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Carolin
Utsch
„Ein und derselbe Mensch und im gleichen Augenblick
zwei verschiedene Menschen“
Das Motiv des Doppelgängers als Mittel der Irritation
im postmodernen Film am Beispiel von Ingmar Bergmans Persona (1966) und
David Lynchs Mulholland Drive (2001)
Teil I
1. Einleitung
„Es ist unmöglich, dass demselbigen dasselbe
und in derselben Hinsicht zugleich zukomme und nicht zukomme. Dies ist
das festeste Prinzip von allen. Denn unmöglich kann jemand annehmen,
dass dasselbe sei und nicht sei. (...) Alles Wahre muss mit sich selbst
nach allen Seiten in Übereinstimmung sein.“
(Aristoteles: Elemente der aristotelischen Logik. Hg. v. Adolf Trendelenburg
und Rainer Beer. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1969. S. 15)
„Du darfst mich nicht falsch verstehen, aber
irgendwie sehen wir uns ähnlich. Ich glaube sogar, ich könnte
mich in dich verwandeln. Das wäre natürlich nicht so einfach,
weil‘s von Innen kommen muss. Aber wenn du wolltest, könntest
du dich in mich verwandeln, als wäre es nichts. Obgleich die große
Seele in mir nicht genug Platz fände und ausbrechen würde.“
(Schwester Alma, in: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 33:25 –
34:06)
Zwei Zitate, die sich zunächst einmal grundlegend
widersprechen. Das Erste stammt von dem weltberühmten Philosophen
Aristoteles und scheint auf den ersten Blick völlig einleuchtend.
Er spricht von einer universellen Wahrheit, die verbindlich für alles
gilt. Wahrheit ist feststehend, Entität allgemeingültig.
Das zweite Zitat findet sich in Ingmar Bergmans Film Persona
aus dem Jahr 1966. Eine der Protagonistinnen redet mit der anderen über
beider enorme optische Ähnlichkeit. Doch wie in dem Zitat schon angedeutet,
bleibt es nicht dabei. Die beiden Personen nähern sich im Verlauf
des Filmes immer weiter aneinander an, scheinen optisch zu Zwillingen
zu werden, ihre Rollen zu tauschen. Doch handelt es sich dabei keineswegs
bloß um ein Doppeltes-Lottchen-Prinzip: Auch die Identitäten
der beiden verschmelzen miteinander, spalten sich voneinander ab, überschneiden
sich.
Betrachtet man den Film als ein Zuschauer, der an kohärente
Handlungsstränge gewöhnt ist, so ist man von Anfang an irritiert,
versucht einen Sinn hinter kleinsten Details zu finden, einen Herrensignifikanten,
der alles erklärt, die Handlung logisch nachvollziehbar macht. Doch
eine feste Erklärung wird man auch am Ende des Filmes nicht bekommen.
Vor allem Ingmar Bergmans Filme der 60er Jahre sind bekannt
dafür, dass sie von der Suche nach dem Sinn des Lebens handeln. Oft
thematisiert er die Frage nach der Existenz Gottes und die Kälte
und Lieblosigkeit einer modernen Gesellschaft. Gerade Persona sticht aus
diesen Filmen besonders hervor, da er in diesem Film erstmals radikal
mit einer kohärenten Erzählweise bricht und stattdessen immer
wieder mit den Sehgewohnheiten des Zuschauers spielt, indem er verschiedene
Handlungsstränge miteinander kombiniert, so dass sie in Widerspruch
zueinander stehen oder auf den ersten Blick keinen logischen Sinn ergeben
(beispielsweise im Sinne von Aristoteles). Dies ist ein typisches Mittel
des postmodernen Filmes.
In der folgenden Arbeit werde ich Bergmans Persona mit
David Lynchs Mulholland Drive aus dem Jahre 2001 vergleichen und versuchen,
herauszustellen, warum es sich bei beiden Filmen um typisch postmoderne
Filme handelt. Der Vergleich mit Lynch bietet sich besonders gut an, da
er sich selbst in Interviews immer wieder als einen großen Fan Bergmans
bezeichnet und er in ihm eines seiner größten Vorbilder sieht.
(Siehe hierzu beispielsweise Lynch im Interview auf http://www.incontention.com/2010/10/25/lynch-picks-bergman-kubrick-tati-hitchcock-and-wilder-for-afi-fest/;
abgerufen am 07.03.2012)
An seinem Film Mulholland Drive lässt sich dies gut
nachvollziehen, da er einige starke Parallelen zu Bergmans Persona aufweist.
In der vergleichenden Filmanalyse der folgenden Arbeit werde ich dies
verdeutlichen.
