|
DIE GROSSEN GEFÜHLE DES EUROPÄISCHEN FILMS
Filme als Ausdruck Europäischer Leitkultur in
der Gegenwart
von Beate Pilz
2009 war das große Jahr des österreichisch-deutschsprachigen
Films: Michael Hanekes „Das weiße Band“ wird mit der
Goldenen Palme ausgezeichnet. Jessica Hausner erhält bei den Filmfestspielen
in Venedig für ihren Film „Lourdes“, eine deutsch französische
Co-Produktion, den Kritiker Preis. Der in Österreich aufgewachsene
Schauspieler Christoph Waltz erhält für seine Darstellung als
zynisch böser Nazi Held den Darsteller Preis. Hinzu kommen: der Europäische
Filmpreis für „Das weiße Band“ und last not least:
der Golden Globe, ein Preis der internationalen Kritik für Haneke
und Waltz. Die rechts-populistische österreichische U-Bahn Zeitung
Heute überschlägt sich in Massen hysterischem Überschwang:
„Ganz Hollywood ist von uns begeistert! Waltz: Wahnsinn! Jetzt lauert
der Oscar!“ Da liegt manchem die Frage nahe, wo lauert Oscar? In
den Schützengräben des Feindes, oder in den eigenen Reihen?
I. Schatten der Vergangenheit
Es drängt sich die Vermutung auf, dass Filme
über die nationalsozialistische Vergangenheit, in den USA gute Chancen
haben, als bester ausländischer Film ausgezeichnet zu werden. Wir
erinnern uns an den mit dem Auslands-Oscar ausgezeichneten österreichisch-deutschen
Film „Die Fälscher“ von Stefan Ruzowitzky, der, bevor
er mit dem Preis ausgezeichnet wurde, in den österreichischen Kinos
eher langweilte, nach der Preisvergabe jedoch lief. Der Preis ist heiß,
und unsere amerikanischen Freunde, unsere Befreier von damals, freuen
sich anscheinend, wenn Österreicher und Deutsche dem Thema widmen.
Im Land der Weltverbesserer, der Eingreifer und Demokratiespender ist
man, was andere betrifft, wohl der Auffassung, Einsicht sei der erste
Weg zur Besserung, auch wenn man sich diese Einsicht meistens nur von
anderen wünscht.
Was wir verstanden haben, brauchen wir nicht zu wiederholen. – Das
wäre schön, aber auch die Französische Revolution, ist
an ihren Aufklärungsidealen gescheitert. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
sind zum Fundament unserer Verfassungen geworden, aber das Fundament trägt
nicht, was es verspricht: weder verschont es uns vor den Weltkriegen,
noch sind wir bereit zu sehen, dass es uns zwar noch gut geht, aber Andere,
Ungleiche, ja ganze Kontinente in Not und Elend versinken. Welt-Online
berichtet aus Cannes: „’Das weiße Band’ auf dem
Siegeszug. [...] In jedem dunklen Winkel in dem Haneke mit von Christian
Berger großartig gefilmten Schwarz-Weiß Bildern stöbert,
verbirgt sich etwas, das nicht an die Öffentlichkeit soll: Die Handlung
spielt in einem norddeutschen Dorf im Jahre 1913/14, das von mysteriösen
Anschlägen verunsichert wird. Kinder zünden eine Scheune an,
der Herr Baron arbeitet auf dem Feld, der Pastor führt in seiner
Familie ein Schreckensregime. Sein Sohn wird bei dem Verdacht auf Selbstbefleckung
ans Bett gefesselt, die Tochter öffentlich bloßgestellt, bis
sie zusammenbricht. Der Arzt bedrängt seine Tochter sexuell und demütigt
seine Geliebte. Und dem Hausverwalter rutscht ebenso leicht die Hand aus
wie den Bauern.“ Nachrichten.at spricht von Starrheit, Regelwerk
und einem vordergründigen Spannungsaufbau, als Vertreter „schwarzer
Pädagogik“, der die Welt durch sein Schreckensszenario eines
Besseren belehren will, sei Haneke Moralist und in gewisser Hinsicht erstaunlich
konservativ. Am Ende des Films steht der Erste Weltkrieg und die Generation,
die hier heranwächst, wird im Zweiten Weltkrieg und im Dritten Reich
Führungspersönlichkeiten und Fußvolk stellen.
Als Hanekes Film auch noch für den Britischen Filmpreis vorgeschlagen
wird, erhält Haneke von der RTL-VIP-Nachrichtensendung (die eine
Kulturberichterstattung sein sollte aber als VIP-Schiene den Stand der
Kultur als VIP-Kultur und Eventmarathon festlegt) das täglich vergebene
Prädikat „TOP“, im Unterschied zu jenen, die floppen,
sei es aus Gründen von Alkoholsucht, modischen Details, Magersucht
oder Exzessen. Verglichen mit den anderen Auszeichnungen ist diese Auszeichnung
schlechthin lächerlich: Unter jenen, die sich über den Erfolg
des „Weißen Bandes“ besonders freuen, haben die meisten
den Film gar nicht gesehen. Vor allem junge Menschen, deren Geschichtsinteresse
zu wünschen übrig lässt und denen es mitunter egal ist,
welche Politiker gerade an der Macht sind, interessiert dieser Film kaum.
Er zeigt Vergangenheit, eine Zeit, deren Zeugen sie nie waren. Die Leitbilder
ihrer Zeit sind: Castingshows und Parties, Emmies und Grammies, die Laufstege
der Welt, Genuss und Übergenuss, Betäuben statt Wahrnehmen und
Erinnern, Supertalente, Tops und Flops. Auch die beliebten Internet-Plattformen
wie Facebook, Twitter und Myspace folgen dem Diktat der Wirtschaft: in
der Zukunft liegen der Fortschritt und der Profit der Telekommunikations-Branche,
die solche Plattformen anbieten. Die Projektion einer völlig erneuerten
Zukunft ist der Motor von Wirtschaft und Politik. Um mit Brecht zu sprechen:
„Also gehen aufrecht im Triumphe die Toren, aber wohin sie gehen,
wissen sie nicht!“.
Anlässlich seiner Oscar-Nominierung als bester
Darsteller drückt Waltz seine enorme Überraschung über
den Erfolg in den USA aus: Mit der Goldenen Palme in Cannes hätte
man ja gerechnet, da Haneke ein arrivierter Name in der Filmkunstszene
sei. Aber der Film hätte sonst keine Zutaten, mit denen man in Amerika
ein Erfolgssüppchen kochen könnte, er sei in altmodischen Schwarz-Weiß
gedreht, vermisse die Musik – das non-plus-ultra amerikanischer
Produktionen –, die Action Szenen und Explosionen. Hanekes Film
ist eine Hochkultur-Produktion, ein Rein-Kulturprodukt. Haneke ist also
ein Vertreter des künstlerischen europäischen Films, denn mehr
als nur um Wirkung geht es hier. Hinter dem Produkt steht ein europäischer
Regisseur, der an die subjektive Tradition des anfänglichen europäischen
Films anknüpft. Der subjektive Künstler ist der Garant für
die Wahrheit, sein Talent ist seine Perspektive – das zentrale Thema
seit der Renaissance –, sein subtiles Gespür für die Welt,
seine subjektiv sinnlichen Bilder sind sein Markenzeichen und machen ihn
zu dem, was er gerne sein möchte: einzigartig, persönlich, auf
geniale Weise über dem Publikum stehend, ein wahrer Repräsentant
der abendländischen Hochkultur, die, obwohl das Genie längst
zur Ware geworden, dem Bild vom genialen Künstler, der vom Rest der
Menschheit abgeschnitten in seiner subjektiven Sphäre residiert,
huldigt.
II. Wie es dazu kam
Wo aber ist die Unterscheidung zwischen europäisch-künstlerischem
Film und der kommerziellen Filmproduktion der USA deutlich festzumachen?
An der Thematik, an der Tendenz oder an der Filmsprache? Die kommerzielle
Filmsprache ist eine andere als die der europäischen Tradition, das
wissen wir. Aber dennoch sollte der Einfluss des anfänglichen europäischen
Films auf die sich kommerziell eskalierende amerikanische Filmindustrie
nicht unbemerkt bleiben. Haneke, Ruzowitzky – ohne sie miteinander
vergleichen zu wollen – sind nicht die ersten europäischen
Filmemacher, die es bis nach Hollywood geschafft haben. Die überschwappende
Emigrantenwelle zur Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus führten
namhafte Regisseure in das Mecca der Filmindustrie: Lang, Lubitsch, Pabst
und Dreyer waren unter ihnen, Regisseure, deren frühe Filme zur Grundlage
des europäischen Filmverständnisses beigetragen haben. Auch
Bertolt Brecht machte sich auf den Weg in eine USA, die ihn, wie auch
Fritz Lang, in der Mc Carthy-Ära auf die Liste der gefährlichen
Autoren setzte und vor ein Tribunal zerrte. G. W. Pabst war wie auch Lang
in den Anfängen des europäischen Kinos Stummfilmregisseur. Zu
seinen ersten großen Erfolgen zählen die Filme „Die freudlose
Gasse“ und „Geheimnisse einer Seele“, ein sogenannter
psychoanalytischer Lehrfilm aus dem Jahr 1926 – 2009 wurde letzterer
im Wiener Konzerthaus von elektronischer Live-Musik begleitet dargeboten.
1931 drehte Pabst, bereits in Amerika, nach kommerziell wenig erfolgreichen
Filmen die Dreigroschenoper, doch schon während der Dreharbeiten
reichten Weill und Brecht gegen „Warner Brothers“ aufgrund
der nicht genehmigten Bearbeitung des Original-Stoffes Klage ein: ein
Prozess, den sie verlieren. Horvath, wäre er nicht an jenem schicksalshaften
Tag, an dem ihn in Paris ein herabfallender Baum erschlug, aufgehalten
worden, war ebenfalls, um dort Drehbücher zu schreiben, auf dem Weg
in die USA, wohin einige andere Künstler aus Literatur, Wissenschaft
und Bildender Kunst bereits geflohen waren. Und Marlene Dietrich wurde,
obgleich Ikone, am Ende ihrer amerikanischen Karriere an der Front, wo
sie vor amerikanischen Soldaten sang und tanzte, um ihnen für den
Kampf Mut zu machen, von den Amerikanern als „deutsche Soldaten-Schlampe“
beschimpft. Fritz Lang etablierte sich in Europa künstlerisch mit
dem Science-Fiction Stummfilm „Metropolis“, der an den Kinokassen
floppte und die Produktionsfirma aufgrund der hohen Kosten beinahe in
den Ruin trieb. Bei der diesjährigen Berlinale erlebte der Film in
einer Riesenprojektion vor dem Brandenburger Tor nach 83 Jahren, mit bislang
unveröffentlichten Szenen angereichert, seine erste kommerzielle
Wiederaufführung.
Es lässt sich also feststellen, dass im gegenwärtigen
europäischen Filmschaffen die großen Regisseure der Anfangszeit
wieder volle unerwartete Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sozusagen ein
richtiges Revival erleben. Woher kommen diese Selbstbesinnungstendenzen
des europäischen Regie-Filmschaffens auf seine Wurzeln, in Abgrenzung
zum amerikanischen Filmschaffen? Eines steht fest: die Auseinandersetzung
mit dem Nationalsozialismus ist damals wie auch heute im Blickpunkt der
Kritik. Haneke ist zurzeit der letzte große Regisseur, der sich
mit dieser Epoche der Europäischen Filmkunst konfrontiert. Vor ihm
widmeten sich Bertolucci in seinem epochalen Werk „1900“ wie
auch Fellini in seinen Nachkriegsfilmen der Frage: wie konnte das geschehen,
wie kam es dazu? Wenn wir uns heute, 2010, erneut mit dieser Fragestellung
beschäftigen, müssen wir uns da, im Zuge des immer stärker
werden Rechtstrends, im Zuge des Vormarsches und Aufschwunges der rechtspopulistischen
Parteien in Europa, nicht auch fragen: ist da wieder etwas im Anmarsch,
kommt da wieder etwas dieser Art, vielleicht in anderem Gewand auf uns
zu?
Bei der Eröffnungsfeier der Berlinale 2010 wird zu
ihrem 60. Geburtstag zweisprachig gesprochen. Die Begrüßung
beginnt auf Englisch, dann geht es in deutscher Sprache weiter. Der Festivaldirektor
berichtet von der ersten Biennale im Jahr 1951: Berlin, Bilder des Wiederaufbaus,
aus den Trümmern der Zerstörung setzt die Stadt mit der Berlinale
ein Lebenszeichen. Berlin ist bereit neu anzufangen, Berlin blickt mutig
in die Zukunft: Wir sehen Ausschnitte aus einer historischen Rede Brandts.
Von den politischen Verhältnissen beeinflusst, geht es darum, zu
zeigen, dass man den Krieg überstanden und vor einem Neuanfang steht.
Wie wir aus der diesjährigen Eröffnungsrede des Festivaldirektors
weiter erfahren, wurden bei der ersten Berlinale die Filme vom Publikum
ausgezeichnet. 1956 ist es dann soweit: die großen Hollywoodstars
erscheinen in Berlin. Alles was Rang und Namen hat, geht zum ersten Mal
über den Roten Teppich und machen Berlin damit wieder zu der internationalen
Filmmetropole, die sie vor dem Krieg gewesen ist. Mit den Schauspielern
kamen die Kritiker – denn ohne Kritiker keine Stars – und
zum ersten Mal werden 1956 die Preise und Auszeichnungen nun von den Kritikern
der Jury vergeben und so ist es bis heute geblieben. Die „Kritik“
der abendländischen Kulturgeschichte – Emanuel Kant bezog sich
in seinen beiden Elementarwerken auf die „Kritik der reinen Vernunft“
und „Kritik der praktischen Vernunft“ – preist seit
jeher ihre Früchte.
III. „I can as you do – woodoo“
Pabst konnte im kommerziellen Kino Amerikas nicht an seine
europäischen Erfolge anknüpfen, Lang hingegen gelang mit seinem
ersten Tonfilm „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“
auch in den USA ein Publikumserfolg und es folgten weitere kommerziell
erfolgreiche Filme, die, wie manche behaupten, nicht mehr an das künstlerische
Niveau seiner europäischen Produktionen heranreichten. Ungeachtet
dessen beeinflussten die europäischen Stummfilme das amerikanische
Filmschaffen grundlegend. Noch strahlender mag uns nur der alles überstrahlende
Hollywood-Erfolg einer Billy Wilder Komödie, mit der einzigartigen
Marylin Monroe in der Hauptrolle, vorkommen. Mit der Monroe war den großen
Hollywood-Studios ein Star gelungen, der sich, obgleich nicht viel anders
als andere, als einmaliger erwies. Die von den Filmstudios seit den 1950-er
Jahren betriebene Image-Politik, die den Star auch nach dessen realen
Tod nicht freigibt, und die Serialisierung dieser Image-Abziehbilder signalisierte
vor allem den Wechsel von Kunst zu Kommerz: „I can as you do –woodoo!“.
Was Andy Warhol bewegte, das Image der Marilyn Monroe hunderte Male neben
der Cola-Flasche und der Campell-Suppendose an die Wand zu hängen,
wurde uns von Kennern der Amerikanischen Pop-Art-Szene deutlich interpretiert.
Das Einmalige existiert – nach dem von Benjamin beschriebenen Verlust
der Aura des Kunstwerkes – nicht mehr. Von nun an ging es nur noch
um das beliebig reproduzierbare Serienprodukt. Das Einmalige gibt es mehrmals
und vielfach, verkauft wird nicht der Star sondern sein Image. TakashiMurakami,
der geschäftstüchtigste japanische Pop-Art Künstler der
Gegenwart hebt in seinen Werken die Trennung zwischen Kunst und Kommerz
unter dem Motto „themeaning of thenon-sense of themeaning“
auf radikale Weise auf. Er designt Taschen für Vuitton, dreht Videos
für Kanye West, stellt den Museum-Shop ins Zentrum seiner Ausstellung,
mixt Kultur und Mode und sieht in dieser „flatlandculture“,
wie er sie nennt, die Trends westlicher Konsumorientierung. In einem ARTE-Interview
äußert sich der Künstler, was die kulturellen Ansprüche
seiner Zeit betrifft, skeptisch: die Aufhebung der Trennung von Kunst
und Kommerz führe zur Aufhebung des gesamten Kulturbegriffes. Wenn
das „Gute“ mit dem zuvor „Schlechten“ verschmelze,
stelle das das Ende des Kulturbegriffes der Hochkultur dar. Warhol, in
seinem Versuch, die kapitalistische Reduzierung der Kunst auf deren Oberfläche,
deren Scheinwelt zu thematisieren, formulierte den oft zitierten Basissatz
„In Zukunft wird jeder für fünfzehn Minuten berühmt
sein“ und hatte wohl noch keine klare Vorstellung vom Tempo der
Zukunft, den Beschleunigungsstrategien der Film- und Musik-Medien. Zwar
tauchen darin auch schablonenartige Image-Bildchen von Erfolgsträgern
auf, doch verschwinden diese schneller als in der Warhol’schen Zeitrechnung
vorgesehen. Von einer Flut nachkommender Chimären gelöscht,
gibt es die wirklich neuen Gesichter nur mit sehr kurzfristigem Verfallsdatum.
Waren es bei der Casting-Show DSDS anfangs hundertfünfzig Kandidaten,
so sind es heute bald fünfzigtausend, die für die Vorstellung,
ein Teil des Mediengeschäftes zu sein, alles täten: Wenn das
Security-Band durchschnitten, der Eingang zum Erfolg freigegeben scheint,
gibt es kein Halten mehr. Wie bei einem Sport-Event stürmen sie nach
vorne, um einmal, und sei es nur kurz, in die Zielgerade, in das Fernsehen
zu kommen, denn wer im Fernsehen ist, ist TOP, im Unterschied zu denen,
die nur zuschauen. In diesem Jahr hat sich DSDS tatsächlich verändert.
