Ivo Ritzer
Demons of the Swamp
30 Jahre The Cramps
(Leicht gekürzte Version in :Ikonen: 6)
“When you got the blues/Who do you tell them
to?
When you’re all alone/What do you want to do?
Do you want to die? Or is it just the strangeness in me?”
(The Runabouts, “The Strangeness in Me”)
Möchte man heute Pop- und insbesondere Jugendsubkultur
in Anlehnung an Gilles Deleuze und Felix Guattari als rhizomatische Netzwerke
begreifen, welche in kommunikativen Plateaus Potential für nonkonformistische
Gruppenbildung stiften, dann sind The Cramps vielleicht die wichtigste
Underground-Band der letzten dreißig Jahre. Von der Garage-, Rockabilly-
und Gothic-Szene über Punks, Mods und Skinheads vereint das Quartett
wie kaum eine andere Formation disparate (Musik-)Kulturen homogen in seiner
Anhängerschaft.
Die Geschichte der Band beginnt in einer Zeit, die genuine
Rock’n’Roll- und Rhythm & Blues-Traditionen weitgehend
vollkommen desavouiert hat. Rock’n’Roll als originäre
Hipster-Vokabel für eine Intensivierung des Lebensgefühls als
verschwenderischer Akt der Selbstentäußerung ist von hippiesken
Squares ab Ende der 1960er Jahre nahezu ausnahmslos domestiziert. Ästhetisch
so dekadente wie moralisch korrupte Bands im Stile von Emerson, Lake &
Palmer, King Crimson oder Genesis regulieren das Rock-Dispostiv und ergehen
sich ungezügelt in pompöser Prätention, dekadentem Bombast
und megalomanischem Narzissmus.
Als Erick Purkhiser (Lux Interior) und Kristy Wallace (Poison
Ivy Rohrschach) Mitte der 1970er Jahre die Cramps gründen, wollen
sie Rock’n’Roll-Kultur genüsslich naiv wieder be-greifen
als soziales Phänomen zwischen ostentativer Sexual- und konfrontativer
Schockästhetik, wie es in den 1950er/1960er Jahren von marginalisierten
Outlaw-Rebellen wie Hasil Adkins, Charlie Feathers oder Andre Williams
emblematisch vorgelebt worden ist. Zusammen mit dem zweiten Gitarristen
Greg Breckerleg (Bryan Gre-gory) und Schlagzeuger Nick Stephanoff (Nick
Knox) entsteht ein hybrides Rock’n’Roll-Patchwork, das allen
postmodernen Zitatstrukturen zum Trotz dank der vollständigen Absenz
reaktionärer Retro-Stilismen rasch ein fruchtbares Eigenleben entwickelt.
Geprägt von mythischer Vintage-Populärkultur,
insbesondere der Ikonographie klassischer Underground-Movies aus der Schmiede
von Herschell Gordon Lewis oder Russ Meyer und der Liebe zu neurotischem
Rockabilly respektive Garagerock treffen die heftig lärmenden Klänge
der Band innerhalb der sich konstituierenden Punk-Generation den Nerv
der kulturellen A-vantgarde. Stilsichere Konzertplakate mit dem 1976 dubiosen
Aufdruck „Psychobilly“ und unzählige ausufernde Gigs
in New Yorker Szene-Clubs wie dem CBGB’s und Max’s Kansas
City lassen die Cramps schnell im Underground reüssieren, kennen
Poison Ivys minimalistisches Lead-Gitarrenspiel, Bryan Gregorys verzerrte
Fuzz-Akkorde, Nick Knoxs Voodoo-Kult beeinflusste Schlagzeugrhythmen und
Lux Interiors übersteigerter Sprechgesang bis dato kaum Vergleichsmöglichkeiten.
Der Sound der Cramps invertiert die abendländische Tradition von
Musik als Ausdruck positiv konnotierter „guter“ Natur und
etabliert eine neue Ästhetik des negativ konnotierten „bösen“
Geräuschs. Damit werden nicht in einem adornitischen Sinn musikalische
Produktivkräfte weiterentwickelt, sondern vielmehr konträr eine
selbstreflexive Reduzierung des Ausdrucks als Antwort auf die infantile
Bürgerlichkeit des progressiven Art-Rock lanciert.
