Thomas Bleicher

Lyrik: Intermedial

 

Der eine Lyriker ist enttäuscht vom Film; sein „Kinematograph“ zeigt ihm nur „ein lautlos tobendes Familiendrama“ mit Eifersucht und dann eine „Älplerin auf mächtig steilem Wege“:

Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht –
Flirrt das hinein, entsetzlich! Nach der Reihe!
Die Bogenlampe zischt zum Schluss nach Licht –
Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie.

Der andere Lyriker ist begeistert vom Film; sein „Kinodirektor“ macht alle Menschen für einen Groschen glücklich, indem er ihnen „das einzige Paradies der Welt“ öffnet:

Ich schenke euch die Schöpfung Gottes: das Paradies, ohne Schlange und Apfel.
Fluch dem Skeptischen, der lächelnd an die Leinwand klopft
Und sagt: Das ist ein weißes Tuch!
Fluch diesem Lügner; denn das ist das Leben, das reellste Leben.

Die Enttäuschung Jakobs von Hoddis um 1911 und die Begeisterung Iwan Golls von 1917 sind jambisch-dithyrambische Extrem-Reaktionen auf das neue Medium. Dies zeigt zwar, dass auch Lyriker sich schon früh zu diesem aktuellen Thema geäußert haben, aber es gibt noch keine Hinweise auf die Möglichkeit intermedialer Relationen zwischen Lyrik und Film. Film und Literatur (hier also Drama mehr in französischer und Prosa eher in deutscher Tradition): das ist schon mehrfach praktiziert und analysiert – aber Lyrik und Film? Wirken sie beide nicht sogar wie typische Gegensätze? Wenn die so schwierig zu definierende Lyrik demnach gerade als nicht-filmisch definiert würde: Mit welchem Medium ließe sie sich dann in eine Beziehung setzen?


1.

Da würde man traditionell sicherlich zuerst die Musik nennen. Und so klagt nicht erst heute, sondern schon 1960 ein gewisser Hans Wolff-heim über die "Problematik der jungen deutschen Lyrik"; denn in ihr vermisst er eben gerade "das Gesanghaf-te, das allein durch einen rhythmischen Zauber sich bildet", und kriti-siert ihre "intellektuelle Abstraktion", die doch dem lyris-chen Gefühl widerspreche. Dahinter steht der (leicht erkennbare) Wunsch, zumin-dest in der Lyrik noch das zu retten, was sonst überall längst verloren ist ... Die Lyrik als ein ästhetischer Freiraum - im Niemandsland - oder (wie Jan Faktor spottet) "als Zeitfüller zwischen Körperpflege und Liegen in der Sonne"! Eine solche Lyrik ohne Bezug zur Realität, ohne Bindung an ihre Zeit: Das wäre Flucht aus der Gegenwart und keine Lyrik mehr. Denn Lyrik (und nicht nur sie) ist ja gerade der Versuch eines Dichters, seine Gegen-wart in Worte zu fassen, sich seine Situation sprachlich zu vergegenwärtigen. Und wir sitzen eben nicht mehr in einer Gartenlaube wie z.B. Jean Paul inmitten der Natur, die - als sie noch unzerstört war - zudem eher als feindlich, unwirtlich, unmenschlich empfunden worden ist (man lese nach bei Gryphius, der die "Einsambkeit" in der "mehr denn öden wüsten", dem "vngebawte(n) Land", beklagt) - wir sitzen in einer Industrielandschaft. Wir wandern nicht mehr auf staubiger Landstraße, sondern fahren im Alltag lange Autobahnstreken und fliegen im Urlaub in die Ferne. Wir blicken nicht mehr aus dem Dorffenster, sondern in den Fernseher, der uns die Welt zum Dorf macht - bildvoll und erlebnisleer.