Es ist so gigantomanisch geworden, dass der Pop-Titan, der Held selbst,
ein wenig darin untergeht. DSDS ist zu dem geworden, was die Amerikaner
von New York behaupten: ein gigantomanischerSchmelztigel, eine teuflische
Mixtur aller Zutaten. In DSDS finden sich für jede Käuferschicht
nach Bedarf Comedy, Sport – Kung-Fu-Fighting und Motorbikes –
und Pamela Anderson Verschnitte erklimmen schwerfällig die Maschine
in knappen Leder-Hot-Pants. DSDS ist das Konzentrat-Serum der Tourismus-
und Wellness-Branche. Die Kanditatinnen hocken selbstbewusst im Whirl-Pool,
zu Markte tragend, was man nur zu Markte tragen kann. Zum ersten Mal geht
es in der Imitation des Lady Gaga Kassenschlagers nicht nur mehr um Stimmen,
es geht ums Gesamtpaket. Und auch zwei Outlaws, ehemalige Gefängnisinsassen
sind mitten drin statt nur dabei.
IV. Die Erschaffung der Übermenschen
So wie aus der Mallorca-Idylle die Strände der Südsee
geworden sind, so wie die Superstar-Kandidaten bei der ersten Mottoshow
mit Background-Vocals und fertigem Mix auftreten, so hat sich die Kameraführung
desgleichen verändert. Als flöge man über ein Fußballstadium
vor dem entscheidenen Match, fliegt der Betrachter über die Mega-Halle
mit dem Mega-Publikum. Man bemüht sich den Schein von Mega-Räumen
zu erzeugen, die schon nahe an die archetektonischen Bau-Fantasien der
Nazis heranreichen. Es scheint, dass die Methoden, die die Amerikaner
von Leni Riefenstahl gelernt haben, nun auch bei den DSDS-Machern und
anderen angekommen sind: Nun gibt es die Großaufnahme von sich rythmisch
bewegenden Körperteilen, wie sie zum Olympia-Geist der Riefenstahl
passen. Hier geht es schon lange nicht mehr um Interpreten, sondern um
das propaganda-ähnliche Wecken von Massenhysterie. Auf Großbild-Leinwänden
steigen die Kids auf in den unerreichbaren Himmel der Stars und werden
in der Wirkung nur noch von der Großbild-Übertragung vor dem
Friedhof (anlässlich Robert Enkes Tod) oder den Screenings bei der
Michael Jacksons Trauerfeier übertroffen. Als Krönung von allem
wie immer die großen Gefühlsausdrücke in Großaufnahme,
vor allem in Zeitlupe, damit es sich auf der Festplatte des Gehirns besser
einprägt.
Der deutsche Philosoph Josef Früchtl verdeutlicht
in seinen Studien zum Thema „Heldentum in der Gegenwart“,
dass das Bedürfnis der Massenmedien nach Helden größer
sei, als bei „normalen“ Zuschauern, denen diese Helden vorgeführt
werden. Er hebt neben der Sphäre der Kunst und Medien vor allem die
Sphäre des Sports hervor, in dem solches Heldentum gepflegt wird.
Im Sport scheint das Heldentum auf der breiten Front des Massenkonsums
das affektiv stärkste zu sein: Hier werden die Leitbilder unserer
narzisstischen Körperkultur am eindeutigsten vorgeführt: der
Körper, die körperlichen Fähigkeiten in Perfektion, der
Schweiß, die Anstrengung auf dem Weg zum Sieg machen den sportlichen
Helden mit den Bildtechniken der Medien zum „Übermenschen“.
Früchtl betont, dass es nicht nur im Sport sondern in allen Bereichen
des alltäglichen Heldentums nicht nur der Leistung, sondern vor allem
der medialen Überhöhung, des an den Zuschauer-Heranbringens
dieses Heldentums in Form von Bildern bedarf. Erst diese von Idealisierungen
getragenen, sich wiederholenden Bildanstürme aus einer gewissen Distanz
betrachtet, machen den Helden zum Helden – “Das Bild ist uns
näher als der Buchstabe!“. Freud geht in seiner Abhandlung
zum Phänomen der Massensuggestion bis hin zur Massenhysterie noch
stärker ins Detail: Das Phänomen der Heldenüberschätzung
deutet er als „Sexualüberschätzung“. Das sexuelle
Interesse für eine Person lässt uns den Begehrten als perfekt
und vollkommen erscheinen, was bei Zurückgehen des Interesses enttäuschender
Weise nicht mehr der Fall ist. In narzisstischen Gefühlssystemen
bezeichnet die Begierde die Selbstüberschätzung der eigenen
Fähigkeiten und Möglichkeiten. Auch der Narziss möchte
sich selbst nicht enttäuschen.
Früchtl unterscheidet zwischen Helden und Super-Stars:
Um ein Held zu sein, muss dieser außerhalb der Norm handeln. Es
bedarf vor allem der Tat um ein Held zu sein. Und es gehört immer
auch die Distanz eines beobachtenden Dritten dazu. Der von anderen als
Held eingestufte Charakter sieht sich in der Situation, in der er sich
befindet, vielleicht gar nicht als Held, erst durch die anderen, die aus
der Distanz das Geschehen beurteilen, wird er zum Helden erkoren. Stars
hingegen sind niemals Regelbrecher. Sie sind vielmehr die Meister der
Regelanwendung und wie sie dies tun, macht sie zu scheinbaren Personen
„larger than life“. Sie handeln aber nicht selbst, sie führen
nur aus, was das dahinter liegende Regelsystem ihnen als Regelrepräsentanten
abverlangt. Früchtl verdeutlicht, dass hinter diesen Regelwerken
immer politische Interessen stecken. So kann ein Schauspieler, der die
Rolle eines Kriegshelden, eines Soldaten im Kampfeinsatz zu einem Zeitpunkt,
in der die Sache bereits vom Scheitern bedroht ist, dem Zuschauer den
Eindruck vermitteln, dass es sich lohnt, weiter zu kämpfen, dass
das Ruder noch herumgerissen werden könne und der Sieg noch in greifbarer
Nähe sei. Dem Zuschauer mag der Schauspieler in seiner Rolle aus
der Distanz des Betrachters wie ein Held erscheinen. Dem armen Schwein,
das sich wie zum Beispiel Tom Hanks in „Forrest Gump“ verwundet
und gebrochen durch die Situation schleppt, mag diese wie die Hölle
vorkommen, er erlebt sich dabei keinesfalls als Held. Diese Art des Heldentums,
wie wir sie auch aus den Zeiten der Weltkriege kennen, soll der kämpfenden
Nation die Sache als gerecht und lohnenswert erscheinen lassen, so dass
jene, die bereits aufgeben und ihre Söhne nicht mehr in den Krieg
schicken wollen, nun wieder einen Sinn darin sehen. Heldentum und Mythenbildung
gehören zusammen: „Was für die Deutschen das Nibelungenlied,
ist für die Amerikaner der Western.“ Der Western stellt das
einzige nationale Epos in der amerikanischen Filmgeschichte dar. Nur im
Western, so Früchtl, reflektiert sich das kulturelle Selbstverständnis
der Amerikaner und ist als Filmgattung eine durch und durch amerikanische
Erfindung. In jedem Western reitet der Held von rechts ins Bild um es
am Ende links aus dem Bild reitend wieder zu verlassen. In den meisten
Filmen dieser Art ist der Held ein Unbekannter und Fremder, der auf ein
Dorf zureitet, in dem die üblichen Verhältnisse herrschen. Der
Sheriff hat es mit ein paar Gesetzlosen zu tun, die er kaum unter Kontrolle
halten kann. Der Held löst ein Problem, das die Dorfgemeinschaft
ohne ihn nicht lösen kann. Hat er das Problem gelöst, als Regelbrecher
in der Nähe des Verbrechens, verschwindet der Held wieder aus der
Dorfgemeinschaft, die sich in Starke und Schwache zusammenrottet und in
der das unumstößliche Gesetz gilt: Wenn sich mehrere verbünden,
so ist das Recht auf deren Seite.
V. Preis und Nachfrage im Eventmanagement
Wie wir also gehört haben, sind Superstars auf dem
roten Teppich, der bei so vielen Filmfestspielen wichtiger als die Filme
geworden ist, keine Helden, sondern Repräsentanten der politischen
Norm. Wer dann, außer den triumphierenden Sportlern, sind unsere
Helden der Echtzeit? Philosophen gehen niemals über einen roten Teppich.
Ihre Leistungen werden in unserer Zeit geringgeschätzt und wer heute
im Internet die ägyptische Königin Nofretete googelt, wird neben
dem Bild von ihr mit dem Werbebild der Tourismustreibenden konfrontiert:
Zum Kunstwerk gehört außer der Betrachtung also noch die Reiseroute,
die den Betrachter an jenen Ort bringt, an dem das Objekt steht. Kein
Bild der Nofretete, ohne das Bild des Werbeträgers. Aus der Orwell’schen
Hassstunde ist längst der Hasstag bei „Saturn“ geworden.
Aufgrund eines einzigen Aufrufs auf Facebook kommen in London in kürzester
Zeit zweitausend Terror-Partymacher in der noblen Park Lane zusammen,
nachdem sie sich zuvor die Pillen eingeworfen und ihre Handys zum Live-Mitschnitt
gezückt haben, um eine leerstehende Luxus-Immobilie derart zu demolieren,
dass sogar das Dach einzustürzen droht. Die Terror-Party-Crasher
kommentieren, sie hatten die geilste Party ihres Lebens, „die Polizei
kann sie mal“, als diese sowieso nichts gegen sie unternehmen könne,
ja, sie würden es jederzeit wieder tun. Und was die Eigentümer
betrifft, kein Mitleid, die hätten ja genug und könnten sich
etwas Neues kaufen. Wer ist da der Held? Wer ist da der Regelbrecher ?
Ist der Super-Mega-Held der Netzwerk- und Telekommunikationsbetreiber?
Darf Facebook den Rechtsstaat außer Kraft setzen und die Polizei
lächerlich machen? Ist das das neue Aussehen des Faschismus, dass
er nicht mehr in braunen Uniformen daherkommt, sondern anonym, auf Twitter
und Facebook? Komasaufen kennen wir mittlerweile aus den Medien, aber
Party-Terroristen, das ist jetzt wirklich etwas ganz Neues! Aber wenn
man in einer im Internet veröffentlichten Hausarbeit über Leni
Riefenstahl die Formulierung „Das Event-Management der Nationalsozialisten“
findet, muss gefragt werden, ob man einen modernen Kulturbegriff auf die
Schreckenszeiten von damals übetragen kann? Oder kommt hier ans Tageslicht,
was wir insgeheim schon länger fürchten: Das Event-Management
ist autoritär, es spricht im Befehlston zu uns. Und auch die Werbung,
die sich viele Jahre mit äußerster Raffinesse darum bemüht
hat, das Interesse des Käufers zu wecken, kommandiert: “Trink
das, iss das, mach dein Geschäft“ oder „Greift alle zu,
greift hin und hinterher Hygiene-Gel antibakteriell“.
Sind bei internationalen Filmfestspielen vergebene Preise
absolute, „auf die Ewigkeit abzielende“ Auszeichnungen oder
sind sie kultur-politischen Strömungen in bestimmten Zeiteinheiten
unterworfen? Haben wir es bei den künstlerischen Filmen mit formalen
Produkten, bei den kommerziellen Produkten eher mit dem Schinkenspeck
der Materie zu tun? Oder verhält es sich umgekehrt: Ist der Kunstfilm
intellektueller Überbau und der Kommerz die Basis? Wie steht es in
der Gegenwart um das Verhältnis von Inhalt und Form, wie hängen
sie zusammen und was meint Robert Pfaller wenn er im Hinblick auf kulturelle
Epochen von „Beleuchtungswandel“ spricht? Kümmert sich
der Kunstfilm, der Anfang des europäischen Films wie die Brüder
Lumière, um das Licht, während der kommerzielle Film mit dem
Aufstellen der Lampen die Aufmerksamkeit des Betrachters dorthin lenkt,
wo er sie haben will, so wie die Werbung auch auf die Ware hin beleuchtet?
Wer ist wirklich „larger than life“, der Mega-Superstar des
anfänglichen Hollywood-Kinos, Christoph Waltz, John Malkovich, George
Clooney und Michael Jackson in einer Person oder ist es der „Blödmann“
der „Media Markt“-Werbung, „mein Hausverstand“
von „Billa“ oder das „Ja natürlich-Schweinchen
Babe“? Seit in Deutschland ein Hund von einer ganzen Nation zum
Supertalent gewählt wurde, wissen wir, alles ist möglich im
Land der Flachkultur. Aber was ist ein Hund im Vergleich zu einem Putzmittel,
das jeden Dreck verschwinden lässt und alles übertrumpft. Im
„Actimel“-Werbespot zur Stärkung der Abwehrkräfte
geht Herbert mit dem Tischstaubsauger gegen die Bakterien am Kopf seines
Sohnes vor und schenkt dem Pizzaboten 50 Euro weil er mit den Bakterien
auf dem Wechselgeld nicht in Berührung kommen will – mit Beleuchtung
auf „Trink das, Herbert!“. Und in TV-Gewinn-Shows führt
die Best-Preis-Frage, „denn auch heute können Sie bei uns 5000
Euro gewinnen“ zum Trumpf: „Was wird dem Verbrecher bei der
Verhaftung umgelegt: eine Armbanduhr oder Handschellen?“.
VI. Größe und Großartiges
Hollywood-Kino ist emotionales Kino: Action-Filme, Filme
über Angst und Schrecken, Crime-Filme und von Rachegelüsten
genährte Vergeltungsfilmen, Filme über das Ende der Welt, Gewalt-
und Folterkino, aber auch Filme von herzzerreißender Leidenschaft,
Humor und Comedy sowie idyllische Filme für die ganze Familie: Harmonie
und Eintracht, Lieblichkeit und Hilfsbereitschaft bis Gefühlskitsch
auf höchster Ebene: Disney Feeling! Humphry Bogart, der mit dem einen
Satz „Ich seh’ dir in die Augen, Kleines“ eine ganze
Generation von weiblichen Kino-Zuseherinnen in die Ekstase unterdrückter
Obsessionen trieb, war in den Fünfzigerjahren ein echtes Verkaufstalent.
Er hatte dieses gewisse Etwas, diese Klasse, die einen echten Leinwand-Star
ausmacht. Man hing an seinen Lippen und wollte alles von ihm wissen, seinerzeit
vor der Präsenz des Fernsehens in den häuslichen Wohnzimmern.
Wollte man einen Film sehen, musste man in die Heiligen Hallen des Lichtspieltheaters
und was man dort zu sehen bekam, erschien wie die Offenbarung aus einer
anderen Welt, einer Weltbühne, die man im wirklichen Leben nie betreten
und kennenlernen könnte. Was man an Reichtum und Schönheit und
Phantasie dort sah, war wie der Blick durchs Schlüsselloch ins Paradies.
Was das Kino einem zeigte, vor allem die Wochenschau, das war die als
wahr ausgegebene Realität, nahe der Sprache der Propaganda-Ära,
aus der vor allem der Befehlston beibehalten wurde. Mit dem Wirtschaftswunder
blühte auch das Image der schillernden Amerikanerin, die stets eine
gute Mutter und eine wahrhaft Liebende ist, ansonsten aber auch mit dem
Satz „Ich seh’ dir in die Augen, Kleines“ zufriedenzustellen
wäre. Immer wenn es Krieg gab, wurden mit zuvor dafür hergestellten
Waffen auch schon die passenden Filme produziert, über die Aufopferungsbereitschaft
und den Stolz einer ganzen Generation darauf, für das Vaterland den
Kopf hinzuhalten und für die Sache der Ehre zu fallen. Ein Erfolgsproduzent
ist immer ganz nahe – nicht wie man denken würde, am Geschmack
des einfachen Kinogehers, der dann in Summe die Kasse klingeln lässt
– der Politik. Ist das Publikum ausgelaugt und hoffnungslos, heitert
er es mit Komödien auf, aus dem ängstlichen Jungen, der auf
der Flucht vor dem Leben ist, macht er Harry Potter. Und wenn die Nasa
den Weltraumtourismus ausbauen möchte, sponsort Sony einen Science-Fiction
Film, der nur noch am Mond und in der Kapsel spielt. Dagegen war das begeisternde
„Raumschiff Enterprise“ wie das Comic eines kleinen Jungen,
im Verhältnis zu den weltweit gesammelten GPS-Daten. Und wenn auf
der Speisekarte der Glückseligkeit im Disney-Film für die ganze
Familie der verlorene Sohn heimkehrt und das kleine Kitz aus Bambi seine
Mutter sucht und sich das die Familie im Fernsehen ansieht weil Weihnachten
ist, dann reicht das für ein weiteres Jahr, um die heile Familie
als unangreifbar dastehen zu lassen. Wer das nicht mag, sucht seine Helden
in den Sümpfen des Verbrechens und der Drogenkriminalität, will
Blut fließen sehen wie bei den Menschenopferungen der Azteken. Diese
verschwanden und mit ihnen ihre Kultur. Nicht der augenblickliche Stand
der Kultur, der ja immer wechselnden Strömungen unterworfen bleibt,
ist der Maßstab für die Kulturleistung eines Volkes. Vor allem
ist unter Kultur die Bereitschaft zu verstehen, das über die Jahrhunderte
Gewachsene durch gemeinsame Anstrengung zu bewahren. So kann auch das
gegenwärtige Kino, sei es nun amerikanisch oder europäisch,
immer seiner kulturellen Ursprünge bewusst bleiben. Hollywood zehrt
heute noch vom Glanz und von der Glorie des Anfangs. Die Präsentation
anderer Welten und Schicksale verdankt ihren grandiosen Erfolg dem Einschieben
neuer Bildformate in die Sehgewohnheiten der Einzelnen. Das CinemaScope-Format
lässt den Betrachter schrumpfen und macht ihn gleichzeitig bereit,
das Gesehene als Maßstab der Realität überzubewerten.
