren, Gestaltenwandlern
oder lebenden Toten arbeiten, aber auch menschliche Destruktivität
beschwören. Überschneidungen zum SF, Psychothriller- und Fantasyfilm
sind häufig. Die kulturelle Universalie der Angsterzählung verschafft
dem Horrorfilm konstante Popularität in vielen Kulturen und die gesamte
Filmgeschichte hindurch. Der klassische Horrorfilm entstand in den 1930er
Jahren, vom modernen spricht man seit 1968. – Der Fantasyfilm spiest
sich aus internationalen Märchen, Legenden und Mythen und behandelt
durchaus positiv staunend das Wunderbare. Während Märchenfilme
eine konstante Universalie der Filmgeschichte sind, gab es um 1980 einen
Boom heroischer Fantasy, der mit dem Erfolg der Lord
of the Rings-Trilogie jüngst wieder auflebte.
Kriminalfilm: Abgeleitet von crimen (Verbrechen) behandeln
Kriminalfilme Verbrehen und ihre Aufklärung. Dabei muss zwischen
der Perspektive des Ermittlers im Polizeifilm und Detektivfilm und der
des Täters im Gangsterfilm und Thriller unterschieden werden Speziell
im Psychothriller kann auch der Blick des Verbrechensopfers wichtig werden.
Die Kehrseite des Gangsterfilms ist mitunter der Gefängnisfilm. Weitere
Spielarten des Thrillers, der seinen Namen vom Mittel der Spannungsdramaturgie
erhielt, sind der Politthriller, der Erotikthriller und der Paranoiathriller.
Da die Kriminalerzählung im weitesten Sinne in allen narrativen Medien
eine Universalie ist, kann man auch hier von einer Konstanten die gesamte
Filmgeschichte hindurch ausgehen.
Kriegsfilm: Als Kriegsfilm bezeichnet man Filme, die Kriegshandlungen
seit dem frühen 20. Jahrhundert dramatisieren. Neben den entsprechenden
historischen Kriegen unterscheidet man die ideologische Ausrichtung Antikriegsfilm
bzw. Propagandafilm, sowie spezielle Perspektiven wie Söldnerfilm,
combat movies, Kriegsabenteuer, Gefangenenlagerfilme und Kasernenhoffilme.
Auch der Kriegsfilm taucht konstant in allen Kinematografien auf, denn
er hat oft historisch relevantes zu erzählen.
Erotischer Film: Die Darstellung und Erzeugung sexuellen
Begehrens im Zuschauer ist die Intention des erotischen Films. Dabei kann
er psychologisch komplex vorgehen und sich dem Melodram annähern,
oder explizit werden: Während der Sexfilm simulierten Sex zeigt,
stellt der Hardcore- oder Pornofilm reale Sexakte filmisch dar. Sexualität
ist seit Beginn des Mediums Film mehr oder weniger präsent, war jedoch
oft Phasen der Zensur unterworfen. Eine Hochphase des Sexfilms gab es
in den 1970er Jahren, während der pornographische Film den Heimmedienmarkt
seit den 1980er Jahren erobert.
Kinder- und Jugendfilm: An der Zielgruppe richtet sich
dieses eher schwer definierbare Genre aus, das sowohl Kindheit und Jugend
als Sujet wie auch kindliche Themen umfasst. Oft werden jugendorientierte
Animationsfilme hier ebenfalls hinzugerechnet, doch es hat sich als sinnvoller
erwiesen, den Animationsfilm als eigene Gattung des Films, und nicht als
Genre, zu behandeln.
Dazu kommen zahlreiche kleinere Phänomene, die Gruppierungen nach
spezifischen einzelnen Merkmalen ermöglichen: Road Movie, Katastrophenfilm,
aber auch stilistische Phänomene wie Film noir und Surrealismus werden
mitunter als Genres diskutiert.
3. Transformationen
Der filmische Genrebegriff ging also ursprünglich mit
den wirtschaftlich etablierten Produktionsformen einher und entsprach
so weitgehend den Genres der Populärliteratur des 19. Jahrhunderts.
Analog zum Begriff der Trivilalliteratur bezeichnete diese Kategoriebildung
damit die Muster des trivialen Unterhaltungskinos, die sich nach Arnheim
„das Publikum erzwingt“. Dabei durchlaufen alle Genres verschiedene
Phasen, neue Varianten entstehen, andere vergehen, ständige Transformationen
überprüfen die zeitgemäße Qualität der etablierten
Strukturen. Dieses Modell kann man als biologistische Perspektive bezeichnen,
die von einer Lebenslinie des Genres ausgeht. Um mit Hickethier zu sprechen:
„Entstehung – Stabilisierung – Erschöpfung –
Neubildung.“
Entstehung: Ein bestimmter Film bzw. eine Gruppe von Filmen erweist sich
beim Publikum als äußerst effektiv und wird im Folgenden immer
wieder kopiert, bis eine effektive Mischung von Sujet, Motiven und Archetypen
gefunden ist, die sich reproduzieren lässt.