Wenn wir die Position der modernen Lyrik beschreiben wollen - und die moderne Lyrik beginnt ja nicht erst heute, sie beginnt für die einen in der Romantik, für die anderen bei Poe und Baudelaire, die aber die romantische Dichtung und ihre Dichtungstheorie genau studiert haben -, dann stellen sich fast automatisch zuerst einmal 'negative Kategorien' ein, wie sie Hugo Friedrich schon 1956 formuliert hat; diese negativen Kategorien dürfen jedoch "nicht abwertend“, sondern müssen „definitorisch angewendet“ werden. Befragen wir einige Kriterien danach, ob sie sich nicht positivieren ließen!
(1) Der Intellekt - Valéry sagt: "Ein Gedicht soll ein Fest des Intellekts sein"; Breton entgegnet: "Ein Gedicht soll der Zusammenbruch des Intellekts sein". Der Intellekt, gefei-ert oder surrealistisch verworfen: Zerstört er wirklich die 'Sinnlichkeit' des Gedichtes? Gibt er ihr nicht ein neues Gewicht? Ein Gegengewicht? (2) Die Inkongruenz des Stils - Inkongruenz mit welchem Stil? Dem alten, dem übernommenen, dem verbrauch-ten Stil: Fordert diese Inkongruenz nicht zu einem neuen Stil heraus, zu einer neuen Sprache, die der neuen Wirklichkeit besser gerecht werden könnte? (3) Die Unbestimmtheitsfunktion - Wenn die alten Wahrheiten und Werte unsi-cher, fragwürdig geworden sind: Wie kann ich sie dann noch mit Bestimmtheit benennen? Führt das Unbestimmte uns nicht auf die Suche nach dem, was uns nun wichtig und bedeutsam werden könnte? (4) Vereinsamung und Angst - Sind diese negativen Reaktionen, in Sprache gebracht, wenn nicht schon gebannt, dann doch zumindest erkannt? Erste Anzeichen zu ihrer Überwin-dung?

Muss eine solche Lyrik nicht notwendigerweise unmusikalisch sein? Aber ist denn die traditionelle Lyrik immer musikalisch? Was soll das Musikalische an ihr sein? Der Reim? Also ist antike Lyrik nicht musikalisch, da sie metrisch gebunden ist? Sind die lyrischen 'Töne' des reimlosen 'Metrikers' Hölderlin auch musikalische Töne? Ist Rilke, der letzte große Reim-Dichter der deutschen Sprache, nicht 'musikalischer' in der Reimlosigkeit der "Duineser Elegien", seiner letzten Lyrik? Worin also liegt denn nun die sogenannte Musikalität der Lyrik? In der Lyra, der sie ihren Namen entnommen hat? Doch nicht allein! Mehr: Sprache als Klangkörper? Hören wir ein typisch romantisches Beispiel, ein musikalisches Gedicht:

Einsamkeit, du Geisterbronnen,
Mutter aller heil'gen Quellen,
Zauberspiegel innrer Sonnen,
Die berauschet überschwellen,
Seit ich durft' in deine Wonnen
Das betrübte Leben stellen,
Seit du ganz mich überronnen
Mit den dunklen Wunderwellen,
Hab' zu tönen ich begonnen,
Und nun klingen all die hellen
Sternenchöre meiner Seele,
Deren Takt ein Gott mir zähle,
Alle Sonnen meines Herzens,
Die Planeten meiner Lust,
Die Kometen meines Schmerzens,
Klingen hoch in meiner Brust.
In dem Monde meiner Wehmut,
Alles Glanzes unbewußt,
Kann ich singen und in Demut
Vor den Schätzen meines Innern,
Vor der Armut meines Lebens,
Vor der Allmacht meines Strebens
Dein, o Ew'ger, mich erinnern!
Alles andre ist vergebens.

Wenn das nicht musikalische Lyrik ist! Volltönende Synäs-thesie, musik-nahes Pathos mit superlativischen Assoziationen aus Mikro- und Makro-Kosmos: die Seele klingt, die Sphärenmusik schwillt an - sprachliche Harmonie 'lautet' - fast inhaltlos. Typisch Musik? Und wenn ich dann noch den Titel nachrei-che, scheint der Beweis endgültig erbracht: "Nachklänge Beet-hoven-scher Musik". Beethoven: das ist ja nun der Inbegriff von Musik - genauer: von klassisch-romantischer Musik, also sicherlich doch nicht generell jeglicher Musik, die außerhalb Europas sicherlich anders klingt und überall in der Welt sicherlich auch heute nicht so wie früher.

Aber ist denn Beethovens Musik 'reine' Musik? Das Musikstück op.91 trägt den Titel: "Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria". Ein Kritiker der Erstaufführungen (nach Meinung einiger Forscher sogar Brentano selbst) schreibt in der Jahreswende 1813/14: "Nur auf eine solche Art (kann) eine Schlacht in der Tonkunst wiedergegeben werden, denn die musi-kalische Malerei ist tref-fend und doch würdig". Ein militärisches Ereignis führt zu einem Musikstück, das ein Gedicht auslöst, dessen Anfang wir schon kennen - und das so endet:

Wer hat die Schlacht geschlagen,
Wer hat die Schlacht getönt,
Wer hat den Sichelwagen
Der über das Blutfeld dröhnt,
Harmonisch hinübergetragen,
Daß sich der Schmerz versöhnt?
Wen hat in heißen Tagen
Ein solcher Kranz gekrönt,
Wer darf so herrlich ragen,
Von Sieg und Kunst verschönt?
Wellington in Tones Welle
Woget und wallet die Schlacht,
Wie eines Vulkanes Helle,
Durch die heilige Sternennacht.
Er spannt dir das Roß aus dem Wagen,
Und zieht dich mit Wunderakkorden
Durch ewig tönende Pforten.
Triumph, auf Klängen getragen!
Wellington, Viktoria!
Beethoven, Gloria!