So wurden aus den Stars Stars in Übergrösse. Der passive Zuschauer,
dem selten Gelegenheiten geboten werden, sich über sein eigenes Gefühlsleben
derart viele Gedanken zu machen, steht übergroßen, handlungsfähigen
Charakteren gegenüber, die im Bewußtsein der Betrachter auch
cinemascope-große Bewunderung auslöst – so wie der passiv
gehaltene Zwerg den heroischen Helden, den Feldherrn, den Sieger, den
Kämpfer, den Schicksalsbezwinger bewundert.
Es sind die in den Anfängen des amerikanischen Kinos
groß gewordenen Stars, zum Beispiel James Dean, der in „Denn
Sie wissen nicht was sie tun“ mit einem einzigen Gefühlsausbruch,
als er sich weinend und anklagend gegen seine gefühllosen Eltern
erhebt, den Anfang der später kommenden Protestbewegungen einleitet:
Unsere Gefühle werdet ihr uns nicht kaputt machen, wir werden uns
wehren, so zu werden wie Ihr! Man denke an Marilyn Monroe, Charly Chaplin
und Humphry Bogart, die uns heute noch glauben lassen, dass die in amerikanischen
Filmen der Gegenwart spielenden Akteure ebenfalls Superstars sind. Sicher
gibt es sie, die Blockbuster, in denen Helden wie Tom Cruise, Brad Pitt,
Kevin Spacey, Russel Crowe siegen und bluten, aber ohne die Unschuld des
anfänglichen Blickes. Weil CinemaScope zu einem Sendeformat unter
vielen geworden ist, schrumpft gleichzeitig auch die Grösse der Stars.
Zu viele gibt es, und auch jene, die es gibt, verschwinden schnell wieder.
In unserem Zeitalter der Superstar-Sucht wird deutlich, womit ein VIP
berühmt wird, bedarf keiner Legitimation. Auf wen sich die VIP-Papazzi-Kameras
richten, ist so etwas wie ein Star, oft nur im Kleinformat, mitunter auch
im Hand-Bildformat.
Große Kinofilme herzustellen verschlingt Unsummen von Geld. Welche
Filme wir zu sehen bekommen, entscheiden seit den Anfängen des Kinos
die großen Produktionsstudios in den USA und in Europa. Sie tragen
die Kosten und sichern die Arbeitsplätze der Filmindustrie. Die Ware
Film muss auf den Markt gebracht werden um dort den Rückfluss des
ausgegebenen Kapitals zu sichern. Daher ist das Hauptanliegen der Produzenten,
Filme zu produzieren, die so vielen wie möglich gefallen, präzise
gesagt, Filme für die Masse herzustellen. Wobei der Begriff des Massengeschmacks
heute ein anderer ist als zum Beispiel in den Jahren nach dem Zweiten
Weltkrieg. Das nicht, weil sich die Absichten des Kinos geändert
haben, sondern vielmehr die Sruktur der Masse im Sinne von bespielbarer
und zu unterhaltender Öffentlichkeit. Die großen amerikanischen
Produktionsstudios, im deutschsprachigen Raum die UFA, Bavaria und Wienfilm,
haben es uns vorgemacht: Kino dient der Zerstreuung und Unterhaltung.
“Wer arbeitet, soll auch essen!“ heißt in den Bereichen
der Unterhaltungsindustrie “Wer arbeitet, muss sich auch vergnügen!
Brot und Spiele für das Volk!“. Aber wie gelingt es den Firmenbossen,
Kassenschlager zu produzieren, die den Geschmack und die Neugierde aller
befriedigen, wo man doch weiß, dass es ein Ding der Unmöglichkeit
ist, allen zu gefallen, geschweige denn, von allen geliebt zu werden.
Irgendetwas, wohl „das gewisse Etwas“, muss für ihren
Erfolg ausschlaggebend sein um die Ware an den Mann, an die Frau zu bringen:
Erschaffe Göttinnen aus einfachen Frauen, aus Durchschnittsmännern
erzeuge Superhelden ohne Gewissen, dann lass die zwei zusammen kommen,
alle Tabus fallen und sorge dafür, dass der Bösewicht am Ende
nicht gefasst wird, oder umgekehrt – ist das ein Erfolgsrezept?
Eines steht fest, am Ende braucht die Story ein Happy End: Kriege werden
gewonnen, Ertrinkende gerettet, Einsame getröstet, der Schatz geborgen,
das entscheidende Match wider Erwarten gewonnen.
VII. Gefühlsregungen und Erfolge
Die Boulvard- und VIP-Medien sehen sich unter dem Ansturm
immer größerer Gefühle in der Kino- und Fernsehbranche,
vor allem jedoch in bezug zur Werbung genötigt, zwischen einem Kino
der großen Gefühle und den Gefühlen des gigantischen Kinos
des Anfangs zu unterscheiden. Man denke an die Szene aus „Panzerkreuzer
Potemkin“, an den alle den Atem anhalten lassenden Augenblick, in
dem der Kinderwagen die Stufen hinuntergleitet – ein schwer aus
dem Unterbewusstsein zu löschendes Bild. In unserer sogenannten Echtzeit
aber überschwemmen die Bilder in einer solchen Häufigkeit unser
Bewußtsein, dass uns die Bildinhalte, zur Beliebigkeit verurteilt,
als Belästigung erscheinen. Die sogenannten gigantischen Filme, „Vom
Winde verweht“, „Ben Hur“, „Doktor Schiwago“,
„Lawrence von Arabien“, sowie die Tramper und Camperfilme
und nicht zu vergessen, „Sound of Music“, sie waren als die
Schienen des Hollywood-Kinos verlegt und diese werden auch heute noch
unter anderen Oberbegriffen mit denselben Interessen befahren: Wirklichkeiten
vorzumachen, Trends zu setzen, Geld zu scheffeln. Produziert wird der
Erfolg und wir erinnern uns noch alle, wie diese Filme eine Art Bewusstseins-Spur
in unserem kollektiven Unterbewußtsein hinterlassen und wie diese
Helden der Vorzeit uns noch immer beeinflussen, weil es eben so große
Gefühle und Large-Pictures waren, die sie uns vorgeführt wurden.
Schon die Anfangssignation, die aufwühlende Musik und das alles überstrahlende
Studiologo präsentierten sich so eindringlich, dass man sich sofort
auf den Film freuten konnte: Man war in guten, man war in starken Händen,
man durfte in eine andere Welt eintreten, man wurde vom Tellerwäscher
zum Millionär, einfach so, durch die Gunst der Stunde, die sich einmal
den und dann einen anderen herausgreift, um ihn zu beglücken. MGM
und Metro Goldwyn Meyer Studios stellten in ihren Anfängen einen
Film her, der in schwarz-weiß wohl die Verdoppelung und Verdreifachung
ihres Kraftpotentials darstellen sollte. Es war eine einfache Geschichte:
Eine junge tatkräftige Tierpflegerin ist mit der Sorge um zwei Löwen,
von denen einer gutmütig, Cäsar, einer aber äußerst
gefährlich und böse ist. Als Gegenspieler der Tierpflegerin
dient der Charakter eines korrumpierbaren Bürgermeisterkandidaten,
der letzten Endes den einlaufenden Nero, den er für Cäsar hält,
rettet und damit die Gefahr für seine Stadt abwendet. Dies läutert
ihn auch innerlich so sehr, dass er beschließt, von nun an nur noch
ein guter und wahrhaftiger Mensch zu sein. Den ganzen Film über sehen
die Zuschauer die Symbole der Kraft durch das Bild laufen, und selbst
bei strittigen moralischen Fragen sind es die Löwen, die durch ihr
kräftiges Auf- und Ab-Springen am meisten interessieren, irritieren
und vom eigentlichen Thema ablenken. Ist nicht nur dem traditionellen
Kunstwerk der bildenden Kultur, wie es Walter Benjamin formulierte, die
Aura, das Eingebettetsein in den zweckfreien, universellen Raum abhanden
gekommen, sondern gilt das auch für das große Kino und die
gigantischen CinemaScope-Filme? Ist ihnen die Aura verloren gegangen,
bei ihrem Eintritt in die Erdatmossphäre, in die Welt der gefühlsarmen
Sachlichkeit und den bedeutungsarmen Narzißmus? Im Kino der Anfänge
mögen die Charaktere sehr überhöht und dramatisch aufgeladen
miteinander umgegangen sein, sie gingen miteinander um. Heute müssen
sie, oberflächlich betrachtet, nur noch aussehen wie Superhelden
in Übergröße, monströs und wie die Löwen von
Metro Golwyn Meyer über die Bildfläche laufen, sie sind stärker
als die anderen. In einer narzisstischen Leitkultur ist man mit Bertolt
Brecht geneigt zu fürchten: “Wenn die Tiger trinkend sich im
Wasser erblicken, werden sie oft gefährlich.“
1935 gewinnt Leni Riefenstahl bei den IFF in Venedig für ihren Film
„Olympia“ die Goldmedaille. Riefenstahl, die ihrer Reichsparteitag-Filme
wegen heftig angegriffen wurde, will von allem nichts gewusst haben und
ausschließlich der ästhetischen Maxime gefolgt sein. Ihr sei
es immer nur um die Form gegangen, nicht um den Inhalt. So erfährt
sie im weiteren aufgrund ihrer Filmtechniken von den Amerikanern große
Aufmerksamkeit. Sie war es, die in „Olympia“ die Schienen-Kamera-Fahrten
eingeführt hat, sie ist es, die als die Erfinderin der Großaufnahme
gilt, die jede Gefühlsregung deutlich macht. Manche Zuseher entschuldigen
sie auch heute noch, indem sie behaupten, Leni Riefenstahl könne
nichts für den Fanatismus auf den Gesichtern ihrer Darsteller, sie
hätten diesen fanatischen Ausdruck schon vor der Filmaufnahme gezeigt.
Sicher ist, Riefenstahl hat Hitler zu einer Figur „larger than life“
hochstilisiert. „Larger than life“, eine Maxime, der das einstige
wie heutige Helden-Kino von Hollywood gerecht wird. Obgleich und zurecht
als Propagandafilmerin entlarvt, wird sie dennoch nach dem Krieg von Henry
Ford, Charly Chaplin und Walt Disney willkommen geheißen. Offensichtlich
hoffte man, von ihr einiges für das Hollywood-Kino lernen zu können.
Gelernt hat man die narzistische Körperkultur, den späteren
Body-Builder-Wahn, das sportliche Denken in politischen Fragen und vor
allem, die gefühlsverzerrenden und gefühlsverherrlichenden Großaufnahmen,
die ihre Wirkung nicht verfehlen sollen. Noch im Alter stilisiert sich
Riefenstahl als das naive Mädchen, das immer nur das Gute sah. Hitlers
„böse und dämonische Seite“ habe sie im realen Kontakt
mit ihm niemals wahrgenommen. Ihr sei es immer nur um die vollkommene
Ästhetik, die wahre Filmkunst gegangen, sagt sie, die unter einem
extrem autoritären Vater gelitten hat und als junge Frau vergewaltigt
wurde. Sexualität sei in ihrem Leben niemals von großer Bedeutung
gewesen. Gegen Ende ihres langen Lebens trat sie der Organisation „Greenpeace“
bei.
Pabst, dem kein Mega-Erfolg in den USA gelang, kehrte nach
Europa zurück und drehte vorerst in Frankreich. Als er vom Kriegsausbruch,
bei einem Familienbesuch in Österreich am zweiten September 1939
überrascht wurde, hatte er für den achten September bereits
seine Rückfahrt in die USA gebucht. Doch daraus wurde nichts: Nachdem
auch eine geplante Ausreise über Frankreich misslingt, entschließt
sich Pabst in Deutschland zu bleiben. Er dreht in der Ära des deutsch-nationalen
Propagandafilms Filme für die Bavaria, ein Umstand, der ihn bei vielen
als „Nazi–Überläufer“ dastehen ließ,
obgleich gegen ihn in dieser Zeit eine Beschwerde bekannt wurde, in der
man festhielt, dass die von Regisseur Pabst gezeigte Kooperationshaltung
zu wünschen übrig ließe. Tatsächlich hatte sich Pabst
mit dem Vor-Sich-Herschieben mehrerer Filmprojekte, einiger Filmaufträge
entledigen können. Lang, der zuvor Die Nibelungen verfilmt hatte,
wurde von einem begeisterten Fan, der ihn offensichtlich missverstand,
die Leitung der deutschen Propagandafilmwirtschaft angeboten. Lang erbittet
sich Bedenkzeit und flieht in der darauffolgenden Nacht nach England und
schließlich in die USA. Pabst gerät 1929 das erste Mal in die
Fänge des nationalsozialistischen Filmschaffens. Er wird in Zusammenhang
mit der Schauspielerführung der Spielszenen für den Film „Die
weiße Hölle vom Piz Palü“, für den auch Leni
Riefenstahl tätig war, engagiert, doch die Zusammenarbeit verläuft
problematisch. Um „Die weiße Hölle vom Piz Palü“
geht es auch in einem anderen Film, der das Kino in Frankreich, in dem
dieser Film läuft, zum zentralen Plot-Point macht: Tarantinos „InglouriousBasterds“
– vom DVD Handel zum besten Film des Jahres 2009 erklärt. Immer
schon knüpfen sich rund um das Filmschaffen Preise und Auszeichnungen,
dennoch wird man in der Echtzeit den Verdacht nicht los, das sich eine
Art von Preiskultur entwickelt, in der es nur noch um die Best-Preis-Garantie
geht, welche die Substanz der Filme dahinter völlig verblassen lässt.Als
Waltz vor Jahren für seine Darstellung des Schlagersängers Roy
Black von der Deutschen Film Branche ausgezeichnet wurde ahnte noch niemand,
dass hier ein zukünftiger Golden Globe und Oscar-Gewinner ausgezeichnet
wurde. An Erfolge in solchen Größenordnungen war damals noch
nicht zu denken. Nun sind sie heimgekehrt, unsere Gewinner und mit ihnen
der Pokal. Wir gratulieren Waltz und Haneke, den Gewinnern, denn wir freuen
uns, so wie wir uns auch freuen, wenn sich die österreichischen Ski-Adler
als wahre Überflieger erweisen. Das Publikum liebt sie, wie sie einst
Laurel and Hardy, Dick und Doof, die zwei Spaßkanonen liebten und
auf deren Impulse heute ganz Europa an Comedy-Formaten herumbastelt, um
aus der Comedy-Schiene auch einen Waggon großer Gefühle zu
garantieren. Und nebenbei lässt Mario Barth in einem Stadion als
Allein-Entertainer gigantische Gefühle aufkommen.
Zunächst aber zu den Anfängen: Das industrielle
amerikanische Kino und das europäische Kino haben gemeinsame Wurzeln,
da man die Impressionisten und Expressionisten der europäischen Kunstgeschichte
als die wahren Vorbereiter des Stummfilms erachten kann. Mit den europäischen
Impressionisten kam, wie es in der gegenwärtigen Museumspolitik formuliert
wird, das Licht auf die Leinwand, als man sich weigerte, in den verstaubten
Ateliers eine fiktionale Landschaft im Sommer zu malen, sondern stattdessen
hinausging, um das Tatsächliche an Ort und Stelle, im Lichte der
Wahrheit des Augenblickes zu malen, wobei ein bislang kaum beachteter
Unterschied in der Einstellung der Malenden deutlich wurde. Sie waren
nicht länger die absoluten Herren ihrer Fiktion, nein, plötzlich
gab es da ein drittes, ein tatsächliches Sein, außerhalb des
Malers, dem zu entsprechen die Pflicht eines impressionistischen Malers
zu sein schien: Die Welt, die im Auge des Betrachters nur sichtbar wird,
wenn das Licht darauf fällt, momentan und dennoch im Sinne des deutschen
Idealismus als objektive Welt darzustellen. Der amerikanische Impressionismus
darf historisch gesehen wohl nur als eine formale Wiederbelebung des europäischen
Impressionismus gesehen werden. Oberflächlich ähnelt die Struktur
der Malweise der Malweise europäischer Impressionisten, man wird
aber als Betrachter den Eindruck nicht los, dass man sich zwar bemühte,
es den amerianischen Impressionisten jedoch nicht wirklich gelang, das
Momentane des Lichts zu erfassen. Deswegen gibt es im amerikanischen Impressionismus
kein Gemälde wie zum Beispiel „Die Seerosen“ von Monet,
das von einigen Sachverständigen als erstes abstraktes Bild eingestuft
wird. Die Impressionisten als die ersten Modernen führen eine, wenn
auch anfangs nur auf die Wahrheit des Sehens bezogene, Instanz für
Wahrheit an einem von der Vorstellungskraft des Malers unabhängigen
Ort ein: Wenn Monet seine Seerosen nicht so gemalt hätte, wären
sie in diesem Augenblick der Betrachtung dennoch so zu sehen gewesen sein.