Vorneherein sei aber gesagt, dass der Vergleich der beiden Werke ein solch
enormes Angebot zur Analyse bietet, dass eine genaue Betrachtung der einzelnen
Aspekte den Rahmen dieser Arbeit deutlich sprengen würde. Einige
Themenbereiche werden daher komplett weggelassen oder nur kurz berührt
werden können.
Da ich den Fokus der Analyse auf das Thema Postmoderne
legen möchte, habe ich entschieden, mich im Wesentlichen auf die
Thematisierung des Doppelgängermotives in den Filmen zu beschränken.
Dies bietet sich an, da es sowohl in Persona als auch in Mulholland Drive
das sicherlich auffälligste Motiv ist und in beiden Filmen vielschichtig
immer wieder auftaucht. Zudem trägt es in beiden Werken wesentlich
zur für den postmodernen Film typischen Verunsicherung des Zuschauers
bei.
2. Die Postmoderne und der postmoderne Film
Die Postmoderne ist die kulturgeschichtliche Epoche, die
auf die Moderne folgt. Eine genaue Definition ist nicht leicht, es lässt
sich aber festhalten, dass es sich dabei einerseits um einen Gegenstand
philosophischer Reflexion und andererseits um ein Phänomen des Zeitgeistes
und der Kunst handelt und sich in all diesen Bereichen ein neuer Zugriff
auf die Welt eröffnet. (Vgl. Baum, Patrick/ Höltgen, Stefan
(Hrsg.): Lexikon der Postmoderne. Von Abjekt bis Zižek. Bochum/ Freiburg:
Projektverlag 2010. S. 148)
In seiner theoretischen Untersuchung „Das offene
Kunstwerk“ beschreibt Umberto Eco, dass ein großer Teil der
Kunst der Moderne auf der Verwendung von Symbolen, die auf etwas Unbestimmtes
verweisen, beruht. Im Gegensatz dazu wurde die Kunst im Mittelalter meist
allegorisch interpretiert und in der Renaissance auf „statische
und unmissverständliche Bestimmtheit“ gebaut. (Vgl. Eco, Umberto:
Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1973. S. 32-34)
Die Menschen der modernen Gesellschaft tendieren dazu, dass sie keine
eindeutigen Fakten präsentiert bekommen wollen, sondern stattdessen
selbst in die Interpretation und Enträtselung eines Kunstwerkes mit
einbezogen werden möchten. Moderne Kunstwerke verlangen also meist
„eine variable Rekonstruktion des angebotenen Materials“.
(Vgl. Ebd. S. 90) Die Kunst baut auf Interpretation, ist dabei aber sehr
viel freier als die Allegorien des Mittelalters, die stets auf etwas Bestimmtes
verwiesen. Wir sind als Betrachter von Kunst heutzutage darauf programmiert,
innerhalb eines Werkes nach Hinweisen zu suchen, die uns bei der Interpretation,
egal welcher Art, helfen könnten. Wenn man aber plötzlich in
einem Kunstwerk keine Hinweise finden kann, die zu einer schlüssigen
Interpretation führen, entsteht dadurch laut Eco „ein Gefühl
von Ungewißheit [sic!] und Unbestimmtheit“ und eine „Frustrierung
der ‚romanhaften Instinkte‘ des Zuschauers“. (Vgl. Ebd.
S. 203.) Genau auf diesem Aspekt baut die Kunst der Postmoderne auf.
Dies lässt sich auch auf das Phänomen des postmodernen
Filmes übertragen. Häufig sind diese mehrfach codiert, bieten
also neben Unterhaltung auch intellektuelles Vergnügen. Während
in der Moderne ein ständiger Fortschrittszwang herrschte, spielt
der postmoderne Film mit Zitaten und Referenzen, Wiederaufnahmen und Reflexionen,
sodass sich der Zuschauer sehr gut damit auseinandersetzen und eigene
Referenzen bilden kann . ( Vgl. Baum, Patrick; Höltgen, Stefan (Hrsg.):
Lexikon der Postmoderne. Von Abjekt bis Zižek. Bochum/ Freiburg:
Projektverlag 2010. S. 149)
Ästhetisch gesehen finden sich im postmodernen Film
häufig Intertextualität, Spektakularität, Selbstreferentialität,
Anti-Konventionalität und dekonstruktive Erzählverfahren. (Vgl.