Ist das noch musikalische Poesie? War es der Anfang? Wenn wir hier auch eher skeptisch sind, so müssen wir doch zugeben: Lyrik hat schon traditionell Bezüge zur Musik - wie auch zu anderen Medien: so zur Malerei. Natürlich darf nun das Wort von Horaz nicht fehlen: "ut pictura poesis" - was allerdings nur meint, daß die Rezeption bei beiden Kunstarten gleiche bzw. ähnliche Reaktionen auslöst: Detailbe-trachtung oder Panoramablick, Tages- oder Nachtstimmung, augenblickliches Gefallen oder langwieriger Aneignungsprozess. Das kreative Missverständnis Lessings führt da schon weiter: die Differenz zwischen malerischer Raumkunst und poetischer Zeitkunst, was zumindest die jeweilige Dominanz skizziert. Die Differenz-Relation zeigt uns noch deutlicher ein typisches Rilke-Gedicht, sein Bild-Gedicht "Archaischer Torso Apollos" von 1908:

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

Ein befremdender Text! Wo finden wir denn den Torso im Text? Die Plastik wird gerade nicht beschrieben, wie wir es erwarten könnten. Lyrisch gefaßt wird eben das, was dem Torso fehlt: das Haupt und darin vor allem die Augen, der verhinderte Blick, den der Lyriker 'erschaut'. So wird das Haupt zum lyrischen Ausgangspunkt, von dem allein der Torso seine Bestimmung erhält. Die Lyrik ergänzt das Bruchstück - mehr noch als nur Ergänzung ist sie sogar die Vervollkommnung des sichtbaren Restes. Denn es sind die Augen, die den Rumpf zum Leben erwecken, die die museale Plastik zum imaginierten Menschen machen. Und es ist dann eben dieser imaginierte Mensch, dessen poetisch memorierte Augen nun ihrerseits den Betrachter zu einer 'augenblicklichen' Reaktion herausfordern: "Du mußt dein Leben ändern". Lyrik potenziert Kunst; die lyrisch potenzierte Kunst potenziert schließlich sogar die Lyrik selbst. Diese Lyrik hat ihren romantisch vorbestimmten Höhepunkt erreicht: Von ihm aus kann sie es wagen, dem Menschen den Lebensweg zu weisen.

An den zwei Gedichten von Brentano und Rilke wollte ich zumin-dest die klassischen Bezüge der traditionellen Lyrik zu den klassischen Medien Musik und Kunst exemplarisch andeuten. Unendlich viele Beispiele ließen sich anfügen; jedes Beispiel müsste gesondert analysiert werden. Und doch dürfte vielleicht schon jetzt erkennbar sein: Die unbestreitbare Tatsache, daß Lyrik seit alters her bis heute zu Musik und Kunst Bezüge herstellt und ausprobiert, sucht und verwirft, beweist ebenso unbestreitbar, daß Lyrik eben nicht - Musik oder Kunst ist. Lyrik ist Sprache: formal-materiell Tongebung, inhaltlich-semantisch Imagination, versprachlichte Ton-Bild- bzw. Bild-Ton-Synthese. Negativ formuliert: Die Bildlichkeit der Lyrik verhindert eine zu starke Annäherung an die Musik, ihre Tona-lität eine zu starke Annäherung an die Kunst.


2.

Neu ist nun die literarische Auseinandersetzung mit dem Medium, das das moderne Nach-Gutenberg-Zeitalter der Massenme-dien einleitet: mit dem Radio. Eine hochpoetische Ausformung findet diese Auseinandersetzung in den Hörspielen Günter Eichs. Was dieser Lyriker seinem medial noch unerfahrenen Publikum zumutet, ist 'sensationell': In seinen "Welten aus Sprache" wird die Wirklichkeit sprachlich aufgedeckt in einer so unerwarteten Weise, dass neue kulturelle Wahrnehmungs- und Erfahrungsformen gefordert sind. Sensationell bleiben diese Hörspiele auch noch bei einer heutigen Wiederbegegnung, wes-halb man umso mehr bedauern muß, daß diese literarische Potenz nur so kurzlebig gewirkt hat (und doch durch die "Audio Books" auch heute wieder wirken könnten).