Mit der Erfindung der Fotografie kommt das Licht auf den
Film. Die Brüder Lumière haben mit ihren bewegten Bildern
aus den Impressionisten Filmkünstler gemacht. Künstler auf den
Spuren einer außerhalb ihrer selbst unverrückbar dastehenden
Welt-Wahrheit. Als gäbe es ein außerhalb unserer Einschätzung
liegendes Leben, das einfach objektiv nur wahr ist, ob man es betrachtet
oder nicht: Das gute Leben, das wahre Leben, das echte Leben. Es bedarf
schon der Auseinandersetzung mit der europäischen Geistesgeschichte,
um nicht an der eigenen Identität, des von Selbsttäuschung und
Selbstzweifeln geplagten europäischen Zweiflers, aus der vielfach
verschlungenen Pfaden des Nachdenkens über das Denken, zu einem klaren
Ich- und Weltbild zu gelangen. Hier wird dann auch ohne große Sentimentalität
die Schere zwischen künstlerischem und kommerziellem Film angelegt,
wie auch zwischen fiktionalem, sogenanntem großen Gefühlskino
und dem Dokumentarfilm, dem der Anspruch, nach den darunter und dahinterliegenden
Wahrheiten zu suchen, zugestanden wird. Die Verantwortlichen wissen, die
Wahrheit, welcher Art auch immer, von wem auch immer formuliert, ist karg
und trocken, es ist kein besonderer Genuss, sie zu sich zu nehmen. Das
fiktionale Kino erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit, es will unterhalten,
unser Bewusstsein durcheinander schütteln, wie Magritte seine fallenden
Häuser auf einem der berühmtesten Werke des Surrealismus. Es
sind die Impulse der Surrealisten, die nach den Impressionisten den anfänglichen
Blick auf die abbildbare Welt erneuerten: Eine Rose ist ein Pferd, ein
Pferd eine Eisenbahn. Wer „Ein andalusischer Hund“ von Dali
und Bunuel gesehen hat, hat verstanden, dass das fiktionale Kino surrealistischer
Prägung, vergleichbar dem von Bunuel und Dali provokant inszenierten
Schnitt der Rasierklinge durch das Auge, beim Publikum Empörung,
Aufruhr und Hass auslöste. Auf diese Bildsprache reagierte das Publikum
mit heftigen und großen Gefühlen, jedoch mit unkommerziellen
Gefühlen, denn das Publikum möchte von sich selbst abgelenkt
werden. Seitdem ist es das gute Recht jedes Produzenten, nur das zu produzieren,
was zum Zustandekommen des Vergnügens dient. Für die Darsteller
wahrer Unanehmlichkeiten gibt es Türsteher, die ihnen den Eintritt
in die große Branche verwehren. Weltweit sind die Interessen der
Politiker jenen der Filmschaffenden zur Seite gestellt, um zu verzaubern,
worauf bereits ein Fluch liegt.
VIII. Wie weit lässt es sich gehen
Die Anfänge des amerikanischen Kinos haben das einzige
wahre Stummfilmgenie in Charlie Chaplin gefunden, ein vollkommen autonomer
Künstler, der wie ein Surrealist mit den Dingen der Welt umging,
autonom und eigentlich nur mit Picasso, dem ewigen Kind der Kunst, vergleichbar.
Auch das europäische Kino verdankt in seinen Anfängen ebenfalls
dem Stummfilm alles: Fritz Lang, Pabst, Murnau und Dreyer. Während
die großen Studios in Deutschland gegen Ende des zweiten Weltkrieges
ausschließlich auf den Propagandafilm eingeschworen waren, gab es
in Deutschland Künstler und Künstlerinnen vor allem in der bildenden
Kunst, die die Schrecken des Kommenden schon am Horizont aufsteigen sahen.
Die expressionistischen Maler mussten am eigenen Leben erfahren, was es
bedeutet, als „entartet“ zu gelten, hilflos daneben zu stehen,
wenn Staatsbeauftragte in den Galerien die Bilder von den Wänden
nahmen, um sie an einem geeigneten Ort dem Feuertod zuzuführen: Hiermit
übergebe ich den Flammen die Schriften von Sigmund Freud und Bilder
von Otto Dix, Ludwig Kirchner und Käthe Kollwitz, die, statt ihrer
Bestimmung, sich um Mann und Kind zu kümmern, sich mit der Darstellung
von „Abscheulichkeiten und Widerlichkeiten“ abgibt.
Wir müssen uns erneut die Frage stellen, warum gerade
eine Richtung der Malerei, der Expressionismus, die den Menschen als duldendes
und leidendes Wesen zeigt, von den Wirren des letzten Jahrhunderts physisch
an den Rand getrieben, die Nationalsozialisten zu solchen Schritten führte.
War es wirklich nur der Blick auf das Elend der Unteren, auf das allgemeine
Elend der Welt oder war es der Verzicht auf die Perspektive, der den Skandal
auslöste? Hier ging es nicht so sehr wie in unserer Zeit darum, dass
die Dargestellten in ihrem In-Sich-Kauern beim Verzweifeln hässlich
aussahen, sondern der alleinige Umstand, dass sie litten, machte sie verdächtig.
Es gibt in unserer Welt kein Leid, keine Tragödien: Wer leidet und
dieses Leid nach außen trägt, ist ein politischer Provokateur
in einem System, das das Ideale, die Idylle und das Heil, die Größe
und Übergröße propagiert. Wer seine negativen Gefühle
nach außen trägt, ist ein Zersetzer der Volksgesundheit. So
wurde es damals formuliert. Und heute: Auf den Werbeflächen der Gewista
in den U-Bahn-Stationen Wiens steht folgendes: „Ein einziger Grantscherben
kann eine ganze Station verseuchen!“ – Wieso sind die Wiener
Linien und Gewista der Maßstab für mein Empfinden, was haben
die Wiener Verkehrsbetriebe mit meinem Gefühlsleben zu tun und warum
ist meine Stimmung nebst der Schweinegrippe ansteckend? Die Verkehrsbetriebe
erklären sich selbst: „Wir möchten, dass sie sich hier
wohl fühlen. Wenn sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich an unser Stations-Team.“
Und weiters, „Achten Sie auf äußerste Sauberkeit in den
Stationen.“ Diese unerbittlichen Wiederholungen haben den unangenehmen
Beigeschmack eines verhaltenstherapeutischen Experiments, in dem neue
Verhaltensregeln hinauf-hypnotisiert werden oder ist das die von Robert
Pfaller formulierte „Quälsucht“ der Herrschenden gegen
das Volk?
Dem europäischen Stummfilm ist die ausdrucksbetonte Darstellung seelischer
Schicksale ein Anliegen. Der Stummfilm dieser Zeit benützt die Darstellung
der Gefühlszustände um die Zuschauer aufzuwecken. Nicht in eine
Scheinwelt zum Zwecke des Vergnügens soll sich der Zuschauer begeben,
sondern vielmehr in die Auseinandersetzung mit sich selbst, eingebettet
in die Spanne „Leben und Tod“, um neue Impulse, sich selbst
und nicht nur die Identifikation als narzisstische Spiegelung zu suchen.
Der Stummfilm versucht durch Überhöhung des Ausdrucks, durch
überdimensionale Ausdrucksbewegungen den fehlenden Ton zu kompensieren.
So ist ein Darsteller in sich selbst zusammengekauert, andere wieder ringen
die Hände zum Himmel oder grimassieren wild, wie die Darsteller auf
der Bildfläche eines expressionistischen Holzschnittes. Diese Überhöhung
des Ausdrucks erregt auch das Interesse amerikanischer Produzenten, diese
setzen sie aber anders ein als in Europa. Lang, Murnau, Pabst, sie alle
sollen nach Hollywood kommen und an der Erstellung neuer Drehbücher
und Filme mitarbeiten.
Noch vor dem von Pabst 1931 gedrehten Film „Kameradschaft“
für den er 1932 den Preis des Völkerbundes für „Annäherung
der Völker“ erhält, welcher von der deutschen Reichspresse
angefeindet wird, stellt er 1926 „Geheimnisse einer Seele“
fertig. Dieser psychoanalytische Film will den Betrachter tief in seine
eigenen Bewusstseinsschablonen führen. Er ist abgesehen von dem engen
Korsett des psychoanalytischen Behandlungspragmatismus des Doktor Freud,
was die Intention der Kameraarbeit speziell in den Traumsszenen betrifft,
in seiner Kameraführung und Schnitttechnik ein radikal modernes Filmwerk.
Es macht den Zuschauer zum Verantwortlichen seiner Wahrnehmung, in der
Absicht, zum ganzheitlichen Verständnis seiner Bewusstseinszustände
zu gelangen. 1928 schließen sich Pabst, Heinrich Mann, Käthe
Kollwitz, Kurt Tucholsky und andere Künstler und Intellektuelle zum
vorerst eher links gerichteten, politisch dennoch neutralen „Volksverband“
zusammen. Auf die Frage, wie weit eine Satire gehen könne, soll Tucholsky
geantwortet haben, „eine Satire könne niemals zu weit gehen!“
– im Angesicht des Umstandes, dass Tucholsky bei Aufkommen des Nationalsozialismus
Selbstmord beging, eine tragische Aussage.
In „IngloriousBasterds“ wird aus einer Zusammenarbeit
von Leni Riefenstahl mit Pabst der Main-Plot gestrickt: In jenem Kino,
das zum Ort des Höllenfeuers und der Ausräucherung, zum Vernichtungsschlag
gegen die gesamte Nazigesellschaft inklusive Hitler und Goebbels wird,
muss zu Beginn der Episode der Vorspann des dort gezeigten Bergdramas
„Die weiße Hölle vom Piz Palü“ von Pabst abgebrochen
werden und für die Hitlerpremiere mit Soldat Zoller Platz machen.
Der heutigen Jugend, die in ihrem Geschichtsunterricht wenig oder teilweise
noch gar nicht bis zum zweiten Weltkrieg informiert wurde, entsteht beim
Betrachten dieser Szene der Eindruck, Pabst, der ihnen wohl kaum bekannt
ist, war ein Nazi und auch wie Riefenstahl im Dienste der Reichstagspropaganda
tätig. Gut, könnte man sagen, hier wird wenigstens auf die tragende
Rolle des Films als Massenverführungsmedium hingewiesen. Die Schuldigen
sind gefunden, das Propagandasystem enttarnt. Forscht man jedoch in der
Biografie des Filmregisseurs Pabst, so sind Pabst und Riefenstahl gewiss
nicht, wie es Tarantino leichtfertig macht, in einen Topf zu werfen. 1925
hat der Pabst Film „Die freudlose Gasse“ Uraufführung.
Es ist ein Filmstoff, der sich mit den Auswirkungen der Inflation auseinandersetzt
und sich mit der ausufernden Verschwendungs-, Sex- und Vergnügungssucht
der immer noch Reichen, sowie mit der Verelendung und dem Absturz der
immer ärmer werdenden Armen beschäftigt. Der Film verarbeitet
einen Zeitschrift-Roman des österreichischen Autors Hugo Bettauer,
der von einem Rechtsradikalen erstochen wurde. Der Film wurde von der
Zensur mehrfach umgeschnitten, Szenen wurden gänzlich entfernt, in
England wurde der Film sogar verboten. Filmhistoriker stellen fest, dass
Pabst in diesem Film von der expressionistischen Filmsprache, mit der
ihr immanenten Symbolik, zu einer Filmsprache, die als „neue Sachlichkeit“
bezeichnet wird, gefunden hat. Dieser Filmsprache wird die Verbindung
von dokumentarischen und fiktionalen Elementen als Charakteristikum zugeordenet.
Auch der Schauspieler Daniel Brühl,
einer der Haupdarsteller in „IngloriousBasterds“
(Universal) , gibt in einem 3-sat-Interview folgende Stellungnahme
ab: „Im Film ginge es um keine moralischen Festmachungen, weil das
Kino nicht die Aufgabe habe, moralisch zu sein. Ob die Handlung moralisch
oder unmoralisch sei, spielt keine Rolle. Wir machen Fiktion und nicht
eine Dokumentation über eine historische Begebenheit. In der Fiktion
ist alles erlaubt. Wir haben in diesem Film die Geschichte als Fiktion
verändert. Da machen Leute, was sie in Wirklichkeit nie getan haben,
treffen auf Leute, die sie niemals getroffen haben, erleben Situationen,
die sie niemals erlebt haben. In unserer Fiktion nimmt die Geschichte
eben eine andere Wendung. Das ist die Freiheit der Fiktion. In unserem
Film gibt es eben kein Entkommen für das Regime.“ – Noch
klingen manchen die Erinnerung an Rudi Dutschkes Formulierung über
das Selbstbewusstsein der Bewegung in den Ohren nach: “Wir sind
keine Fantasten, wir werden die Welt verändern.“ Und wir müssen
an Obamas „Yeswecan“ denken. Aber ist die Veränderung
zum Guten in einer Gesellschaft, die darauf besteht, in ihrer Freiheit
keine Moral zu kennen, nicht gefährlich? Denn was im Dritten Reich
als volksbildend und die Sittlichkeit fördernd gegolten hat, damit
wollen wir heute nicht mehr konfrontiert sein. Oder verhält es sich,
wie die österreichische Bundespräsidentschaftskandidatin zum
NS-Verbotsgesetz in der U-Bahn-Zeitung „Heute“ zitiert wird,
derart: „Es müssen auch absurde, skurrile, verächtliche,
abstoßende Meinungsäußerungen möglich sein.“?
Ist es dem Film „IngloriousBasterds“, der als bissige Satire
über sich hinausschießen möchte, also gelungen, innerhalb
der für sich beanspruchten Sphäre der Fiktion dem Lauf der Geschichte
eine andere entgegenzusetzen? Was man zu sehen bekommt ist eine andere
Variante von „Wer nicht hören will, muss fühlen“.
Auf beiden Seiten des Krieges stehen einander die gleichen Charaktere,
die das Unrecht mit Gewalt ausmerzen, mit der selben Brutalität,
der selben Folterlust, mit demselben Hass und Hohn, gegenüber. Eben
der gewohnte Verlauf der Geschichte.
IX. Was sich gehört
1928 dreht Papst den Film „Tagebuch einer Verlorenen“,
in dem die Schauspielerin Louise Brooks die Geschichte eines Mädchens
verkörpert, das vergewaltigt und in eine strenge Anstalt für
gefallene Mädchen gesteckt wird, in einem Edelbordell landet und
schließlich durch eine Vernunftehe geadelt wird. Auf Antrag der
preußischen Regierung wird dem Film mit der Begründung, es
handle sich um ein entsittlichendes, Volks- und Jugend gefährdendes
Werk, die Aufführungsgenehmigung wieder entzogen. Die „Arbeitsgemeinschaft
für Volksgesundheit und innere Mission“ bescheinigt in einem
ausführlichen Protokoll seine Entscheidung: Die entsittlichende Wirkung
gehe nicht von nur von einzelnen Passagen sondern von seiner gesamten
inneren Haltung aus. Die Kommission stellt ihre gegen das Werk gerichteten
Vorwürfe noch deutlicher in den dem Urteil beigelegten Szenen- und
Bildanalysen dar: „Durch die plumpe wie krasse [man höre und
staune, als gerade dieses Wort in den letzten Jahren zu einem Lieblingsausdruck
der Anti-Kultursprache der Jugendkultur wurde] Gegenüberstellung
der abstoßenden Bilder in der Erziehungsanstalt werden Verhältnisse
gezeigt, die wohl nur in der Fantasie der Hersteller existieren.“
Die sittliche Gefährdung ginge des weiteren besonders durch die Figur
„der gutmütigen, mütterlich sorgenden Bordellinhaberin
aus, die gegenüber der sadistischen Rohheit der Erzieher fast sympathisch
anmute.“ Entsittlichende Wirkung findet sich auch dort, wo die Engelmacherin
„unter Streicheln und mit freundlichen Blicken den Packen Geldscheine
lächelnd an sich nimmt [...] und der Empfang des Geldes gezeigt wird“.
Zwar ist Hitler als Maler und Zeichner an der Kunstakademie
nicht aufgenommen worden, aber offensichtlich wurde die Idee des Zeichnens
(Entwerfen, Vergrößern) hier in die Bereiche der Filmkunst
übertragen. Wie in der gesamten nationalsozialistischen Kunst zielt
auch hier der Entwurf auf die erzieherische Arbeit, den Blick des Betrachters
von der unsittlichen Empfindung auf die Höhe des gereinigten Ideals
zu lenken. Schmutz, Dreck und Schweinerei werden, wie in allen Anal-Kulturen,
einander entgegengesetzt, wobei, wie Robert Pfaller ausführlich beschreibt,
durch die Reaktionsbildung, das zwanghafte Zurückdrängen des
„Schmutzes“, in der Abwehr dennoch eine lustbetonte Beschäftigung
mit dem Inhalt des Verdrängten möglich wird. Anna Freud hebt
in ihrem Text „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ neben dem
Verdrängungsmechanismus der Reaktionsbildung auch noch die Mechanismen
der Rationalisierung, Isolierung, Verkehrung ins Gegenteil und den Mechanismus
der Außenprojektion hervor. Bei letzterem wird ein Außenstehender
zum Sündenbock gemacht, nach dem Motto „Ich selbst sündige
nie, aber der andere (der ‚Untermensch’ im Kontrast zum Über-Ich,
zum Ideal) schon.“ So wird die Mutter zur unbefleckten Heiligen
erklärt, während die Dirne, als Personifizierung des Schmutzes
angeprangert wird. Dass sich die Führungsspitze der Nationalsozialisten
bei ihrem Auftreten in Nachtlokalen in Paris gerne von „gefallenen
Mädchen“ begleiten ließ, ist mehrfach dokumentiert. Dafür
bedurfte es jedoch keiner Rechtfertigung, denn es waren keine deutschen
Mütter, sondern die „Vertreterinnen niedriger Rassen, die eine
solche Behandlung aufgrund ihrer Verabscheuungswürdigkeit nur verdienten“.
Wurde im Protokoll der preußischen Regierung noch von „Anreiz
zum Leichtsinn“ und von „Preisgabe und Verzicht auf Moral“
gesprochen, so galt dies selbstverständlich nicht für die Führungsspitze,
solange sie die nationalsozialistischen Propaganda-Ideale glaubwürdig
unter das Volk brachten. Daher galt es vor allem zu verhindern, dass das
Elternhaus „als sittlich vergiftete Atmosphäre“ dargestellt
wurde. Was das Preußische Protokoll betrifft, so sollte abschließend
die Aufmerksamkeit auf die Erwähnung jener „schändlichen
Szene“, in der dem Mädchen „für ihre Dienste ein
Patzen Geld ausgehändigt wird“ gerichtet werden. Fast scheint
es, als würde hier das sichtbare Geld selbst zum Obszönen erklärt
werden. Das Verbergen der Sichtbarkeit der realen Geldwirtschaft und den
damit verbundenen Interessen ist auch in unseren Tagen, wie es uns die
Finanzkrise gelehrt hat, im Interesse der Politik und Unterhaltungsindustrie.