Eder, Jens: Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der 90er
Jahre. In: Jens Eder (Hrsg.): Oberflächenrausch. Postmoderne und
Postklassik im Kino der 90er Jahre. Münster: LIT 2002. S.11) Thematisch
geht es oft um motivische Tabubrüche, Sex und Gewalt. Dabei werden
extreme Darstellungen von Gewalt, Morbidität, Leidenschaft oder Leiden
häufig mit alltäglichen Banalitäten in Kontrast gesetzt,
was die Filme ironisch und grotesk wirken lässt. (Vgl. Ebd. S.23-25)
Postmoderne Filme spielen immer wieder mit der Erwartungshaltung des Zuschauers
und brechen mit dieser. Das führt zu Verunsicherungen und spornt
zu immer weiteren Interpretationen an.
Ernst Schreckenberg verweist in seinem Essay über
das postmoderne Kino auf den französischen Philosophen Jean-François
Lyotard, der im Zusammenhang mit der Postmoderne von einem „zitierenden
Formenflimmern“ spricht. Damit spielt er auf unsere durch die Medien
geprägte Umwelt an. ( Vgl. Schreckenberg, Ernst: Was ist postmodernes
Kino? – Versuch einer kurzen Antwort auf eine schwierige Frage.
In: Andreas Rost und Mike Sandbothe (Hrsg.): Die Filmgespenster der Postmoderne.
Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren, 1998. S. 119)
Auch der Philosoph Jean Baudrillard beschäftigt sich mit diesem Thema
im Zusammenhang mit seiner „Simulationstheorie“. Er sagt darin,
dass Realität nur noch als Reflex auf zuvor existierende Medialität
vorhanden ist. Unsere Welt besteht aus Simulakren, also Trugbildern, Blendwerken,
Fassaden. (Vgl.: Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag
1978. S. 6) Durch den Einfluss der medialen Zeichen sind wir darauf programmiert,
hinter allem einen Hinweis zu sehen, der zu einem neuen Hinweis und schließlich
der Entschlüsselung eines Rätsels führt. So entstehen beispielsweise
politische Verschwörungstheorien, aber auch der Zwang, eine geheimnisvolle
Handlung in einem Film zu enträtseln. Wenn Baudrillard von der Agonie,
also dem langsamen, qualvollen Tod des Realen spricht, so ist der Hauptgrund
dafür die Tatsache, dass es in der heutigen Welt nicht mehr möglich
ist, das Reale vom Imaginären zu unterscheiden. (Vgl. Blask, Falko:
Jean Baudrillard zur Einführung. 3. Aufl. Hamburg: Junius Verlag
2005. S. 30) Baudrillard sagt zu dem ständigen Suchen nach möglichen
Hinweisen folgendes:
„All dies ist gleichzeitig wahr und die Suche nach
Beweisen zur Ermittlung der objektiven Tatsachen hält diesen Interpretationsschwindel
nicht auf. Wir befinden uns in der Logik der Simulation, die nichts mehr
mit einer Ordnung von Vernunftgründen gemein hat.“ ( Baudrillard,
Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978. S. 30)
Grund für all das ist der seit der Moderne immer mehr zunehmende
Drang, alles zu hinterfragen und zu wissen. Die festen Anhaltspunkte im
Leben, die dem Mensch zum Beispiel durch Religion oder Monarchie gegeben
waren, sind nun verschwunden. Er ist viel freier, aber dadurch auch viel
unsicherer geworden.
3. Das Motiv des Doppelgängers
Der Doppelgänger – ein Motiv, dass existiert,
seit es Literatur gibt – und vielleicht schon länger. Es wirft
grundliegende Fragen auf nach dem Ganzen, dem Ungeteilten, dem Individuum,
der Individualität, der Subjektivität, der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung,
der Identität und dem Ich. ( Vgl. Fichtner, Ingrid: Vorwort. In:
Ingrid Fichtner (Hrsg.): Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines
Phänomens. Bern: Haupt Verlag 1999. S. VII.)
Das Doppelgängermotiv ist sehr breit gefächert und hat sich
immer wieder gewandelt. Man findet Doppelgänger in der Literatur
beispielsweise in Form von Portraits (z.B. in Oscar Wildes Das Bildnis
des Dorian Gray von 1891), Spiegelungen (z.B. in E.T.A. Hoffmanns Die
Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde von 1814), Zwillingen (z.B. in
William Shakespeares Comedy of Errors von 1593) oder als Alter Ego (z.B.
in Fjodor M. Dostojewskis Der Doppelgänger von 1845).
„Doppeltgänger. So heißen Leute, die sich selber sehen.“
(Paul, Sean: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke, oder: Ehestand, Tod
und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs. Zitiert in: Sven
Herget: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren
Verlag 2009. S.11)
Dies ist die prägnante Definition, mit der sich Schriftsteller Jean
Paul in seinem Werk Siebenkäs (1796-97) dem Begriff annähert.