Das auditive Medium, lyriknaher Ton-Träger, der Imagina-tionen auslöst, der Phantasie frei-setzt, weil es die Vorstel-lungen eben nicht durch nachgestellte Bild-Realitäten kopiert: dieses Medium ermöglicht eine neue literarische Form, in der alle literarischen Formen verwirklicht werden können. Bei Eich entsteht eine neue Form, in der die alten Formen zu einer dramatisch-essayistisch-lyrischen Einheit verschmolzen werden. Eindringlichstes Beispiel ist sein Hörspiel "Träume", das erstmals am 19.4.1951 im NWDR gesendet worden ist. Es gilt heute als "Geburtsstunde des deutschen Hörspiels"; denn die früheren Hörspiele waren eher Radiofassungen von Schauspielen, so z.B. Frischs "Nun singen sie wieder" und Borcherts "Draußen vor der Tür". Dass Eichs "Träume" tatsächlich eine "notwendige Herausforderung des Publikums durch das Hörspiel" darstellt, zeigt sich an der ersten Ablehnung in der Rundfunk-Jury und vor allem an den heftigen Zuhörerprotesten, die ein so scho-kierendes, Ängste herausforderndes 'negatives' Werk in der nach Trost und Hoffnung suchenden Phase des Wiederaufbaus ablehnten.

Was wird da so heftig abgelehnt? Der Inhalt? Die Form? Si-cherlich vorerst der Inhalt, der jedoch in ungewohnter Form angeboten wird: fünf Träume werden sachlich-informativ ange-kündigt, sodann in einer Szene vorgeführt, die Zwischentexte sowie Einleitung und Schluss sind - Gedichte. Die Gedichte sind aber durch den Kontext nicht mehr nur Gedichte, sie haben Manifest-Charakter, werden zu Parolen, die sich ins Gedächtnis gleich-sam einritzen. Und die Traum-Ankündigungen? Wissen-schaftlich-sarkastische Vorbemerkungen, die sich so überlegen-abgehoben geben, wie wir es von Politikern und Journalisten kennen: "Schlechte Träume kommen aus dem Magen, der entweder zu voll oder zu leer ist" - oder (da eine "gutmütige und harmlose Person" einen Horror-Traum hat): "Vermutlich werden die angenehmen Träume dieser Welt von den Schurken geträumt". Und die Szenen selbst? Dramatische Skizzen in Dialogform, aber weniger Handlung als vielmehr eine Stimmungswiedergabe, eine Impression, ein lyrisches Seismogramm der Zeit, rückblickend, zeitkritisch, prophetisch - Seismogramme über Verluste: über den Verlust der Individualität, da sie käuflich wird, über den Verlust der Sprache, da ihr Gedächtnis verkümmert, über den Verlust der Wirklichkeit, da sie sich in sinnlose Begriff-lichkeit auflöst, über den Verlust der eigenen Wohnung, der Heimat, die von anderen - den Fremden ebenso wie den Bekannten - besetzt wird, und über den Verlust des Lebens, das - von innen her von Termiten zerfressen - zu Staub zerfällt.

Die klassischen Gattungsformen der Literatur verändern sich zu einem literarischen Text, dessen lyrische Grundtönung eine betroffene, betroffen machende Haltung anstimmt - eine Haltung, die Veränderung anzeigt: Veränderung in der objekti-ven Welt draußen und in der subjektiven Welt drinnen. "Etwas hat sich verändert" - "Die Welt draußen" - "Hier bei uns". Das lyrische Hörspiel verbindet Außenwelt und Innenwelt, zeigt ihre Spiegelbildlichkeit. Denn so heißt es schon am lyrischen Anfang: "Alles, was geschieht, geht dich an". Mittendrin lautet das poetische Glaubenbekenntnis dann:

Denke daran, daß der Mensch des Menschen Feind ist
und daß er sinnt auf Vernichtung.
Denke daran immer, denke daran jetzt (...).
Denke daran, wenn eine Hand dich zärtlich berührt,
denke daran in der Umarmung deiner Frau,
denke daran beim Lachen deines Kindes!
Denke daran, daß nach den großen Zerstörungen
jedermann beweisen wird, daß er unschuldig war.
Denke daran:
Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini,
aber in deinem Herzen.
Denke daran, daß du schuld bist an allem Entsetzlichen,
das sich fern von dir abspielt -.