Das im Nationalsozialismus angepriesene Ideal der reinen,
glücklichen, strebsamen Familie, die sich in den Mußestunden
nach fröhlich getanem Tagwerk in Würde und Gemütlichkeit
in einem ordentlichen und sauberen Haushalt zusammenfindet, um vereint,
froh und glücklich zu sein, kann man als bislang niemals erreichte
Utopie auffassen. Vielmehr ging es den Nationalsozialisten um die Familie
als menschliche Reproduktionsstätte, die dem Regime eine hohe Zahl
kampffähiger junger Männer bescheren sollte. Dafür war
man bereit, das menschliche Rohmaterial, die Söhne und Väter
aus ihrem so hoch gepriesenen Familienverband zu reißen. Und wir
wissen, es waren Tausende, die auf den Schlachtfeldern vergessen wurden.
Der den Müttern, den anständigen Frauen, zugewiesene Platz im
Haus und am Herd, wurde ausgeweitet, denn nun mussten auch die Frauen
und Mütter in die Waffen-und Munitionsfabriken, um dem „unvermeidbaren
Kampf“ zum Sieg zu verhelfen. Man rief: Arbeitsplätze; Arbeit
macht frei; und rettet die, die gar nichts haben, aus ihrer materiellen
Not. Da es, wie heute auch, so viele in wirtschaftlicher Not gab, war
die Begeisterung und Akzeptanz für das Hitler-Regiment als Job-Vermittlungsbörse,
Arbeitsplatzschaffer und „Retter aus der Not“ groß.
So ist es keine Überraschung, dass auch heute noch der wirtschaftliche
Niedergang mit dem Aufschwung des Rechtspopulismus eng verbunden ist.
Dies gilt jedoch nur, solange es gelingt, die Eigenverantwortlichkeit
des Einzelnen nur auf die Konsumsphäre zu projizieren, während
man in den Bereichen der realen Arbeit die Kontrolle und unmündige
Abhängigkeit zum Maßstab unvermeidbarer Arbeitsmoral macht.
Was früher zum Verhängnis des Gretchens im Faust wurde, das
„und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“, gilt heute
weniger für die Sexualität als vielmehr für den Arbeitsmarkt.
Dass der Familie als soziale, emotionale und wirtschaftliche Einheit auch
in den westlichen Demokratien unserer Zeit die wesentliche staatstragende
Funktion zukommt, ist in einem System der Rechtsstaatlichkeit selbstverständlich
und per se nicht in Frage zu stellen, obgleich sie durch den Prozess der
Entsubjektivierung des Einzelnen zugunsten der Massenkonsumgesellschaft
und der zunehmenden Verlagerung des Privaten in die Kommunikationssphäre
des öffentlichen Raumes als Institution geschwächt worden ist.
Dies kann anhand der niedrigen Geburtenrate, der ständig wachsenden
Zahl der als Single Lebenden, der immer größeren Zahl an Patchwork-Familien
leicht verdeutlicht werden.
X. Kompetenzen
Robert Pfaller bedauert in seinen Ausführungen zur
Gegenwartskultur („Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft“),
dass in der bi-polaren Logik – im Unterschied zur Hegelschen Begriffsbildung,
in der der Begriff als geschichtlich zu denkender Prozess verstanden wird,
und nur jeweils im Augenblick zu sich kommen kann – dass die Akteure
der Reality-Shows keine Vorbildmodelle liefern können, verglichen
mit den Vorbildmodellen am Anfang des Hollywoodkinos. Auch sei der Umgang
mit diesen Charakteren repressiv geregelt, in dem Sinne, als die Vorzeigemodelle
in für die Normen der Leistungsgesellschaft nicht erstrebenswerten
Positionen am Rande der Gesellschaft sich zwar privat präsentieren
können, aber niemals als Weltbürger frei und persönlich
ihre Meinung vertreten können. Dies ist ein schöner, aber auch
sehr idealistischer Gedanke. Anzunehmen, dass ein Harz IV-Empfänger,
wenn man ihn nur ließe, mit dem Selbstbewusstsein eines Philosophen
und mit der Sprachfülle eines Literaten als stellungbeziehender Weltbürger
vor die Weltöffentlichkeit treten und sagen könnte, „was
Sache ist“, darf wohl nur als Bildungsutopie aufgefasst werden.
In den bildungspolitischen Zielen der westlichen Industrienationen geht
es meistens um wirtschaftliche, narzisstische Ziele: Um die Effizienzsteigerung
um jeden Preis, und damit verbunden um die Ausbildung in einem eindimensionalen
Punktesystem, in dem nur jener Lernende Aussicht auf Erfolg und Mehrwert
hat, der den höchsten Punktestand erzielt. Der Hirrnforscher und
Psychiater Manfred Spitzer sieht darin das Hauptproblem für die Zukunft.
In Lernmodellen, in denen es nur noch um die sportliche Akrobatik des
Merkens, aber nicht mehr ums Begreifen geht, liegen die größten
Gefahren für die intellektullellen Fähigkeiten, und an die ist
Bildung immer gebunden. Heute schon stünden der nächsten Generation
viel weniger Möglichkeiten geistig kreativ zu werden zur Verfügung.
Spitzer führt in diesem Zusammenhang aus, dass durch die Zielgerade
unseres Punktesystems beim Lernen hermeneutische Vergleichsbildungen,
innovative, im ursprünglichen Sinn kreative Denkleistungen gar nicht
mehr möglich sind und gerade diese wären für den Fortbestand
der kollektiven Kulturleistungen notwendig. Da die Merkfähigkeit
meist im Gegensatz zur emotionalen und kommunikativen Kompetenz steht,
können neben der emotionalen Lernfähigkeit, die immer auch an
ein sinnliches Begreifen gebunden ist, auch die emotionalen und sozialen
Fähigkeiten derart verkümmern, dass aus den zukünftigen
Arbeitnehmern funktionierende, gefühlslose und leicht programmierbare
Roboter werden, wie wir sie in den Filmen „Man in Black“ und
„Matrix“ schon vorgeführt bekommen haben. Die Hirnforschung,
so Spitzer, hat gezeigt, dass emotionales Lernen sich in den Lernstrukturen
des Gehirns tiefer vernetzt, als der rationale Informationsfluss. Dass
heißt, einem Schüler, der sich am Computer oder an der Spielkonsole
im Sinne der Unterhaltungsindustrie abreagiert, werden sich die Gefühlswelten,
die er hier lernt, tiefer im Gehirn einprägen, als die Fakten des
rationalisierten Informationsflusses des schulischen Betriebes. Fast könnte
man sagen, dass die nachfolgenden, weil affektiv stärkeren Bilder,
die vorangegangenen löschen. Wo können wir ihn also finden,
diesen Weltbürger, diesen Saurier der abendländischen Kultur,
der mit dem geistigen Temperatursturz der Gegenwart ganz entspannt zurecht
kommt? Wo ist jener Weltbürger, der das Schöne liebt, das Gute
empfindet und die Freiheit denkt, und für den Sloterdijk in bezug
auf die Massengesellschaft behauptet: „Jeder ist wie der andere
und keiner ist er selbst.“
Die deutschen Privatsender, die auf der Effizienzkurve
der amerikanischen Programmschiene dahinfahren, oder diese im Rahmen ihrer
Möglichkeiten kopieren wollen, versuchen uns mit einer Mogelpackung
Wirklichkeit zu verfkaufen. Was aussieht, als wäre man zufällig
irgendwo am nackten Leben von „nobodies“ vorbeigekommen, sind
natürlich einem Drehbuch nach geschriebene Scripts, in denen die
Akteure sich selbst pointiert nacherzählen müssen oder gelegentlich
von Statisten, die „reale Menschen“ spielen, nachempfunden
werden. Der von der Prüfungskommission Pabst im Zusammenhang mit
„Tagebuch einer Verloren“ gemachte Vorwurf, den gefallenen
Mädchen – im Unterschied zu den gefallenen Soldaten –
keinen Weg zurück in die sittlich orientierte bürgerliche Gemeinschaft
zu ermöglichen, kann wohl für diese Sendeformate nicht gelten.
Hier werden Probleme gelöst. Alles läuft auf ein in der Wirklichkeit
unwahrscheinliches Happy-End zu: Der Arbeitsverweigerer ohne Hauptschulabschluss
findet wieder Erwarten einen Job, dank der Anwesenheit des Kamerateams
und vielleicht auch nur für den Zeitabschnitt der Drehdauer in Echtzeit.
Ein Fünfzehnjähriger, der sowohl durch Drogendelikte als auch
durch kleinere Gewaltdelikte auffällig geworden ist, fürchtet
sich nicht bei dem Gedanken, in die Jugendstrafanstalt gehen zu müssen:
schlimmer als draußen kann es drinnen nicht sein. Ein einziger Schnupperkurs
in die Strafanstalt, im Beisein des Fernsehteams, macht aus ihm einen
neuen Menschen: drinnen ist es noch schlimmer. Und allein dieser Einsicht
verdankt es die Gesellschaft, dass der Jugendliche nicht mehr straffällig
werden wird, stattdessen bereit ist, sich einzugliedern.
XI. Das Spiel und die Spielverderber
In den Reality-Serien, die sich mit Familien im Brennpunkt
oder unter Verdacht beschäftigen, wird, was die Wirklichkeit des
Schicksal der Betroffenen betrifft, gelogen, wie es die Story abverlangt.
Nicht nur, dass diese von den Drehbuchspezialisten immer auf die gleiche
Weise auf den Punkt gebracht wird, sie scheinen den Stoff auch Stereotypen
nach zu dramatisieren. In monotoner Schriftsprache, ausgenommen die Sprache
der bösen Protagonisten – SäuferInnen, Furien, GewalttäterInnen
oder Kids, die ihre Mütter Schlampe nennen – wird von den Statisten
das Auswendiggelernte aufgesagt. Wie gut geölte Kandidaten bei DSDS
oder wie Supermodels sprechen sie in die Kamera und betreiben dabei Selbstreflexion.
Sie erklären, wieso sie sich in der und der Situation so verhalten
hätten, wieso sie zu Recht ihre/n GegenspielerIn so sehr hassen und
schwören: „Dich mach ich fertig!“ Wenn eine Mutter als
Gutmensch in einer solchen Reality-Show spontan und frei heraus sagt:
„Dass die sich bei mir entschuldigen musste, das war mein innerer
Reichsparteitag.“, fragt man, was der TV-Sender hiermit zu inszenieren
gedenke. Was die Triebkonflikte betrifft, so steuern viele Folgen thematisch
knapp am Inzest vorbei, in mehreren Familien verfallen sich die Stiefgeschwister
auch körperlich, und es sind die Eltern, die um mehr Toleranz für
die Leidenschaften ihrer Kinder bitten. Sind wir damit wirklich weit entfernt
von den Sittlichkeitsstandards der Nazi-Kultur? Vielleicht haben wir sie
nur ins Gegenteil verkehrt. Auch das bezeichnet Freud als Abwehrmechanismus:
wenn ein affektiv besetzter Inhalt in sein Gegenteil verkehrt wird. Auch
im Pabst Film „Geheimnisse einer Seele“ gibt es die Bilder
des Missbrauchs mit kleinen Mädchen. Es sind Traumbilder, Bilder
finsterer Zeiten, aber warum ist jetzt so viel die Rede davon? Überfalltäter
auf Tankstellen, Töchter im Bordell, Stiefväter, Hausfrauen
und Kosmetikerinnen – Täter und Opfer: Sie spielen ein Selbst,
das sie nicht sind. Sie sprechen im gleichen Sprachrythmus, in derselben
Sprachstuktur. Wenn in der Auswanderer-Sendung “Raus aus Deutschland“
die Absicht der Auswanderer mit „raus aus dem Dreck Deutschlands“
formuliert wird, stellt sich die Frage, handelt es sich um den Dreck der
Gosse oder den Dreck der Auswanderer, ist das derselbe Stein des Anstosses?
Und hilft wirklich ein einziger Reiniger gegen universalen Schmutz? Mit
dem Übermenschen hat es angefangen, und mit dem „Weißen
Riesen“ geht der Wirtschaftsfaschismus, die Analfixierung einer
narzisstischen Kultur, wie sie Robert Pfaller dahingehend formuliert,
jetzt weiter? Er hält fest, eine solche Kultur erzeuge gegenwärtig
Scharen von Spielverderbern und Nasenbohrern auf allen Ebenen. Sie stachele
die Individuen zur permanenten Rebellion gegen die Kultur der Sublimierung
auf und bringe sie dadurch um die Ressourcen ihrer Freiheit wie auch ihres
Glückes. Sie schreiten in der Folge mit einer eigenartigen Verbindung
aus vermeintlich guten, hygienischen Vernunftgründen einerseits und
grenzenloser, rabiater Gewaltsamkeit andererseits zu deren Entfernung
aus der Welt.
In der Nachrichtenwelt angelangt haben wir es ebenfalls
mit hygienischen Vernunftgründen zu tun. Wir sollen uns die Informationen
merken, diese aber nicht empfinden. So bleibt es im vagen Bereich des
ausgesperrten Unaussprechbaren, dass in der realen Welt, im Befehlsystem
der erlaubten und unerlaubten Empfindungen es kein Thema sein kann, wie
auf der Plattform der Nachrichtenwelt mit gefühlsentleerten, abgespaltenen,
rationalisierten und vom Sinnzusammenhang eines größeren Symbolsystems
aus mit isolierten Begebenheiten, die als Fakten definiert werden, umgegangen
wird. Wir werden durch die Nachrichten kurz und bündig darüber
informiert, dass in Schweden die Kaninchenplage in und rund um die Städte
durch das Verheizen der massenhaft erlegten Tiere in Fernwärme-Öfen
gelöst wird. Natürlich gibt es im TV auch die lieben Tiersendungen,
in denen die Tier-Besitzer ihre kleinen Lieblinge mehr lieben als alles
andere. Und dann, ein schweres Erdbeben. Und dann, die Wettervorhersage,
der wohl einzige Emotionalkörper des Fernsehens. Auf jeden Regen
folgt Sonnenschein, die Zukunft wird rosig, die Wirtschaft erholt sich,
wenn uns hinter dem Tief Erwin, das Hoch Birgit erreicht, können
wir in dem Gefühl „Alles wird gut, Sicherheit ist garantiert“
den Tag genießen. Dieser Aufschwung und Abschwung der Wetterlage
scheint uns mehr zu bewegen als zum Beispiel das Weihnachts- und Osterfest,
das ja lange schon keinen Sinn mehr ergibt. Für die einen ist es
eine zu wiederholende rituale Floskel, für die Materialisten und
Atheisten ist es die Lust, den Kaufrausch von Weihnachten bis Ostern verlängern
zu können. Man malt den von der Werbung vorgezeichneten Glücksgegenstand
bis in die Träume hinein nach und aus. Das Begehren danach ist sogar
manchmal so groß, dass wir schon fast vergessen, was wir so sehr
begehren und warum gerade dieses Produkt für uns beinahe schon „erlösend“
erscheint. Aufschwung, Abschwung, Tiefdruck, Hochdruck, Zerstörung
und Wiederaufbau, Rettung oder Untergang: Immer wieder treten diese widersprüchlichen
Tendenzen der Kultur in unser Bewusstsein als Überfülle und
Auswegslosigkeit, als unauslöschbare Erfahrung ein. Neben vielen
anderen Bildsystemen, die ebenfalls das alleinige Sorgerecht für
das eigene Selbst einfordern.
XII. Die Kultur erinnert sich
Das amerikanische Kino hat die Wende zum Zuschauer, als
das Subjekt seines Bewußtseins, nicht mitgemacht. Aus dem Sammelsurium
der großen Gefühlszustände, verwoben mit der abendländischen
Kunst- und vor allem Geistesgeschichte, wurden Gefühlsmodelle, die
sich wie die abgespaltenen, verdrängten Gefühlsregungen der
psychoanalytischen Studien in Gattungen unterbringen ließen: der
Action-Film, die Gauner- und Crime-Schiene, der Film für Teenagergefühle,
der Film für die Unterdrückten, Filme, in denen Menschen ihre
Krankheiten überwinden, Liebesfilme, Mystery-Filme, Utopische Filme,
Heroische Filme, Non-Sense Filme, pornografische Filme und nicht zu vergessen
gelegentlich auch einen künstlerisch wertvollen Film, der von Festival-Juries
preisgekrönt wird. Lange Zeit galt dies als eine Möglichkeit,
Kunstfilme vor der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Ein Preis für
kulturelles Schaffen in einer Kultur, die sich selbst nicht mehr versteht,
und von der seit dem Einstieg in das Internet auch kein großer Anreiz
mehr ausgeht. Ein paar berühmte Gemälde ist der Durchschnittsbetrachter
bereit, sich zu merken: die Mona Lisa, das letzte Abendmahl, vor allem,
weil es so eng mit der Filmgeschichte des „Da Vinci Code“
verbunden ist, Picasso, der in den Augen von vielen nur einer ist, was
viele auch könnten, nämlich etwas auf die Leinwand schmieren,
das jeglicher Schönheit entbehrt.
Wir wissen, es ist nicht das einzelne Filmbild im Kino,
sondern die montierte Bildfolge, die das Erleben des Betrachters beeinflusst.
Ein neutrales Gesicht zwischen zwei lachenden Gesichtern sieht fröhlicher
aus, als wenn wir dasselbe im Umfeld trauriger Gesichter betrachten. Es
ist also das Vorher und das Nachher solcher Bildwelten, die festlegen,
wohin die emotionalen Höhepunkte des Filmes letzten Endes führen.