1979 veröffentlicht die Band ihre erste 12“ EP,
auf der sich jene von Alex Chilton produzierten Singles befinden, die
zunächst als 7“s im DIY-Spirit auf dem eigenen Label Vengeance
Records erschienen waren. Unter den Songs befinden sich grandios umcodierte
Cover-Versionen von Jack Scotts “The Way I Walk“, Roy Orbisons
“Domino“, Ricky Nelsons “Lonesome Town“, eine
atonale Noise-Variation von “Surfin’ Bird“ der Trashmen
sowie die ikonische Eigenkomposition “Human Fly“(1). Nach
einer ersten Europatournee wird in Memphis erneut unter der Regie von
Alex Chilton das Debütalbum “Songs the Lord Taught Us“
(IRS) eingespielt. Cover-Songs finden sich unter anderem von Dwight Pullen,
Jimmy Stewart und The Sonics, die Höhepunkte des Albums sind allerdings
selbst geschrie-bene Stücke. “The Mad Daddy“ ist eine
liebevolle Hommage an den gleichnamigen Radio-DJ aus Ohio (2), “TV
Set“ entpuppt sich als morbides Liebeslied um abgetrennte Köpfe
und “Garbageman“ etabliert bereits 1980 einen so polemischen
wie sophistisierten Postpunk-Diskurs (3). Nachdem Bryan Gregory die Band
ver-lässt, stößt Gun Club-Gitarrist Brian Tristan (Kid
Congo Powers) zu den Cramps und nimmt mit ihnen 1981 das zweite Album
unter dem programmatischen Titel “Psychedelic Jungle“ (IRS)
auf. Die LP ist wesentlich kontemplativer angelegt als ihr punkig rockender
Vorgänger und entwickelt ein immenses hypnotisches Potential, das
in dem lasziven Ronnie Cook-Cover “Goo Goo Muck“ oder den
düsteren Originalen “Voodoo Idol“ und “The Natives
are Restless“ voll ausgespielt wird. Das Live-Abum “Smell
of Female“ (Capitol) versteht es, das hohe Niveau von “Psychedelic
Jungle“ durchgehend zu halten und bietet etwa mit “You Got
Good Taste“, “Call of the Wighat“ und “I Ain’t
Nothing but a Gorehound“ ausschließlich bisher unveröffentlichtes
Songmaterial, das schnell zum Klassiker evolviert.
Der Weggang von Kid Congo Powers stürzt die Gruppe
erstmals in personelle Schwierigkeiten und verzögert das Erscheinen
eines neuen Albums um Jahre. “A Date with Elvis“ (Big Beat)
wird erst 1986 veröffentlicht und markiert einen Wendepunkt in der
Geschichte der Band. Erstmals fügen die Cramps ihrem reduzier-ten
Instrumentarium eine Bassgitarre hinzu und bewegen sich mit Songs wie
“The Hot Pearl Snatch“, “What’s Inside a Girl?“
oder “Can Your Pussy Do the Dog“ weg von dem Punk-philosophischen
Minimalismus ihres bisherigen Sounds hin zu konventioneller strukturierten
Songformeln und saubererer produzierten Rockstandards. Das dezent gruftige
Auftreten der Band weicht ebenfalls immer mehr intendierter Künstlichkeit,
fragmentierten Identitäten und greller Camp-Ästhetik. Besondere
Bedeutung gewinnt zunehmend auch eine hyperbolische S/M-Ikonographie,
die vor allem Poison Ivy und Lux Interior stets geschickt im hermeneuti-schen
Schwebezustand zwischen poststrukturalistischer Ironisierung und gelebter
Ernsthaftigkeit zu halten verstehen (4).
Mit der neuen Bassistin Conny Del Mar (Candy Del Mar) spielen
die Cramps 1990 schließlich das Album “Stay Sick!“ (Capitol)
als Liebeserklärung an den anar-chischen TV-Horrorfilm-Host Ghoulardi
ein (5). Neben der trashigen B-Movie-Hommage “Bikini Girls with
Machine Guns“, einem wilden Cover von Macy Skippers Sun-Rockabilly-Klassiker
“Bop Pills“ und der obszönen Bondagesex-Apotheose “Mama
Oo Pow Pow“ ist vor allem “The Creature from the Black Leather
Lagoon“ als Höhepunkt der LP und gleich-zeitig Ausdruck des
neuen alten Selbstverständnisses der Band zu werten. 1991 folgt mit
“Look Mom No Head“ (Restless) das erste Album, welches die
Cramps ohne Nick Knox einspielen. Auch Candy Del Mar verlässt die
Band. Mit Slim Chance an der Bassgitarre und Jim Sclavunos am Schlagzeug
nehmen Lux Interior und Poison Ivy schließlich unter anderem ein
authentisches Cover von Captain Beefheart’s “Blue Collar“
(1978)-Theme-Song “Hard Workin’ Man“, die energetische
Garagepunk-Hymne “Dames, Booze, Chains and Boots“ sowie eine
anzügliche Variation des Flower Children-Songs “Miniskirt Blues“
mit Ex-Stooges-Frontmann Iggy Pop als Co-Sänger auf. Für ihr
Major-Label Debüt “Flamejob“ (Medicine Label) muss die
Band bereits 1994 wieder auf Jim Sclavunous verzichten und verpflichtet
Harry Drumdini am Schlagwerk.