Stabilisierung: Diese erfolgreiche Gruppe von Filmen bringt
immer neue Varianten heraus, die jedoch im Kern noch mit dem zugrundeliegenden
Schema übereinstimmen. Darunter sind oft Filmreihen, deren serieller
Charakter in dem kurzen Serialfolgen der frühen Tonfilmzeit seinen
Ursprung nahm und sich bis ins Fernsehprogramm fortsetzte. Speziell in
Deutschland findet man so Genremuster vor allem im Fernsehfilm und TV-Serien,
weniger jedoch in Spielfilmen.
Erschöpfung: An einem gewissen Punkt hat sich das
generische Muster für das Publikum abgenutzt. Produktionsfirmen suchen
nach neuen Varianten, bis mangelnder Publikumszuspruch zu einem Versiegen
dieser Bemühungen führt. Das Genre ist wirtschaftlich unattraktiv
geworden und liegt brach.
Neubildung: Durch einen oder mehrere überraschende Erfolge wird dem
versiegten Genre neue Aufmerksamkeit zuteil. Das kann an einer neuen Mischung
liegen (Genresynkretismen), an aktualisierten Stilmitteln (etwa eine naturalistischere
Inszenierung) oder an einem Retrophänomen im Sinne des Zeitgeistes.
Ein anschauliches Beispiel für dieses Modell liefert
der immer wieder neu belebte Western, der im Laufe seiner Neubildungen
eine erstaunliche Reife durchmachte. Die Kritik an diesem biologistischen
Genremodell entzündet sich an dem Umstand, das Genres sich meist
nicht nur in einem bestimmten kinematographischen Kontext entwickeln,
sondern auch länderübergreifend florieren und vergehen –
und das aus mitunter völlig unterschiedlichen Gründen. So formierte
sich der Italowestern erst wenige Jahre nach dem Ende des klassischen
Western und belebte seinerseits den US-Western durch seine neuen stilistischen
Impulse., wodurch eine Neuformation des Genres im New Hollywood möglich
wurde, die jedoch ebenso kurzlebig war wie der Erfolg der europäischen
Variante. Im Hollywoodkino ist zu beobachten, wie in regelmäßigen
Zyklen klassische Genremuster in aufwändigen Blockbustern recycled
werden, um deren Marktgängigkeit immer wieder auszutesten. So kehrte
der Western in den 1980er Jahren (Silverado,
Pale Rider), in den 1990er Jahren (Dances
With Wolves, Unforgiven) und nach der Jahrtausendwende (Wyatt
Earp). Nicht alle diese Bemühungen führten zum erhofften
Erfolg. Lediglich der klassische Piratenfilm feierte ein erstaunliches
Comeback im Gestalt der Pirates of the Caribbean-Reihe,
die jedoch streng genommen stargespicktes Fantasykino ist und keinerlei
Kenntnis der Genremuster voraussetzt.
In den USA, wo sich früh ein konventionalisiertes
Studiosystem etablierte, etablierten sich um 1930 - und somit die Einführung
des Tonfilms - einigen Primärgenres, die zum einen sozialen Entwicklungen
Rechnung trugen (Gangsterfilm), die Schauerphantastik ins Kino holten
(Universal-Horrorfilme) sowie den größt möglichen Nutzen
aus der Verwendung synchronen Tons zogen (Musicals, Revuefilme). Auch
Western und Komödien waren fest etabliert. In Deutschland dagegen
drehte man heimatorientierte Bergfilme statt Western und erschuf damit
ein eigenständiges Genre, das rückblickend zwischen Abenteuerfilm
und Heimatfilm anzusiedeln ist.
In jenen Jahren um 1930 unternahmen Filmjournalisten wie
Siegfried Kracauer oder Rudolf Arnheim bereits erste Versuche, diese konfektionalisierte
Filmproduktion zu reflektieren, und letztlich säten sie damit auch
einen lange gehegten Vorbehalt gegen das Genrekino: nämlich unoriginell
und trivial zu sein. Und ebenfalls lässt sich bereits früh feststellen,
dass eine deutliche Abgrenzung zwischen filmischen Gattungen und Filmgenres
besteht. Gattungen bezeichnen die filmische Form: Spielfilm, Dokumentarfilm,
Experimentalfilm, Kurzfilm, Kulturfilm, Lehrfilm, Animationsfilm, Propagandafilm
und Industriefilm. Diese Gattungen unterscheiden sich bereits grundlegend
in der Art des vorfilmischen Materials (real oder inszeniert), ihrer Intention
(Unterhaltung oder Information) und natürlich ihrer Laufzeit und
des Formates. Im Unterschied sind die Genredefinitionen erheblich inhaltlicher
motiviert. Andere Gruppierungsmerkmale von Filmen wie Stumm- oder Tonfilm,
Schwarzweiß- oder Farbfilm, 2D- oder 3D-Film bleiben technische
Spezifikationen jenseits von Genre oder Gattung.