Es ist die radikal sinnliche Kameraführung, die Pabst in „Geheimnisse
der Seele“ als Kampf der Rationalität gegen den Ansturm zurückgedrängter
archaischer Gefühlszustände erscheinen läßt. Ein
Kampf, der wie Freud behauptet, noch lange nicht gewonnen ist, denn der
Preis der gewonnenen Zivilistion ist das Unbehagen in der Kultur, das
Unbehagen über die Unüberwindbarkeit der Tag- und Nachtwelten:
Auf der einen Seite das scheinbar von kalter Rationalität unter Kontrolle
gebrachte Geld und Warensystem, auf der anderen Seite das Ausgesperrte,
Zurückgedrängte, welches zur Abschreckung des Feindes zentral
auf sein archaisch aufgeladenes und ebenso zurückgedrängtes
Animalisches zielt: Im Kampf des Menschen mit den Naturgeewalten, im Kampf
um den Klimawandel, in der unsere Spezies, höchstgradig vernetzt,
sich weigern will, die Klimakatastrophe pragmatisch ernst zu nehmen oder
daran zu denken, das alles beim Fenster Hinausgeworfene sich mit brachialer
Gewalt durch die Hintertüre zurückdrängt. Gleichzeitig
folgt man den kollektiven und subjektiven Zwängen der „leadingcharacters“,
die sich wöchentlich, Tag für Tag in den Crime-Serien dem Höhepunkt
der impliziten Perversion annähern. Es sind die Anfangsszenen, die
das Süppchen schmackhaft machen. Die brutal zur Schau gestellte Gewalt
der kriminellen Tat, der Missbrauch, die Verstümmelung und Folter
machen diese Programme für viele so sehenswert. Und natürlich
auch die große Orwell’sche Minute der Werbeindustrie, das
Wecken der Begierde in Echtzheit: Der einbrechende wirre Strom des Unterbewusstseins,
die Traumwelten, das Surreale, das in einem kurzen Spot abgespaltene Gefühlsmaterial,
das die Vernetzungen aller Gehirnströme umfasst. Alles Gesehene,
alles Gehörte und Gefühlte, alles Gefilmte, Fotografierte, Gemalte,
Phantasierte, die Religionsbilder, die Sportbilder und Nahrungsmittelbilder
sind im Gehirn wie die Daten auf den Computerfestplatten vernetzt und
kommen mit der Kraft des Stroms des Jung’schen kollektiven Unbewussten
auf uns zu, in Echtzeit. Auch als Erinnerungsarbeit in Echtzeit, als Erinnerungsversuche
an Zeiten der Marie Antoinette, an Kulturen, die uns den Weltuntergang
für 2010 vorausgesagt haben. Der Niedergang und die Auslöschung
sprichwörtlicher Hochkulturen durch Naturkatastrophen und Kriege
irritieren immer noch: Die große Bibliothek von Alexandria, oder
auch nur der Turm von Babel, der wohl nicht aussah, wie ihn das berühmte
Gemälde von Bruegel darstellt. Die Albträume des Nachtmenschen,
die Wunschträumen des Tagmenschen erscheinen als logische Konsequenz
der Gelassenheit der CSI-Helden, die mit künstlichem Pathos und übermenschlicher
Gelassenheit im Namen von Gerechtigkeit und Ehre die Bildfläche betreten
und sich dabei sehr leise und höflich verhalten. Mit archaischen
Bildern die Schuld- und Rachegefühle wie auch verbotene Begierden
wecken, bringt wie bei Pabst soviel Abgespaltenes zurück auf unsere
Bewusstseins-Bildfläche, dass wir zumindest für eine Weile den
Bildern nachgeben, tiefer in uns selbst hineingehen als wir es uns zugetraut
hätten. Das Verbotene, das Entsetzliche, der reale Clash verschiedener
Weltwahrnehmungsformen, virtuell oder real, kann heute kaum noch unterschieden
werden und muss auch nicht unterschieden werden, denkt man an „Second
Life“. Je mehr wir in unserem Internet-Zeitalter über uns und
den größeren Freundeskreis zu erfahren glauben, desto weniger
spielt es eine Rolle, wenn wir in unsere tieferen Schichten der Wahrnehmung
vordringen möchten. Und im Kino beginnt der Prozess der Zurückdrängung
individueller Filmsprachen zugunsten einer alles durchdringernden Verkaufssprache
auch nicht erst heute.
XIII. Wertvolle Zeiten
Der Philosoph des deutschen Idealismus, Hegel, legte das
Selbstbewußtsein als Prozess dar, welcher uns durch Geschichte und
damit verbunden durch die verschiedensten Epochen des Geistes und der
Herrschaft geführt hat. Mit dem Verlust des Werte-Kodex der abendländischen
Kultur aber kommt kein Subjekt mehr zustande, das im Hegel’schen
Sinne selbstbewusst ist. Die Unterspülung des Sinnzusammenhanges
der abendländischen Kulturgeschichte wurde eingeleitet, als zum ersten
Mal erlaubt wurde, den Sinnzusammenhang, den Fluss der Filmsprache im
Fernsehen durch Werbefilm-Einschaltungen zu unterbrechen. Auch der Werbefilm
ist ein Film, aber mit einer genau kalkulierten Bild- und Wortsprache
bis hin zur allgemeinen Sprachinflation, die die ursprünglichen Bedeutungen
der Sprache bedeutungslos macht und damit die in schriftlichen Werken
geübte Sprachpräzision zum Unfugregister der Alltagssprache
macht. Wurden in früheren Gesellschaften die Dichter und Philosophen
gleichsam wie Schauspieler und Sänger vom Publikum verehrt, so bedarf
es heute ganz anderer Berufsgruppen, die bewundert und verehrt werden
wollen, wie einst die Kulturschaffernden ihrer Zeit: die Azubis, die sich
für einen Job bewerben, die Gilde der Top-Friseure, die Designer
der Nagelstudios, die Praktikanten. Sie sind die neuen Superstars unserer
Kultur und sind solange in, wie sie in den Medien gesichtet werden. Dies
ist die Stunde des großen Glücks für sogenannte kleine
Leute, die Stunde der Hochzeitsplaner, der Restaurant-Kritiker, der Super-Nannies,
Schuldenberater, die Stunde der Personal-Trainer, der Feuerwehrmänner,
die Stunde der Nackten und die Stunde der Toten. In ihren Vermarktungskonzepten
setzen die Verantwortlichen nicht mehr auf den Einzelnen, mit dem man
sich gerne identifiziert, sondern die Supertalente, die Kochprofis, die
Prostituierten und Gewalttäter treten als Masse auf: Wir sind Viele.
So stehen in manchen Werbeeinschaltungen immer alle Repräsentanten
einer Zunft gemeinsam vor der Kamera, als wären sie gewerkschaftlich
organisiert und als Ganzes, als Viele zu allem berechtigt. Dass die Realität
anders aussieht, wird an den Arbeitslosenzahlen und der Finanzkrise sichtbar,
die zu wenig Einsicht geführt hat. Dieses in der Masse aufgehoben
sein, unter vielen zu sein, als Masse zu kämpfen ist nicht nur ein
Kennzeichen unserer Zeit. Es bildet die Grundlage des sogenannten Wirtschaftfaschismus,
der Entmündigung des Einzelnen zugunsten des Gruppenerfolgs. Wenn
Kultur eine zweckfreie Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Menschseins
bedeutet, sowohl philosophisch wie künstlerisch, wie religiös,
so ist die neue Zeit der Unterhaltung für die Massen zur tragenden
Leitkultur gedworden. Boxen, Ungeziefer essen, als eine von Vielen bei
einem Model-Casting nackt durch das Kaufhaus rennen sind nur einige Beispiele
dessen, was in unseren Tagen als kulturelle Glanzleistung aufgefasst wird,
vor allem seit das Publikum aufgerufen ist mitzumachen: Jetzt kann es
sich selbst präsentieren und wer im Fernsehen gut ankommt, braucht
keine Schulbildung, denn es braucht das Spektakel. Mitunter interessieren
einstige Kultfilme wie „Ben Hur“ nur noch als Show, die der
Schlacht im alten Rom entspricht und mit Pferdestärken, zerberstenden
Fahrzeugen, blutig Überrollten und der Macht des Publikums ein reales
Vergnügen zaubert.
Auch die sozialen Netzwerke von Facebook bis Twitter setzen
auf Selbst-Präsentation und Vergnügen und damit auf eine Umstrukturierung
des Star-Fan-Gefälles. Trat in den frühen Jahren des Gefühlskinos
der Fan nach dem Erlebnis, das ihm sein Star auf der Leinwand bereitet
hat, in die anonyme kleine Realität seines im Vergleich bedeutungslosen
Lebens, so wird er durch die Netzwerkbetreiber aus der Passivität
des Zuschauers in die Aktivität des Mitmachers gehoben. Jeder hat
das Zeug zum Star, jeder kann überall mitmachen, jeder kann groß
werden. Zwar darf sich der User in den Netzwerken geben wie er möchte,
das Publikm aber darf es dem römischen Kaiser gleich tun und den
Daumen zustimmend oder ablehnend einsetzen. Und jeder hat die Möglichkeit,
Ausgesagtes und Vorgeführtes zu kommentieren. Nebenbei werden wir
mittels Bannern mit der Ekstase der Bekleidungsindustrie, der Kosemtik-Industrie
gezielt angepeilt, denn es geht um Besitz von Konsumgütern, Immobilien,
Schönheit, das heißt alles worauf sich oberflächlich das
Selbstbewußtsein bezieht, ist was – vor allem die VIPs –
oberflächlich betrachtet zu Siegern macht. Es geht neben dem veräußerten
Besitz an Nacktheit auch um den Besitz von Preisen, denn dieser Besitz
ist der Garant der Verkaufbarkeit. Und es geht um die Event-Kultur als
Massenkultur. Massenparties auf denen die Menge derer, die kommen, zählt.
Die scheinbar Freien, die Handlungsfähigen fühlen sich wohl,
denn hier sind sie selbst Akteure. Was wahr ist, entscheidet die Menge,
die sich zu dieser Wahrheit bekennt. Aber wird eine Lüge dadurch
zur Wahrheit, dass viele die Lüge als Wahrheit bestätigen? Das
Internet bietet die Möglichkeit, den Durchblick auf die Welt zu haben
und den scheinbar handelnden Subjekten den Anspruch auf eine umfassende
Weltsicht und deren Ausfomulierung durch Worte oder Bilder zu gewährleisten.
XIV. Von denen sonst keiner spricht
Der europäische Film zwischen den 1950-er und 70-er
Jahren vertraut seinen Weltdeutern rational wie emotional: Das Drama der
Handelnden entspricht seinem eigenen Drama und motiviert mitunter zu surrealistischen
und expressiven Ausdrucksformen. Der Betrachter, der nicht mehr von Angst
und Schrecken des einfahrenden Zuges der Brüder Lumière ergriffen
ist, erkennt, dass es Blickwinkel gibt, die sein inneres Weltbild, das
Herz seines Seins so aufrütteln kann, dass er Neues über sein
inneres Leben, seine Gefühle und Leidenschaften und daraus resultierend
über seine sozialen Siege und Niederlagen erkennt. Bis in die 1970-er
Jahre hallt dieses Glücksgefühl – nebst formaler Aspekte
– in dem von den Filmverleihern verliehenen Prädikat „Künstlerisch
Wertvoll“ nach. Einen künstlerisch wertvollen Film zu machen,
war damals noch ein zentrales, dem Bildungsbegriff entsprechendes Anliegen.
In gewisser Weise wird den gefilmten Welten zusätzlich eine Tiefe
der Bedeutung zugesprochen, die über den Materialwert des Gefilmten
hinausgeht. Dem Slogan „Arbeit macht frei“ der totalitären
Regime wird ein trotziges „Und es bleibe dabei, die Gedanken sind
frei“ entgegengesetzt. Jeder Zeit ihre Kunst, und der Kunst ihre
Freiheit, während aus der anderen Ecke der Kulturschauplätze
noch der Rauch und die Asche der verbrannten Bilder und Bücher weht,
aber durch Sex, Drugs and Rock’n Roll und den Boom der bewußtseinsanalytischen
Schulen eine ganze Generation gegen die politischen Erfahrungen und Wertesysteme
der Elterngeneration auftritt. Aber auch die Bedeutung von Prädikaten
ändert sich mit der Zeit, wenn vor allem durch das kommerzielle Kino
menschliche Werte im traditionellen Sinn und politisch-kulturelles Aufbegehren
wertlos geworden sind. Dagegen lässt sich aus dem „Baader Meinhof
Komplex“ ein schmackhaftes Stück Ware schnüren, das leicht
und ohne Bedeutung daherkommt und ebenso leicht und ohne kritische Konsequenzen
an den Zuseher zu bringen ist. Einzige Ausnahme bildet die Entwicklung
des Dokumentarfilms der letzten Jahre hin zur Aufdeckung und Aufklärung.
Wäre da nicht, pfiffig wie Michael Moore, der Wett-Skandal
des europäischen Fußballs um die Ecke gekommen, wir hätten
nicht einen Gedanken des Zweifels an der Ehrlichkeit der Welt gehabt.
Nur wurde der Skandal in den Medien keineswegs so gründlich thematisiert
wird, wie die Trauer um den dahingegangenen Torwart. Was die reale Trauerfeier
um den Torwart auf die extra dafür aufgebauten CinemaScope Leinwände
vor dem Friedhof in Echtzeit ans Tageslicht brachten, war eine Trauerreaktion
im Sinne des Superlativs. Aber wie auch im Bestattungsspektakel rund um
das Idol Michael Jackson geht im Leben alles vorüber, auch die Superlative
der großen Emotionen, die nun von den kleineren Sendeformaten genüßlich
weitererzählt werden: Was den Kleinen an Format fehlt, machen sie
durch das zwanghafte Wiederholen des Gefühlserlebnisses zu ihrem
Gewinn. Es wird langsamer, länger und detailreicher getrauert, die
Schuld- und Sühne-Frage immer und immer wieder gestellt. Als hätte
der erste Todesfall der Menschheit in Gestalt der Soap-Figur die Welt
erschüttert, wird hier mit deutscher Gründlichkeit beim Schildern
des Familiensschmerzes auf BILD-Zeitungsniveau weitergemacht: abend für
abend dieselbe Leier, immerhin kommt sich das Publikum nicht wie beim
Fußball-Bestechungsskandal oder anderen skandalösen Details
um die Wirtschaftskriminalität im Bankenskandal betrogen vor.
Wertvoll können heute jene Filme bezeichnet werden, die sich tatsächlich
auf die in der Grundverfassung niedergelegten Werte und Grundrechte des
Menschen, das der Pressefreiheit oder das der Freiheit der Kunst, besinnen,
aber auch rückbesinnen auf die Wertvorstellungen und Bildfreiheiten
des sogenannten Europäischen Kinos, das immer auch stolz darauf war,
ein politisches Kino zu sein. Erinnern wir uns an den italienischen Neorealismus,
entstanden als Selbstbehauptungsakt des Sujekts nach dem Zweiten Weltkrieg.
Während im Norden Italiens noch die deutschen Truppen, im Süden
noch die Truppen Mussolinis stationiert waren, bäumten sich die führenden
Regisseure Fellini, Antonioni, Pasolini und andere gegen die Propagandamaschinerie,
gegen das Verschwinden des Einzelnen im politisch Allgemeinen auf. Hier
kommen die ins Bild, von denen sonst keiner spricht: Die aus den Städten
der Wohlhabenden in die Peripherie des Elends, in die Ghetto-Siedlungen
zurückgedrängten Armen, Entrechteten, die Huren und Gaukler,
die Taschendiebe, die verkrüppelten Kriegsheimkehrer und Tagelöhner,
die Verwerflichen und die Verworfenen.
Michel Moore, der zwar mit seinen Filmen auf den Festivals gezeigt wird,
ob aber seiner mangelnden filmischen Auseinandersetzungen und Erneuerungen
kritisiert wird, erinnert zumindest ohne Vorbehalte auch an die Sprache
derer, die die Krise zu verantworten hätten. Vielen des Publikums
erscheint Moore als Künstlerfigur, der als Aufhetzer nur sich selbst
wichtig machen möchte oder dass das in Ansätzen verdächtig
wirkende Phänomen Moore oberflächlich und seicht wie ein B-Picture
sei. Dass ein Einzelner sich anzumaßen wagt, die ganze Weltpolitik
als Lüge zu entlarven, kann nur als fragwürdiger Genie-Anspruch
und Größenwahn eingestuft werden. In einer Branche, die keine
Genies, sondern Bewusstsein in Konfektionsgrößen benötigt,
urteilen die Kritiker und machen mit ihren Meinungen selbst Politik. Nicht,
dass die Probleme sonst tot geschwiegen werden, es gibt sie schon, die
neuralgischen Punkte, auf die immer wieder der Finger des Kinos gedrückt
wird. Im Film „American Gangster“ kämpft Russel Crow
aus einer schier aussichtslosen Position gegen den von Denzel Washington
dargestellten Mega-Drogenboss, dem jegliches moralisches Empfinden abhanden
gekommen und der der Geldgier und dem Machtrausch, über dem Kartell
zu stehen verfallen ist. In dieser Story siegt am Ende die Justiz und
wir lernen wieder, alles wird gut, wenn das Gute die richtige Spur findet.
Das sprichwörtliche Happy-End ist ein Sieg des Rechts über das
Verbrechen.
XV. Die Hoffnung und das Wunderbare
Ganz anders bei den Cohen Brüdern, die sich im Film
„No Countryfor Old Men“ die Unbezwingbarkeit des Verbrechens
durch Moral und Gesetz zum Thema machen. Hier werden dem Bösen, der
Gier und dem Töten keine Schranken gesetzt. Wie das Schicksal oder
der Teufel persönlich schreitet Anton ungebrochen durch sein Szenario
und tötet jeden, der ihm im Weg steht, ohne selbst in Gefahr zu geraten.