Oft als das schwächste Album von den Cramps diskreditiert
besitzt die LP mit “Mean Machine“, “Sado County Audio
Show“ oder “Swing the Big Eyed Rabid“ durchaus seine
Intensitäten, die aber dennoch einen Split mit Warner Bros. nicht
abzuwenden vermögen. Das nachfolgende Album “Big Beat from
Badsville“ (Epitaph) erscheint 1997 und zeigt die Band anhand von
Stücken wie “Cramp Stomp“, “Like a Bad Girl Should“
oder “Burn She-Devil Burn“ von ihrer rockigsten und konventionellsten
Seite. Zum fünfund-zwanzigjährigen Jubiläum reanimieren
Lux Interior und Poison Ivy 2001 das seit Dekaden inaktive Eigenlabel
Vengeance Records, wo neben diversen liebevoll auf-gemachten Reissues
2003 auch das immer noch aktuelle Studioalbum “Fiends of Dope Island“
erscheint. Mit Scott Franklin (Chopper Franklin) als Neuzugang am Bass
finden sich auf der LP einige der gelungensten Songs seit “A Date
With Elvis“.
Insbesondere die satanische Single-Auskoppelung “Big
Black Witchcraft Rock“, der sinistere “Dopefiend Boogie“
und eine liebevolle Hommage an den Exploitation-Filmklassiker “The
Brain from Planet Arous“ (1957) durch “Fissure of Rolando“
verweisen auf die ungebrochene Kreativität der Band auch im dritten
Jahrtausend. Die Wartezeit auf ein neues Album verkürzt die 2004
erschienene Compilation “How to Make a Monster Rock“ (Vengeance).
Darauf finden sich diverse rare Demo-Tracks aus den Anfangstagen der Gruppe
sowie zwei komplette New Yorker Live-Konzerte von 1977 respektive 1978,
welche vehement Reminiszenzen an dadaistische Happenings evozieren und
1977 noch die heutige Norton Records-Chefin Miriam Linna am Schlagzeug
hören lassen. Von 1978 stammt auch der im wahrsten Sinne des Wortes
irrwitzige Auftritt im Napa State Mental Hospital, der sich inzwischen
auf DVD (Music Video Distributors) in besserer Qualität als je zuvor
begutachten lässt. Nach dem Weggang Harry Drumdinis sitzt seit 2004
nun der ehemalige Blasters-Drummer Bill Bateman am Schlagzeug der Cramps
und beweist live bereits alte Qualitäten. Ein neues Studio-Album
der Band ist bisher nicht angekündigt, wird aber voraussichtlich
in nicht allzu ferner Zukunft erscheinen… Bis dahin gilt einmal
mehr: Stay sick, turn blue!
“So when I die bury me six foot deep
With a rock’n’roll record at my feet.
I’m gonna grab a needle in my hand
I wanna rock my way right out of this land.”
(Ronnie Dawson, “Rockin’ Bones“)
***
(1) “Human Fly“ ist
ein Pastiche des Tune Rockers-Songs “Green Mosquito“. Nahezu
alle Stücke, welche die Cramps aufnehmen, basieren auf anderen Songs,
die entweder dezent umar-rangiert oder mit neuem Text versehen werden.
Eine Retrospektive der originalen Tracks bietet die inzwischen achtteilige
Samplerreihe “Born Bad“ (Born Bad Records) sowie die dreiteilige
Serie “Songs the Cramps Taught Us“ (STCTU Records).
(2) Auf dem hervorragenden Label Norton Records ist 2003 unter dem Titel
“Wavy Gravy“ ein Best Of der Moderationen des Mad Daddy (Pete
Myers) von 1958 bis 1965 erschienen, das einen wunderbaren Einblick in
seine einzigartigen Sendungen zwischen lakonischem Beatnik-Rap und over-the-top
Amphetaminrausch gewährt. Mit der inzwischen wieder auf CD erhältlichen
“Purple Knif Show“ (Munster Records) versucht sich Lux Interior
1984 selbst als Mad Daddy-Impersonator.
(3) Lyrics: “You ain't no punk, you punk/You wanna talk about the
real junk?
If I ever slip I’ll be banned/ Cause I’m your garbageman.
Well you can't dig me you can't dig nothin'/Do you want the real thing
or are you just talkin'?
Do you understand? I’m your garbageman.“
(4) Poison Ivy arbeitet Mitte der 1970er Jahre tatsächlich immer
wieder als Domina in S/M-Clubs, was die junge Band schnell mit dem nötigen
Kapital für Equipment versorgt.
(5) Ghoulardi (Ernie Anderson) tritt von 1963 bis 1966 als Gastgeber der
Sendung “Shock Theatre“ in Clevelands WJW-TV auf. Sein Sohn
ist der erfolgreiche Hollywood-Regisseur Paul Thomas Anderson.
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