Und am lyrischen Ende steht die Schlußfolgerung:

Seid unbe-quem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt.


3.

Das Hörspiel eine leider nur kurzfristige Erscheinungs-form hochpoetischer neuer Literatur - der Film eine langlebige und immer stärker dominierende Kunstform der Literaturferne? Oder gibt es doch auch Mischformen wie filmische Lyrik und lyrischen Film? Bietet uns Ralf Schmerbergs Film „Poem“ eine filmische 'Verstärkung’ der Lyrik oder verkommt die Lyrik zu einem Werbe-Clip? Beim Berliner „Poetryfilm Award“ im Juli 2002 entdeckt Evelyn Finger zwar „viel geballten Mut, die Genregrenzen zur überschreiten“, aber sie sieht fast nur „Lyrikverfilmungen der vorgetäuscht rätselhaften und der direkt illustrierenden Art“. Dennoch ist „Poetryfilm“ möglich: „Man muss nur Kunstandacht vermeiden und die Macht der Gewohnheit wirklich überwinden wollen“. Dass dies keineswegs erst ein zukünftiges Programm ist, beweisen zwei ältere Beispiele, in denen ein Gedicht ein Film-Experiment auslöst und das filmische Sehen das lyri-sche Sagen beeinflusst.

Traditionell in der Form und modern im Inhalt gibt sich Rimbauds "Dormeur du Val" ("Der Schläfer im Tal" in der Nach-dichtung von Paul Zech):

Begrenzt von eines Wäldchens schwarzem Riegel,
duftet ein Kleefeld honigsüß und stark.
Des krummen Flusses kühler Zwillingsspiegel
spinnt Silberflitter in das zarte Knospenmark.

Barhäuptig und den Mund von Fieberqualen
zerklüftet, ruht er unverbunden noch im Kraut.
Blutschnecken kriechen aus Perlmutterschalen
und beizen Frost auf seine weiße Knabenhaut.

Sein Atem haucht gebrochener Laute Wort,
der Wind im Gras nimmts ihm vom Munde fort,
in ein verbangtes Mutterherz hineinzufalten.

Aus der zerschossenen Seite quillt es rot heraus,
wie wenn die Hände, die verkrampften, einen Strauß
taufrisch geschnittener Rosen halten.

Im ersten Quartett des Sonetts die schöne Natur, dagegen im zweiten Quartett die unschöne Wirklichkeit eines verletzten Menschen. Die Totale des ungestörten Naturbildes und die Großaufnahme des zerstörten Menschenbildes überschneiden sich in den zwei Terzetten: der letzte Ton 'vom Winde verweht', das letzte sichtbare Lebenszeichen - das hervorquellende Blut - wie ein Strauß blutrotfrischer Rosen. Ein Toter, erschossen - auf Oktober 1870 ist das Gedicht datiert - im preußisch-fran-zösischen Krieg, aus dem das erste deutsche Reich entstanden ist. Die Ästhetik des Grauens: die Barbarei des Krieges zerstört das (deutsch-)romantische Bild vom "Schläfer im Tal".

1975, mehr als 100 Jahre später, dreht Pascal Aubier "Le Dormeur", eine neun Minuten lange on- und off-stimmlose Trans-position des Rimbaud-Gedichtes in das Medium Film. Eine einzi-ge Kamera-Einstellung - im Gegensatz zur zwei-, drei- und vierteiligen Struktur des Sonetts - führt den Betrachter mit wechselndem Tempo vom Himmel zum Wald und dann ins Tal hinein, wo plötzlich ein Schlafender im Gras entdeckt wird; die auf Schienen bewegte Kamera verharrt in der Totalen auf dem Ge-sicht, schwenkt zu den Füßen und wieder zurück zum Gesicht - der Eindruck des Friedlichen verstärkt sich immer mehr, bis endlich der Oberkörper ins Bild fällt: die blutige Seite - der Schock, der die Idylle zerstört, das friedliche Leben beendet. Der Schlafende trifft des Schlafenden Bruder, den Tod; Vogel-gezwitscher und Grillengezirpe sind gewichen dem aufdringli-chen Summen einer Mücke, die den Toten umschwirrt.

Der Hauptunterschied zwischen Gedicht und Film: die Film-Version gipfelt in dem Schock des unerwarteten Bildes, die Lyrik-Version bietet uns dasselbe Thema rational-antithetisch und verweigert in der Synthese der Form die Synthese der gegensätzlichen Inhalte, zeigt also die moderne Absurdität: die 'incoincidentia oppositorum'. Hier - in der Lyrik - ist also der Verstand gefordert, dort - im Film - wird die sinnliche Erwartung zerstört.