Und die Moral von der Geschichte: Das Unrecht ist durch Recht und Moral
nicht mehr unter Kontrolle zu bringen, die Welt der Guten ist verloren
und muss dem Antichristen übergeben werden. Über Werner Herzog
und seinen Film „Bad Lieutenant“ äußert sich Nicolas
Cage, Herzog sei kein moralischer Regisseur, er sei schonungsloser Realist
und kümmere sich nicht um die moralische Perspektive seiner Charaktere.
Herzog, der darauf besteht, ein Bayer und nicht Amerikaner oder Europäer
zu sein, hat er seine Filmsprache verraten wie kein anderer. Er, der seine
Personen in „Kaspar Hauser“ und in der Büchner Verfilmung
„Woyzeck“ in starren, statischen Szenarien zur Hochform der
Philosophie auflaufen lässt und in der Langsamkeit seiner Inszenierungen
auf seine unvergleichbare Authentizität und seinen visionären
Blick hinzuweisen versucht und Kaspar sagen lässt: „Es hat
mich geträumt.“ Aber seit Herzog sich durch seine Hauptdarsteller
im VIP-Bereich von Hollywoods wähnt, filmt er schnell, wild und ganz
im Stil von CSI. Immer hat Herzog sich als europäischer Regisseur
mit eigener Sprache sehen lassen wollen, nun ist er schnell wie ein Kommerzfilmer,
der nichts mehr zu sagen hat, außer: „Ich bin eigentlich ein
Bayer!“. Hingegen lässt uns Fellinis Statement, „Der
einzig wahre Visionär ist der Realist“, auf bessere Zeiten
des europäischen Kinos hoffen. Und es gibt sie, die Ausnahmen von
der Regel, die noch die Kraft zur eigenen Sprache haben, zumindest wollen
wir das hoffen, denn die Hoffnung stirbt zuletzt.
Nachdem Papst 1929 mit dem in der USA hergestellten Film „A modern
hero“ wenig Erfolg hat, plant er dort eine Filmrealisation der Romanvorlage
„Das Mirakel von Lourdes. Ein Mysterium“, das jedoch nicht
produziert wird. Aber 2009 von Jessica Hausner, die in Venedig für
ihren Film „Lourdes“ den Preis der Kritik erhielt. Hausner,
eine bekennende Atheistin, hat sich darangemacht, die entwürdigende
Geschäftemacherei mit der Hoffnung auf wundersame Heilung zu entlarven.
Doch was bleibt hinter dieser Larve, was erzählt uns der Film, was
tun die Charaktere tatsächlich und in welchen Bildkulissen und in
welcher Körpersprache wird hier ein Bild von der Welt gemalt? Eines
steht fest, wir haben es mit einem Volk in der Krise, mit bewegungsbehinderten
Menschen zu tun, mit Menschen, die nur auf irgendein Wunder hoffen können.
Die Atmosphäre des Films ist düster, höhnisch und von der
Kälte, die das Thema in den Augen der Regisseurin wahrscheinlich
verlangt: Die braunen Uniformen der staatlichen Helfer, die schicken Kopftrachten
der Malteserinnnen könnten in ihrer Adrettheit und Fröhlichkeit
gelegentlich auch den Eindruck aufkommen lassen, es handle sich um eine
Sitcom auf dem Feldlazarett. Die Atmosphäre ist ebenso bräunlich
idyllisch und vielleicht wollte die Künstlerin gar keinen Film über
ein Wunder und dessen spirituelle Voraussetzungen machen, sondern insgeheim
den Nationalsozialismus anprangern, indirekt und zynisch natürlich,
mit vielen braunen Uniformen unter einem bleiernen Himmel, in einer ebenso
bleiernen Stimmung. Jeder spricht ins Leere, keiner hat mit dem anderen
irgendetwas zu handeln, es herrscht der kalte Trotz des Zynismus, der
endlich dazu kommt, der Welt seinen Zerrspiegel vorzuhalten, mit einem
Filmverständnis, das den Fünfziger Jahren entstammen könnte.
Und da uns die Regisseurin, die als Atheistin über das Wunder aussagt,
keine wirkliche Klarheit verschafft, könnte man, wenn man tiefer
schaut, vielleicht auch zu der Ansicht kommen, worüber der Film vorgibt
zu erzählen, erzählt er gar nicht – im Grunde eine exakte
Analyse der nach außen projizierten Magersucht: Die Hauptperson
kann physisch nicht aufstehen, sie will alles, inklusive des möglichen
Wunders der Heilung ausspucken, nicht in sich aufnehmen, was von anderen
kommt. Und mit dem unbändigbaren Trotz einer Magersüchtigen
will sie lieber sitzen bleiben als aufstehen zu können – wozu
auch: Die ganze Welt da draußen ist ekelig wie eine schimmlige Semmel.
Und selbst als das Wunder sie, die Ungläubige heilt, will sie mit
dem Wunder nichts zu tun haben, da an gar nichts geglaubt wird, was wie
mit Infusionsflaschen serviert wird.
Dann der origiastische Befreiungsschlag der Protagonistin:
„Seht ihr, ihr könnt mich nicht retten, weil ich nicht zu retten
bin. Es tut mir wirklich leid, wenn ihr euch falsche Hoffnungen gemacht
habt. Ihr könnt mich nicht füttern und ihr könnt mich nicht
retten. Reingefallen!“ Auch der Main-Plot-Point, wo die Geheilte
mit dem Soldaten tanzt, der sie bewundert, weil sie durch den reinen Triumph
ihrer Willenskraft aufstehen konnte, ihn aber enttäuschen muss, bestätigt
die Annahme, dass hinter der Magersucht die Ablehnung der Weiblichkeit
steht. Nur nicht sexuell aussehen, nur keinen körperlichen Kontakt
mit dem Mann, denn das hieße abhängig sein, von jemandem, der
einen erotisch füttern will. Und daher gibt es kein Weitertanzen,
nur wieder das Rollstuhlsitzen. Sie hat sich selbst in den Augen des Tänzers
das genommen, wofür er sie bewunderte: Den starken Willen. Aber insgeheim
tanzt das Rumpelstilzchen aufgeregt und zynisch in der Welt umher –
und was sagt es? Das macht mir alles nichts, denn es freut mich, dass
ich in meinem Scheitern euch euren Glauben und eure Hoffnung genommen
habe. Manche hätten gerne auch den Film „Das Mirakel von Lourdes.
Ein Mysterium“ realisiert gesehen, wenn möglich, beide Filme
hintereinander.
XVI. Naturgewachsene Bilder
Um von Bildern fernab des Zynischen zu sprechen, so ist
der japanische Landschaftsmaler Hiroshige für seine äußerst
gekonnte Darstellung von Schnee, sowie die Übertragung eines fast
lyrischen Stils auf die Landschaft Japans berühmt. In seinem Holzschnitt
„Klarer Wintermorgen in Kameyama“ bietet sich dem Betrachter
folgendes Bildmotiv: Die Gegend ist im Schnee versunken. Der Himmel leuchtet
im Sonnenaufgang. Die Welt scheint ruhig und friedlich, der Schnee verschluckt
alle Laute, die die Gruppe auf ihrem Weg zum Gipfel vermutlich macht.
Die windzerzausten Kiefern in der Bildmitte strecken ihre Zweige nur in
eine Richtung. Auf dem Berggipfel liegt die Burg Kameyama, der Überraschungsort
für die Reisenden und gleichzeitig militärischer Stützpunkt.
Eigentlich war Hiroshige im Sommer an diesem Ort. Die Konzeption der Schneelandschaft
entsprang Hiroshiges „innerem Bild“, im Sinne der Moderne.
Mit der Konzeption der Schneelandschaft begibt sich Hiroshige von der
Wahrnehmung in die Fiktion, deren eigene Stimme er ist.
Auch in Michael Hanekes Film „Das weiße Band“sind
die wunderbaren Bilder einer von den Menschen unberührten Schneelandschaft
ein den Film tragendes Element. Die symbolische Implikation der Unschuld
des Anfangs im weißen Band, das von einer Gefühlssequenz zur
anderen seine Unschuld verliert, ist cineastisch gesehen vielleicht gar
nicht so tiefgehend, wie es das Bild der uneingeschränkten, in einer
protestantischen Welt noch und nur von Gott geschaffenen Landschaft in
selten gesehener Reinheit und Großzügigkeit denken lässt,
obgleich ein Hauch des kommenden Unheils, das noch keine Gestalt hat,
schon in der Luft zu liegen scheint. Hier wirkt das künstlerische
Bild als hochkulturelle Bedeutungsanalyse. Doch sollte man in Hinblick
auf die Wirkung eines nicht vergessen: In der Gegenwart, in der Echtzeit,
gibt es dieses Eingebettetsein des Menschen in eine unversehrte Natur
nicht mehr. Im Gegenteil – und nicht nur in Hinblick auf den Klimagipfel
– bleibt zu hoffen, dass diese Natur überhaupt noch eine Überlebenschance
hat. Diese Sehnsucht nach einer von uns verschmutzten Natur, macht Hanekes
Film so erfolgreich, er zeigt noch einmal im klaren Licht, was wir im
Begriffe sind, ein für allemal zu verlieren, und das erzeugt Sehnsucht
und Traurigkeit. Das archetypische Sehnen nach paradiesischen Zuständen,
im Unterschied zu einer „heilen Welt“, die sich immer eine
weiße Weste bewahrt, auch wenn sie innerlich geizig, gemein und
für die Beteiligten so eng wie eine Kerkerzelle ist. So wie in Horvaths
„Jugend ohne Gott“ im Zeitalter der Fische mit den kalten
Augen, einer den anderen mit einem Stein aus dem Weg räumt.
Realistisch betrachtet blickt Haneke zurück, um am Beispiel einer
noch naturgewachsenen protestantischen Dorfgemeinde, wo es Herren und
Knechte gibt und von den Männern versklavte und verstummte Frauen,
Kinder und irgendwie auch den Teufel, den sie in sich haben und austreiben
wollen. Auf der psychologischen Ebene eines Kammerspiels beschreibt er
grandios die Gewalt und die Not, die sich in den inneren Keimzellen, in
den Wohnungen der Charaktere abspielen. Und er hat recht: Auch Robert
Pfaller sieht im Befehlszwang einer rechts-populistischen Kultur eine
Reaktion auf eine historische Niederlage in der Analkultur geprägten
Gegenwart. Aus den Geschlagenen werden die Zuschläger von morgen,
so wie aus den Sadisten die Klone der Sadisten werden. Hanekes Film ist
ein fiktionaler Film auf hohem künstlerischem Niveau. Dennoch steht
die Frage im Raum, kann der Nationalsozialismus aus einem psychologischem
Blickwinkel, der noch keine Industrialierung, keine Massengesellschaft
kennt, gezeichnet werden? Ist das nicht, verbunden mit der Weite der Schneelandschaft
und der tiefen Kälte dort, eine sehr einseitige Perspektive? Kann
man das Rad der Industriegesellschaften einfach so in die kleinfamiliäre
Idylle zurückdrängen, um damit große Auswirkungen einer
jetzt ebenfalls Jahrzehnte vergangenen Zeit zu vermeiden, auch jetzt in
der Echzeit, in der wir bestürzt die Verrohung Europas und den Niedergang
hochkultureller Werte erleben, in der die politischen Verhältnisse
in Zusammenhang mit dem Banken-Fiasko wieder einmal außer Rand und
Band geraten, die anale Befehls- und Hygienekultur nur so hochschwappt
und in den Redaktionen der kostenlosen U-Bahn-Zeitungen die Hetze und
die Propaganda in einer Form von „Sprachschändung“ sich
verselbstständigt. Das Zwanghafte an Zwangscharakteren ist, dass
sie sich ständig wiederholen müssen, mit ihren kleinen persönlichen
Eigenheiten, ihren persönlichen Grausamkeiten und den damit verbundenen
kulturellen Konsequenzen. Pfallers Theorie der Reaktionsbildung könnte
man noch weiter denken: Was, wenn wir die emotional gelernten Daten als
etwas Verdrängtes, Verbotenes in uns tragen, und, so wie die Abwehr
des Schmutzes auch eine lustvolle Beschäftigung mit dem Verdrängten
garantiert, vielleicht doch wieder nationalsozialistisch empfinden, weil
es etwas Verbotenes, ein Grenzüberschreitung, eine Art Tabu darstellt,
so wie auch Bataille formuliert, das Verbot ist der Motor der Lust.
Strukturanalytisch gesehen weist Hanekes „Das weiße
Band“ große Parallelen zu Lars von Triers Fillm „Dogville“
auf. In beiden Erzählweisen gibt es einen Erzähler, der einen
fixen Standpunkt bezieht und damit für das ganze Handlungsgeschehen
festlegt, aus welchem Blickwinkel die Ereignisse zu sehen sein werden,
nämlich aus der in sicherer Distanz die Ereignisse schildernden Erzählperson.
Damit steht fest, dass es sich wohl eher um epische Schilderungen als
um das Miterleben von dramatisch aufgebauter Spannung gehen wird. Denn
wann immer die Emotionen im Zuschauer hochschwappen könnten, tritt
die Erzählstimme auf und beruhigt die Lage, sodass der wohltemperiert
in seinem Sessel sitzende Zuschauer gerne in einer hochkulturellen Bedeutungsvermutung
bleibt und sich selbst dieselbe Position erlaubt, die der Erzähler
eingenommen hat. Er bleibt sachlich, rational gegenüber den Ereignissen,
jenseits von Identifikation und Einfühlung. In beiden Filmen geht
es um „beleuchtete Szenen“, Szenen, die im fiktionalen Bereich
angesiedelt, den Schwerpunkt auf die Analyse lenken sollen. Man könnte
auch andere Szenen hervorheben, aber jenen Szenen verleiht der Regisseur
für das Verständnis des Sinnzusammenhanges die nötige „Beleuchtung“.
Sie sind sozusagen die Eckpfeiler in der Konstruktion des inneren Raumes.
Und das macht beide Filme auch zu sogenannten Kunstfilmen: Hochkulturkino
mit seelischer Empathie.
In Früchtls Sinn sind beide Filme aber auch so etwas
wie Western-Filme. In beiden geht es um ein Dorf, das von außen
gesehen friedlich und glücklich existiert, sich jedoch, wenn man
sich länger drinnen befindet, als teuflischer Ort mit protestantischer
Weltverzichtsatmosphäre entpuppt. In Lars von Triers Film reitet
die Heldin nachts in einer Limousine auf Dogville zu, in das sich sonst
nur selten solche Autos verirren. Erst als sie aussteigt erkennen wir
die Heldin der kommenden Ereignisse. Wir sehen sie, aber wir kennen sie
nicht, wir erfahren nichts von ihr. Ein großes Geheimnis scheint
ihr anzuhaften und königlich bewegt sie sich auf das Dorf zu, in
dessen Dorfgemeinschaft sie, wahrscheinlich um sich hier zu verstecken,
im Verlauf der immer grausamer werdenden Handlung von einer Station zur
anderen geführt wird, wie in einem Brecht’schen Lehrstück
der späten Jahre. Am Ende wird man die Heldin, deren Geheimnis nun
gelüftet ist, wieder in der Limousine links aus dem Bild verlassen
sehen. Im Unterschied zu Hanekes „Das weiße Band“ in
dem der Erzähler den Betrachter mit herrlichen Bildern zum Zeitsprung
in die Vergangenheit verführt, indem er ihn in eine fast mythologische
Natur hineinführt, lässt Lars von Trier seine Charaktere auf
einer jeglicher Natur im Bild beraubten Bretterbühne spielen. Das
Leben ist hart und von Verzicht, Neid und Hass geprägt: Hier wird
mehr als die Empfindungen der Einzelnen das soziale Klima der Gemeinschaft
beleuchtet. Die Personen sprechen, aber sie sprechen sich niemals aus.
Sie zeigen beim Handeln keinerlei Gefühlsbewegung in der Stimme,
sowie ein gewisser aussichtsloser monotoner Ton der Eintracht, die in
Wirklichkeit keine ist, sich langatmig von Stufe zu Stufe der Handlung
zieht. Hanekes Film lässt seine Akteure, was den Ausdruck ihrer eigenen
Seelenzustände betrifft, wie schon Ingmar Bergman in „Fanny
und Alexander“, sadistischen Regungen aussetzen. Im inneren Kerker
ihrer ohnmächtigen Sprachlosigkeit, aus Angst vor weiteren Misshandlungen
schweigen sie. Außer sich wie ein Opfer fühlen zu müssen,
tragen sie in alter Dienstbotenmanier nach außen keine Gefühle
zur Schau und fühlen innerlich vielleicht auch nicht viel mehr als
sie sagen. Sie haben sich auch in den schlimmsten Momenten aufs Atemanhalten
eingeschworen. Wie bei „Dogville“ nähert sich der Erzähler
dem Dorf, um das es gehen wird, durch die freie Natur in einer herrlichen
Kutsche fahrend, die Verlobte an seiner Seite erwartungsfroh. Fast könnte
dies auch der Beginn eines Heimatfilmes sein, aber was ist ein Western
anderes, als ein Heimatfilm. Die Heimat ist ja immer vom Standpunkt und
vom Winkel, mit dem man auf sie blickt, abhängig.