4. Filmgenres in Deutschland
Einen großangelegten Versuch, Filmgenres in Deutschland
zu systematisieren, haben Georg Seeßlen und Bernhard Roloff in den
1970er Jahren begonnen. In einzelnen Themenbänden untersuchten sie
die „Geschichte und Mythologie“ der Genres, und in dazugehörigen
Enzyklopädien sollten jeweils Ergänzungsbände mit kommentierten
Biografien und Stichworten erscheinen. Als die Reihe vom Rowolth-Verlag
als Taschenbücher veröffentlicht wurde, etablierte sie sich
schnell als deutschsprachiger Standard. Später wurden die vorliegenden
Bände von Seeßlen und Fernand Jung aktualisiert, mitunter massiv
erweitert und im Marburger Schüren-Verlag erneut herausgegeben. Dabei
wuchsen vor allem die phantastischen Genres (Science Fiction und Horror)
zu umfangreichen Werken an, die auch kleinste Randphänomene berücksichtigten.
Speziell zum phantastischen Film sind zahlreiche Publikationen erschienen,
etwa Rolf Giesens launige Bestandsaufnahme des Genres „Der phantastische
Film“ (München 1983) oder Ronald M. Hahns und Volker Jansens
Horror und Science-Fiction-Film-Lexika, doch sind diese Bücher meist
von einer Cineasten-orientierten Pragmatik geprägt, die Theoriebildung
weitgehend ausschließt.
In den späten 1990er Jahren initiierte schließlich Thomas Koebner
an der Universität Mainz ein großangelegtes Genreprojekt für
den Reclam-Verlag, das in bislang immerhin 11 Bänden resultierte,
wobei streitbare Konzepte wie Film Noir einzeln gewürdigt werden,
während den Kriminalfilmgenres Gangsterfilm, Polizeifilm, Detektivfilm
und Thriller in nur einem Band zusammengepfercht werden.
Dennoch kann man von einem wachsenden Genrebewusstsein
in Deutschland sprechen. Obwohl Knut Hickethier immer wieder betont, das
die klassischen Genremuster sehr bald in Fernsehproduktionen aufgingen
und im Kino vor allem Hybride und Synkretismen vorherrschen, kann man
in den letzten Jahren einen Anstieg der genrebewussten Filmproduktion
erkennen. So etablierte sich neben der konstant präsenten deutschen
Komödie vor allem der Kriminalfilm und Thriller: Filme wie Anatomie
1 und 2, Antikörper, Tattoo
und aktuell Die Tür können neben
internationalen Produktionen überzeugen. Auch im österreichischen
Kino hat man hat man sich erlaubt, mit den hervorragenden Teenie-Slasher-Filmen
In drei Tagen bist Du tot 1 und 2 an die
internationale Erfolgswelle des harten Horrorfilms anzuknüpfen. Und
mit den Wolf Haas-Verfilmungen um Ermittler Brenner hat man den heimatlichen
Kriminalfilm neu erschlossen. Von positivem Effekt auf dieses Genrebewusstsein
ist vermutlich auch die momentan starke Präsenz internationaler Produktionen
in deutschen Studios (Quentin Tarantinos Inglorious
Basterds, die Bourne-Trilogie)
sowie die Aktivität deutscher Filmemacher wie Tom Tykwer auf diesem
Sektor (The International). Der Erfolg
dieser Filme hat gezeigt, dass vor allem beim großen Publikum das
Genrebewusstsein ungebrochen ist – und dass die klassischen Muster
im modernen Gewand noch immer funktionieren.
Literatur
Rick Altman: Film/Genre. London 2000
Rudolf Arnheim: Film als Kunst, München 1974
Liz-Anne Bawden (Hg.): Buchers Enzyklopädie des Films. München
1989
Jürgen Felix (Hg.): Moderne Filmtheorien, Mainz 2002
Barry Keith Grant (Hg.): Film Genre Reader III. Austin 2003
Knut Hickethier: Genretheorie und Genreanalyse. In: Jürgen Felix
(Hg.): Moderne Filmtheorien, Mainz 2002, S. S. 62-96
Thomas Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films. Ditzingen 2002
Stephen Neale: Genre, London 1980
Rainer Rother (Hg.): Sachlexikon Film. Reinbek bei Hamburg 1997
Jörg Schweinitz: "Genre" und lebendiges Genrebewusstsein
– in Montage AV 3, 1994, Heft 2
Andrew Tudor: Film-Theorien, Frankfurt 1977
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