Was durch die Vorführung des Films zu beweisen wäre: Es ist eine gelungene filmische Transposition des poetischen Textes. Denn erstens ist deutlich erkennbar der Rohstoff der lite-rarischen Vorlage - sowohl wiedererkennbar für den Auch-Leser als auch eigenständig nachvollziehbar für den Nur-Seher. Sie behält zweitens die Tendenz der literarischen Vorlage bei: Das Widersprüchliche fordert den (noch kunstimmanenten) Wider-spruch heraus. Drittens sind die poetischen Bilder weitgehend umge-setzt in optische Sequenzen; das Literarische erfährt somit seine Metamorphose in 'visuelle Sprache', in die narrative Prosa der Bilder. Viertens ist die Atmosphäre der literarischen Vorlage so eingefangen, daß trotz veränderter Mittel ein adäquater Ein-druck bei der Rezeption hervorgerufen wird. Und fünftens wird die (wenn auch nur illusorische) Realität des Mit-Erlebens suggeriert; das Literarische wird noch mehr dem Möglich-Wirk-lichen angenähert und erfüllt demnach parado-xer-weise besonders in der Film-Version das höchste Kriterium 'mimetischer' Litera-tur: die (aristotelische) Kategorie der Wahrscheinlichkeit - (hier) auf Kosten einer Episierung des Lyrischen.

Dass der Film von Anfang an für die meisten (bedeutenden) Literaten eine große Faszination ausgeübt hat, beweist schon 1913 das "Kinobuch" von Kurt Pinthus, es beweist Hanns Zischlers Buch "Kafka geht ins Kino" ebenso wie der von Handke - selbst Film-Autor und sogar Film-Regisseur - übersetzte "Kinogeher" von Walker Percy usw. Auch Thomas Mann sagt: "Immer ist es für den Dichter eine schmeichelhafte und rührende Erfahrung, ein Werk seines Geistes durch eine sinnen-unmittelbarere Kunst (...) aufgenommen, wiedergegeben, gefei-ert, verherrlicht zu sehen".

Und wie gehen die meist doch sinnenunmittelbareren Lyriker mit dieser sinnen-unmittelbareren Kunst des Films um? Fast selbstverständlich muten die Filminspirationen vieler amerika-nischer Lyriker an, und so lautet der Titel der von Rolf-Dieter Brinkmann 1969 herausgegebenen Anthologie neuer ameri-kanischer Lyrik fast folgerichtig "Silverscreen": Lyrik als silberne Film-Leinwand, als silberner TV-Schirm. Ebenso auf-fällig 'filmisch' ist die Lyrik-Theorie, die Brink-mann seiner literarischen Begegenung mit dieser (nur oberflächlich bezeichneten) 'Pop-Lyrik' entnimmt: antiintellektuell, antiabstrakt, antitheoretisch soll seine neue Lyrik sein - und mit positiven Kategorien: sinnlich, konkret, augen-fällig, bildhaft, bilderhaft, also eine Bilderfolge und dem-nach eine Montage aus vielen, meist unterschiedlichen Bildern. Oder mit den Worten Brinkmanns: "Der entscheidende Unterschied (...) ist, daß Bilder gegeben werden, andere Vorstellungen (images), die sinnliche Erfahrung als Blitz-lichtaufnahme; es passiert nicht die Zurückbiegung des Ge-dichts auf ein Sprach-problem oder auf unpersönliche Metaphern oder das bloße Allgemeine (der "Politik"), denn das Leben ist ein komplexer Bildzusammenhang. Es kommt darauf an, in welchen Bildern wir leben und mit welchen Bildern wir unsere eigenen Bilder koppeln".

Soweit seine lyrische Theorie - und seine lyrische Pra-xis? Ein klassisches Thema: "Selbstbildnis" - aber in moderner Umgebung: "im Supermarkt". Wo bleibt da die Lyrik?

In einer großen
Fensterscheibe des Super-
markts komme ich mir selbst
entgegen, wie ich bin.

Der Schlag, der trifft, ist
nicht der erwartete Schlag
aber der Schlag trifft mich

trotzdem. Und ich geh weiter
bis ich vor einer kahlen
Wand steh und nicht weiter
weiß.

Dort holt mich später dann
sicher jemand ab.