Auch in „Das weiße Band“ ist klar und
streng festgemacht, auf welchem Gefühlshöhepunkt sich die Episode
für den Betrachter, aus der Ecke des Erzählers, vielleicht auch
aus der Ecke des Voyeurs, anfühlen wird: Hier brechen keine Leidenschaften
aus, hier herrscht das unterdrückte Gefühl. Die Verklemmung
artet in Beklemmung aus, um dann eine kleine, feine aber sehr böse
und ein bisschen schmerzhafte Regung loszulassen. Alles unter Kontrolle,
selbst die Gemeinheit gibt sich kultiviert und der Ekel paart sich mit
der Erniedrigung, wenn er seine Opfer, die sich, erstarrt wie Geisteskranke,
auch nicht nur im Geringsten wehren. In dieser Erstarrungsdramaturgie
des Weißen Bandes geschieht das Gegenteil von dem, was, formalanalytisch
gesehen, in Pabsts Film geschieht. Pabst versucht den Innenraum der menschlichen
Träumerei zu öffnen, indem er rationale Bildabfolgen, Einstellungsgrößen,
Symbolverknüpfungen für das Auge so bewegt und überraschend
insziniert, dass, wie im Traum, das Unbewusste stärker in die Beschäftigung
mit den Geheimnissen der Seele einfließt. Dies gilt vor allem für
die berühmten Traumsequenzen. Pabsts Bewusstseinsarbeit ist vor allem
Bewegung, Verschiebung, ein bisschen schon DADA-Kunst, Täuschung
statt Optik, mehr Illusion, mehr Fragen als Antworten.
Bei Haneke hingegen werden die psychische Verfassung, die seelischen Nöte,
die Ohnmacht wie die Macht als böses Omen dargestellt, als das vom
Himmel gefallene Böse, als der ewige Makel der Menschheit. Es geht
um Schuld und Sühne im streng protestantischen, den Verzicht anbetenden
Sinn: Einst waren wir unschuldig aber inzwischen sind wir böse geworden.
Wenn Goethes Faust den Teufel als die Macht, „die Gutes will und
Böses schafft“ charakterisiert, dann ist das Dorf, in das der
Dorfschullehrer mit seiner Kutsche fährt, ein sehr teuflischer Ort.
Der Sado-Masochist der analen Zwangskultur unserer Tage spaltet seine
bösartigen Impulse von den sozialen Gefühlen ab, quält
eiskalt und ist dabei die Selbstbeherrschung in Person. So oder so, der
Deutungen gibt es viele, und im Unterschied zum traditionellen Western,
löst der Held die Probleme des Dorfes nicht. Manche verschwinden,
manche laufen davon, andere kommen ums Leben, ohne dass man weiß
warum. Dieses Geheimnis will Haneke nicht preisgeben. Das ist die Kutsche
des Regisseurs, die am Ende des Films das Dorf, in dem sich gar nichts
geändert hat, in dem es nur noch schlimmer werden kann, verlässt
und uns so der weißen unberührten Landschaft unserer Vermutung
überlässt.
XVII. Können wir uns wirklich freuen?
Es in Hinblick auf den Erfolg, heute wie damals, von Bedeutung,
welche Gefühle auf welchen Gesichtern in Großaufnahme sichtbar
werden. Ob nun auf Gesichtern von Menschen aus dem Volk, oder auf den
Gesichtern der Mächtigen, Hanekes Charaktere lassen sich nicht in
ihre Gefühlswelt hineinschauen, nach innen lassen sie sich nicht
unterkriegen. In der Öffentlichkeit jedoch bleiben sie ungerührt
und lassen sich unter keinen Umständen von diesem nicht benennbaren
Schrecken etwas anmerken. Wenn der künstlerische europäische
Film so hoch ansetzt, worauf will er hinaus? Hat er eine Vision vor Augen
oder besinnt er sich im Unterschied zur Peitsche der Wirtschaft im Bewusstsein
seiner selbst immer nur auf das Gewesene, das Vergangene, auf die entschwindenden
Werte der abendländischen Hochkultur? Gewiss gibt es auch den zeitgenössischen
Film, in dem aktuelle Probleme zur Sprache kommen, doch folgt die Erzählstruktur,
sofern nicht schon von Anfang an auf kommerzielle Abläufe in Bild
und Ton eingeschworen, meistens dabei einer rückwärtsgewandten,
lange schon eingeübten Sichtweise der Dinge. Die neue Wahrnehmung
des Augenblicks, die Perspektive der Echtzeit, die Fähigkeit auch
Unerwartetes, Überraschendes wahrzunehmen, wäre ein großer
Gewinn für die Hochkultur. Umdenken, neu erleben, die Dinge neu formulieren
anstatt die erstarrten Erzählformen, die meistens nur die Aufgabe
haben, das bürgerliche Sujet so flach wie möglich und mit der
nötigen Portion Emotionskitsch zu spiegeln, zu wiederholen. Das könnte
der Standpunkt eines nach vorne, in die Gegenwart der Zukunft ausgerichteten
Filmschaffens sein.
Jeremey Rifkin, der erfolgreiche Soziologe, Bestseller-Autor
und Politiker-Berater sieht für die Zukunft der Menschheit im Augenblick
nur noch einen Ausweg: Wenn der Mensch seinem innersten Wesen nach so
ist, wie er sich gibt, nämlich habgierig, egoistisch, sadistisch,
zu Gewalttaten bereit, kriegerisch eingestellt, an permanente sexuelle
Lust gefesselt, dann wird sich das menschliche Überleben als schwierig
gestalten. So plädiert Rifkin für eine neue Sichtweise der Welt:
Weg mit den Horrorszenarien, heraus aus der visuellen Dressur, hin zum
emphatischen Blick. Nur in einer emphatischen Zivilisation könne
der Mensch sich darauf besinnen, wie er sein kann, positiv und großzügig,
emphatisch statt kontrollierend oder aussperrend, abspaltend, selbstverliebt
und destruktiv. Nur einer zum Mitgefühl und Fremderleben fähigen
Zivilisation könne es noch gelingen, das Ruder herumzureißen.
Ausblick, Anblick, Rückblick, Voraussicht, Detailblick,
Rundumblick, Augenblick – die Fähigkeit zu sehen ist nicht
nur eine Frage der Bildschärfe eines HD-Flachbildschirms, der mit
dem Slogan wirbt “Bilder so scharf, als wären sie nicht von
dieser Welt!“. Was wäre, gäbe es keine Regeln: man kann
machen was man möchte und die Wirklichkeit nach eigenen Wünschen
gestalten, dann, ja dann ist man im Fernsehen: „grenzenlos scharf
sehen!“. Scharf sehen, noch dazu im Breitwandformat, in der Intimität
der guten Stube zuhause – wie aber steht es um unsere anderen Sinne,
wie steht es, und das müsste wohl das zentrale Thema unserer Betrachtung
sein, um unser Gefühl, unsere Sprachfähigkeit, unsere Vernunft?
Kennen wir nur nur noch die Objekte unserer Begierde und die Gedanken
an Luxus als deren Befriedigungsform? Gibt es sonst keine Empfindungen?
Wir genießen, aber können wir uns auch wirklich freuen? Sehnen
wir uns auf der Suche nach dem Überfluss in Wahrheit nach einem Glück,
von dem wir nicht wissen, wie es sich anfühlt, weil wir nur passiv
genießen, statt aktiv zu erleben? So wie der Held im Western handeln
muss, um ein Held zu werden, müssen auch wir vielleicht handeln,
nicht des Heldentums wegen, sondern für Selbstverantwortung, um unsere
Gefühle zeigen zu können und auf der Suche nach dem Mysterium,
sozial empfindsam zu bleiben. Andere formulieren es einfach so: Glück
ist die Abwesenheit von Entfremdung! Glück ist Vorhandensein von
Empathie, möchte man hinzufügen. Denn der Propaganda-Slogan
„wenn Champions im Ring stehen und Herausforderer warten, wenn die
Dunkelheit an Macht gewinnt, dann ist es Zeit für wahre Helden. Wenn
aus der Hoffnung Gewissheit wird, wenn Legenden wahr werden und längst
vergessene Legenden wiederkehren, Idole gefeiert werden, wenn alle gegen
einen sind, dann ist es März auf RTL“, lässt manchen von
uns erstarren. Angesichts solcher Sprache sollten wir empathisch in Bewegung
bleiben. Denn wie Robert Pfaller es formuliert: „wir bestehen auf
den heiligen Ernst des Spiels, wir lassen uns die Beute, die wahren Bilder
von der Wirklichkeit, nicht entreißen.“ Und er führt
weiter aus, dass hinter der Überfülle an allem, somit auch hinter
der Überfülle an Bildern, diese selbst zur Ware, zum Unsinnstifter
wird. Unsinnig, weil den Überfülle-Bildern keine Bedeutung,
kein tieferer Sinn mehr inne wohnt. Und so wie die Sinnentleerung mit
der Werte-Zerstörung und Bedeutungs-Zerstörung einhergeht (–
man denke hier nicht an die philosophischen Abarbeitungen der Post-Moderne),
so ist auch, vor allem durch das Internet, die Sprache am verkümmern.
Aber wie sich auch noch darum kümmern, wenn auch in Österreich
das rechts-populistische Klima bereits in der Luft liegt und die Wirtschaftskrise
auf die Charaktere drückt, die zunehmend explosiver durch den Tag
gehen oder aus Prinzip gar nichts mehr sagen und versuchen, unter allen
Umständen nicht aufzufallen. Zum immer lauter werdenden Machtanspruch
der Rechtspopulisten schreibt Pfaller, dass die ideologischen Kämpfe
nicht auf der Ebene der Informationen stattfinden. Es gehe nicht um Ideen,
sondern um Affekte und deren Organisation, und um Identifizierungen. Populismus
sei zunächst ein Echo, ein Widerhall. Wenn eine populistische Rede
aufkommt, weiß man in der Regel kaum, wer eigentlich spricht, beziehungsweise
wer hier wessen Worte spricht. Es handelt sich um ein komplexes Verhältnis
von Vorsagen und Nachsagen. Das gilt natürlich auch für den
vielbemühten Zuschauergeschmack, der dem Zuschauer wie auf den Leib
geschnitten ist. Wenn wir Robert Pfaller Glauben schenken, dann hat der
Populismus nur eine kulturelle Voraussetzung: Er will immer gerne sauber
machen und aufräumen, um die Ordnung gegen eine Überflutung
durch Schmarotzer und Parasiten zu verteidigen. Die zunehmend prüde
Genussfeindlichkeit der westlichen Hochkulturen bildet daher eine Stütze
für die Obszönitäten des Populismus und verschafft ihnen
Aufmerksamkeit.
XVIII. Die Zeit der Erlebnisfähigkeit
Wie im Beschwerdeschreiben der preußischen Regierung
aus dem Jahr 1928, die dem Filmregisseur Pabst vorwarf, seine Kunst grenze
an Schweinereien, wird auch heute von den Kulturjournalisten anlässlich
der Etablierung eines realen Swingerclubs in den Untergeschoßen
der Wiener Sezession die entscheidende Frage gestellt: sind die unter
dem Titel „Die Kunst der Liebe“ ausgestellten Verhältnisse
noch als Kunstobjekt zu betrachten, oder handelt es sich hierbei nur um
Schweinereien aus dem Porno-Markt? Der Künstler verpflanzt sich siegessicher
in die Pop-Art und Warhol-Factory Konzeption. Was sagt der Kapitalismus
in einer so rohen Darstellung seiner selbst über sich aus: Dass er
die sexuelle Vereinigung als mechanischen Wiederholungszwang darstellt,
ohne den Echtzeit-Akrobaten in der Ausübung ihrer Lust Subjektivität
zuzugestehen. Der Kapitalismus befriedigt jedes Bedürfnis, das er
selbst zuvor künstlich erzeugt hat. Nur die Erlebnisfähigkeit,
das Lustpotential der verklemmten Besucher, ist eher sparsam und bescheiden.
Warum die Panikmache also wegen Schweinereien. Die Medien sind voll davon,
die „Perversiönchen“ vielfältig wie noch nie. Man
ist jederzeit bereit, die Hosen runter und die Sau raus zu lassen oder
die im Wiener MuseumsQuartier errichtete Arschloch-Bar in Form eines Anus
zu besuchen. Was in der Nazi-Kultur, in deren sauberen Vorstellungen vom
menschlichen Adel der Seele empörte, ist heute kein Stein des Anstoßes
mehr. Die Tage, in denen die Schriften Sigmund Freuds aufgrund ihrer seelenzersetzenden
Wirkung den Flammen übergeben wurden, sind Vergangenheit. Heute kommt
der Druck von emotional rechts: Das Durchpeitschen des Vergnügens,
das keinen Triebaufschub mehr duldet und auf dem Weg von der Hochkultur
zur Barbarei keine Moral und keine Werte mehr akzeptiert. Wer heute in
der profanen Sphäre des Warentausches vom heiligen Geist eintauchen
möchte, muss ein Comedian sein, der sich gerne lächerlich macht.
Begriffe wie Vertrauen, Hoffnung, Würde, Glauben sind seit der nationalsozialistischen
Ethik zu fragwürdigen Konstanten geworden. Wenn das Fun-Paket Power
hat, braucht es keine Würde und auch kein handlungsfähiges Subjekt.
Wenn SlavojZizek in „A pervert Guide to Cinema“
den Bildererzählungen des Kinos, das Zurückschwappen des kollektiv
Verdrängten, des Ausgesperrten, das Ausbrechen der bestialische Natur
des Menschen in die Zivilisation sieht, dasselbe Unbehagen Freuds, in
Hinblick auf die krankmachende Nervosität des modernen Menschen spricht,
geht er noch einen Schritt weiter als Freud, der dieses Zurückdrängen
des Archaischen in die Rationalsphäre des Menschen vor allem den
Traumvorgängen qualitativ zuordnete. Zizek meint, nicht nur der Einzelne
träumt. Wir lassen uns in allen Bildwelten – mitterlerweilen
nicht nur im Kino – von den archaischen Reminiszenen unserer brachialen
Epochen oft und gerne überfluten. Und auch das Abflachen der Bedeutungssprache
öffnet den rohen und rauhen Zeiten, den animalischen Gelüsten
gerne wieder Tür und Tor. Wenn die Menschheit im Sinne von Rifkin
das Ruder herumreißen möchte, so wird wohl Umdenken alleine
nichts bewirken, da die Fixierung der Kultur auf ihre anal zwanghaften
Symptomatiken überwunden werden muss, damit auch Gefühle fließen
können, denn alles ist im Fluß und wir steigen niemals in denselben.
Und es ist wohl auch das, was der lange in Meditation verharrende buddhistische
Mönch, nachdem er erleuchtet (und nicht nur beleuchtet wurde) uns
sagen möchte: „Öffne dich zu dir selbst, lass die alten
Bilder, die Erinnerungen, die für dich wichtig sind, weil du ihnen
Bedeutung zumisst, hinter dir. Es sind tote Bilder, morsches Holz.“
Es wäre befreiend, wenn es einmal eine regeneriende Phase der Kultur
geben könnte, eine Art mediales Heilfasten, in der wir ohne die Bildüberflutung
der Massenmedienmacher auskommen, in der wir vorübergehend zumindest
unseren Blick und unsere Ohren zur Ruhe kommen lassen können. Damit
wir danach, den alten Ballast abgeworfen habend, wieder mit der von Haneke
angesprochenen Unschuld des Anfangs neu sehen, hören und fühlen
lernen können. In Empathie, die, wie Rifkin ergänzt, immer auch
eine Erweiterung der moralischen Kompetenz bedeutet. Wir erinnern uns
an das Höhlengleichnis, nur einer der Anwesenden blickt nicht nach
vorne zum Lichtspiel auf der Leinwand, er wendet seinen Blick zurück,
und bemerkt, wie von außen durch eine Spalte in der Höhle klares
Licht eindringt, heller und klarer als das, was ihm die Schattenfiguren
gezeigt haben. Von diesem Licht ergriffen folgt er ihm nach draußen
und sieht, wie nur die Renaissancemaler sahen, als sie das Licht über
der Kuppel malten. Doch die anderen in der Höhle wollen nicht ans
Tageslicht, sie haben sich an das Schattentheater gewöhnt. Und sie
trachten dem, der sie nach draußen holen wollte, nach dem Leben.
Und heute? Können wir ohne das Schattentheater noch existieren? Was
fiele uns ein, wenn wir nichts mehr zum Schauen und keine Schlagzeilen
der Boulvard-Presse hätten?
Nun, die Oscars sind vergeben, die Sieger haben gesiegt und die Verlierer
haben verloren. Die Medaillen sind gewonnen, die Trophäen nach Hause
getragen. Die Preisträger haben ihre Aufgabe, Preise zu gewinnen,
bewältigt und werden wieder, zumindest bis zur nächsten Preisverleihung
in Vergessenheit geraten sein. Bei einem TV-Interview antwortet Johnny
Depp auf die Frage, warum er so gerne in Frankreich lebe: “Weil
ich froh bin, etwas Distanz zu Hollywood zu bekommen. Wenn man mitten
drin ist, in diesem brodelnden Suppentopf Los Angeles, nimmt das nicht
wahr. Heute sehe ich alles in einem anderen Licht. Ich habe viele Jahre
gebraucht, um zu begreifen, was für ein Tier Hollywood eigentlich
ist.“
Etwas in einem anderen Licht sehen, das Licht, das auf
die gegenständliche Welt fällt, auf dass sie sichtbar werde.
Abwarten können, Zeit haben fürs Filmen, nicht eingreifen, aufgreifen,
sich überraschen lassen, von dem was entsteht, auf der Suche nach
der Wahrheit, der Wahrheit des Blicks und des Lebens: Das waren die großen
Anfänge des europäischen Film. Auf den Spuren dieses anfänglichen
Lichtes sollte der europäische Film voranschreiten, weg von den Schablonen,
den Formaten, den sprachlichen Stereotypen, den Geschmacks-Klischees und
Geschmacksinn-Stimulierer. Licht ist nicht mehr Beleuchtung gleichzusetzen.
Es ist die Lichtquelle, die entscheidet, wie wir die Welt erleben, wie
wir die Dinge sehen, mit Vorurteilen oder ohne. Und wenn möglich:
Bitte ein bisschen weniger Leitkultur, dafür etwas mehr Liebe zum
Detail und ein bisschen mehr Tiefgang. Ein bisschen mehr Eigensinn, als
nur eine Überfülle an Unsinn.
Alle Fotos (c) by Copyright-owners
|