Der Alltag: der Einkauf im Supermarkt eine Routine - hypernormal, total un-lyrisch also. Und doch Lyrik, da gerade hier, in diesem Immer-Gleichen, in diesem fast bewußtlosen Funktionieren, in diesem Roboter-Zustand des Menschen, etwas geschieht, etwas bewußt wird: das Ich, der Mensch! Alles kann man finden und kaufen, auf alle Objekte ist man vorbereitet - nur nicht auf ein Objekt: auf das Subjekt, das sich selbst zum Objekt wird, auf die Konfrontation mit sich selbst. Irritation, Betroffenheit: der Schlag, unerwartet und doch wirksam, wenn auch noch der alte Automatismus funktioniert und er 'irgendwie' im Reflex weitergeht - bis, ja bis keine Fenster-scheibe mehr irgendetwas, irgendwen - und sei es ihn selbst - widerspiegelt. Es bleibt die kahle Wand, die spiegellose Wand am Ende des Weges, wo kein Weg mehr weiter führt.

Eine Horror-Szenerie: der Mensch ist nur eine Fiktion, die (klassische) Marionette in den Händen eines Marionetten-spiel-ers oder der (moderne) Androide aus der Werkstatt irgend-eines Franken-steins. Wen verwundert es da noch, wenn der Philosoph Thomas Metzinger sogar das Ich nur für eine evolutionsbedingte Erfin-dung des Menschen hält? Die Person Mensch hat keine Maske mehr; sie steht da, wartet - ein Objekt, das keinen eigenen Willen mehr hat, das von anderen - irgendjemandem - später/ir-gendwann vielleicht/sicher abgeholt, gekauft, gebraucht, genutzt, verwendet wird. Das Selbstbildnis in der Fensterscheibe - eine Blitzlichtauf-nahme: das photonahe Stand-bild geht über in einen Bewegungsab-lauf, bis die bewegte Kamera in einem langsamen Schwenk erneut stehenbleibt. Eine filmische Sequenz, die Bilder zu einem komplexen Bildzusammen-hang koppelt.


4.

Unlyrische Lyrik? Negative Lyrik? Sie zeigt auf - was kann sie mehr? Was soll sie mehr? Reagieren müssen wir - es sollte uns leichter fallen, wenn wir noch Ohren haben, Lyrik - solche Lyrik und andere - zu hören. Lyrik als Gegenpol, als Widerpart zu einer rein visuellen Wirklichkeit? Karl Kraus hat schon zu Beginn dieses Jahrhunderts angeschrieben gegen die "Welt der Plakate", gegen eine Zeit, "die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt". Und heute: in einer Zeit der nur virtuellen TV-, PC-, Internet-Wirklichkeiten? Wo bleibt da die 'reale' Realität? Der reale Mensch? Vielleicht im Widerstand der Lyrik?

Will diese Lyrik widerstehen, darf sie nicht vor dem fliehen, was ihr widersteht: vor der "kulturelle(n) Dominanz technischer Medien" (Michael Braun). Modernistische Anpassung ver-bietet sich hierbei ebenso wie die traditionalistische Abkehr. Die Überzeugung, "daß eine 'innovative' und 'zeitgemäße' Gedichtsprache die Zeichenwelt der modernen Medien und das Sprachengewirr unseres Alltags reflektieren muß", prägt insbesondere den Lyriker Dieter M.Gräf.

Versetzung des Hirschs in die Dose

Dann das Mikroskop, unter dem die Algen
verschwanden: Beginn eines rhythmischen
Drehens an Knöpfen, Kunst. Die des Weg
sehens: -schwimmen der Zahlen auf Schief
er, wird korrigiert. Die nun gefestigten
Finger: Sehenswürdigkeiten auf -schein,
Not-. Kommen durch Leerer von Welt: Ich
habe gesehen, daß der Herr kann gehen
über das Was-. Dafür die Spiegelreflex.
Geweiht. Wie die Versetzung des Hirschs
in die Dose. Wie das Drehen an Knöpfen,
die Bitt um Vernetzung. Auch die. Kunst
übertrag ich ein Wald und Wiesenprogramm.

Ein sehr verschlüsselter Text, aus dem nur einzelne Details aufblitzen - Details, die sich nicht zu einem Gesamtbild fügen. Wie 'klassisch' wirkt dagegen schon Brink-manns Text! Es finden sich allenfalls Bruchstücke, die zur Collage verwendet werden könnten, wenn wir denn überhaupt Lust haben, uns an ein Puzzle zu wagen, von dem wir schon im Voraus wissen, daß am Ende viele Leerstellen bleiben werden. Denn der Autor bietet uns "äußerst sperrige, widerborstige Gebilde, in denen disparate Bilder und Assoziationsketten hart aufeinanderprallen und verschiedene Stimmen wild durcheinanderreden; so entsteht ein "nervös flackernde(r) Text() in einer aggres-siven Schnitt- und Vexier-Technik, die der fragmentierten Wahrnehmung eines vom Fernsehen und anderen visuellen Zeichen-systemen sozialisierten Publikums" entspricht (Michael Braun). Gräfs Wort-Wirklichkeit-Spiel um Versetzung und Vernetzung ist (schon ohnmächtiges?) Gegenprogramm gegen eine Medienwelt, die alles durchdringt und Natur, Kunst und die gesamte Wirklichkeit verschwinden läßt. Eine Kurz-Interpretation von Michael Braun: "Wie die Natur ("die Algen") unter dem Mikroskop oder in der Konserve ("der Hirsch in der Dose") verschwindet, so zerrinnt auch die Wirklichkeit, je eaxakter wir sie mit Präzisionsinstrumenten durchforschen. Wo die authentische Naturforschung verlorenging, springt das technische Medium ein: "Dafür die Spiegelreflex". Für die Kunst bleibt nur noch das stereo-type Reproduzieren eines "Wald- und Wiesenprogramms" oder das "rhythmische Drehen an Knöpfen". Das digitale Zeitalter kennt nur noch eine Maxime: "Bitt um Vernetzung"."

5.

Die 'neue' Literatur exisiiert nicht mehr nur in den 'alten' literarischen Texten, sondern auch in den neuen und neuesten 'literarischen' Medien. Kurz: Es gibt nun nicht nur die 'lite-rarische' Litera-tur im alten Medium Buch, sondern auch andere Literaturen in anderen neuen Medien wie Hörfunk, Film, Fernsehen und Video. Die praktischen, didaktischen und wissenschaftlichen Konsequenzen des so erwei-terten Literaturbegriffs führen schließlich dazu, "ein neues Verhältnis zwischen den Literatu-ren in den verschiedenen Medien herzustellen" (Knut Hickethier).

Die Unterschiede und Interaktionen zwischen den alten und neuen Medien dieser 'neuen’ Literatur skizziert Franz-Josef Albersmeier: "Das elektronisch produzierte Bild synthetisiert mündliche und schriftliche Botschaften, Worte werden in Bilderfolgen umgesetzt, Bedeutungen als audiovisuell vermittelter Prozeß beschrieben, Grenzen zwischen 'Bild' und 'Text' aufgelöst, starre Bilder in bewegte (und umgekehrt) umgewandelt". Albersmeier folgert daraus, "daß die Beziehungen zwischen 'Kunst' und 'Technik'" sich anders entwickelt haben, als es der "Kulturwissenschaftler vormedialen Zuschnitts" (v.a. im deutschen Sprachraum, der den 'Geist' der Kultur von der 'Technik' der Zivilisation 'befreit') erwartet hat: "Nicht theoreti-sche Konzepte haben die Entwicklung der 'artes liberales' bestimmt, sondern die Erfindung und Ausbreitung technisch innovativer Apparaturen (Daguerreotypie, Grammophon, Kinematograph, Typewriter, Fernsehen, Video) - eine schmerzliche, gleichwohl unverzichtbare Einsicht", die aber nicht nur 'modische' Trotz-Reaktionen gegen den angeblichen technologischen Determinismus und das durch Agenda Setting und Gatekeeping gesteuerte Diktat der Massenmedien auslösen dürfte, sondern auch zu neuen (konkreten wie theoretischen) Literatur-Entwürfen herausfordern sollte.

Damit wäre endlich der notwen-dige Über-gang vom reaktionären Klagen über eine 'Technisierung' der Kunst zu einem kon-struk-tiven Interes-se an der 'Ästhetisierung' der Technik gelungen: keine postmoder-ne Nostalgie, sondern zeitgemäße Kreativität ist gefordert. Darüber hinaus eröffnet er auch neue Möglichkeiten des Literatur-Erfassens: Literatur nicht nur schreiben und lesen (oder - da dies derzeit ja nicht selbstverständlich ist - das Interesse am Schreiben und Lesen von Literatur erst bzw. wieder wecken), sondern auch Literatur (wieder) hören, sehen, gemein-sam erfah-ren, zur Lebenspraxis in Beziehung setzen, in neue ästhetische Formen umset-zen. Somit werden Rezeption und Produktion zu sich ergänzenden 'Energien', aus denen sich aktuelle Sinn- und Wert-Entwürfe gewinnen lassen: zur Bewältigung unserer sinn- und wert-problematischen Lebensrealität - und vielleicht auch zur Gestaltung einer sinnreicheren und wertvolleren Zukunft.

(1995/2003)