Man kann dies im psychologischen Sinne deuten, dass das „Sich-selber-sehen“
das Spalten der eigenen Persönlichkeit meint. Das bedeutet, dass
sich ein Teil des Wesens verselbstständigt und man so dem eigenen
Ich gegenübertreten kann. (Vgl. Herget, Sven: Spiegelbilder. Das
Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009. S.12)
So scheint ein wichtiger Hintergrund für das Doppelgängermotiv
stets die Identitätsproblematik zu sein. (Vgl. Schwarcz, Chava Eva:
Der Doppelgänger in der Literatur. Spiegelung, Gegensatz, Ergänzung.
In: Ingrid Fichtner (Hrsg.): Doppelgänger. Von endlosen Spielarten
eines Phänomens. Bern: Haupt Verlag 1999. S. 7) Spricht man von „Identität“,
so eröffnet sich erneut ein sehr breites Gebiet an unterschiedlichen
Definitionen und Begriffen. Wenn im Folgenden von „Identität“
die Rede ist, beziehe ich mich auf des Soziologen Jean-Claude Kaufmanns
Annährung an den Begriff. Kaufmann unterscheidet zunächst einmal
zwischen „Individuum“ und „Identität“. Er
meint, dass beide eng miteinander verknüpft, allerdings nicht als
Synonyme aufzufassen seien. Für ihn ist Identität ein Aspekt
des Individuums, der grundliegend für dessen Bildung ist. Dazu sagt
er:
„[d]as Individuum muss an sich selbst als beständige, autonome
Wesenheit glauben und ein System aus unbezweifelbaren Werten entwickeln.
Es muss sich beständig und ohne zu zögern selbst darstellen
und vom anderen unmittelbar identifiziert werden können. Mit anderen
Worten: Es muss eine Identität haben. (...) Die Identität ist
eine Umhüllung, die Selbstgewissheit verleiht. (...) Die Identität
ist das, wodurch sich das Individuum wahrnimmt und sich zu konstruieren
versucht, gegen diverse Zuweisungen, die es dazu zwingt, vorgegebene Partituren
zu spielen.“ (Kaufmann, Jean-Claude. Zitiert in: Herget, Sven: Spiegelbilder.
Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009.
S.138, 139)
Wie eben schon festgehalten wurde, verlor der Mensch mit dem Beginn der
Moderne wichtige Orientierungspunkte in seinem Leben, die ihm vorher durch
die Religion oder Monarchie gegeben waren. Er war nun sehr viel mehr auf
sich allein gestellt, musste sich selbst definieren. Im Zusammenhang damit
gewann die Psychoanalyse immer mehr Bedeutung. Man beschäftigte sich
mit dem Innenleben des Individuums, mit seiner Identität. So verwundert
es nicht, dass mit dem Aufkommen der Moderne auch das Doppelgängermotiv
in Literatur, Kunst und Film immer größere Bedeutung bekam.
In den folgenden Filmanalysen werde ich untersuchen, inwiefern unterschiedliche
Doppelgängertypen in den beiden Filmen zu finden sind. Außerdem
werde ich der Frage nachgehen, wieweit das Doppelgängermotiv im Zusammenhang
mit der postmodernen Thematik verwendet wurde.
Teil II
1. Das Doppelgängermotiv in Ingmar Bergmans Persona (1966)
„Ja, also der Film handelt von einer, die redet, und einer, die
schweigt, und dann vergleichen sie ihre Hände miteinander und dann
vermischen sie sich miteinander. Es wird ein sehr kurzer Film, der kann
sicher sehr billig werden.“ ( Bergman, Ingmar. Zitiert im Bonusmaterial
der DVD: Persona (1966). Ingmar Bergman Edition. Leipzig: Arthaus. 2010)
Mit diesen beiden Sätzen versuchte Bergman seinen Produzenten von
dem Film Persona zu überzeugen. Dies gelang problemlos, was vermutlich
vor allem mit dem Argument des Geldes zusammenhängt. Nichtsdestotrotz
scheint die knappe, nicht sehr aussagekräftige Handlungszusammenfassung,
die diesem Argument vorangestellt ist, perfekt auszudrücken, was
die Handlung ausmacht: Beginnt der Film noch kohärent nachvollziehbar
mit der Einführung seiner Protagonistinnen, so wird die Handlung
im Verlaufe des Filmes immer diffuser und die Identitäten der Protagonistinnen
immer undeutlicher.
Es geht um Elisabeth Vogler, eine Schauspielerin, die während einer
Aufführung des Stückes Elektra plötzlich verstummt ist
und seitdem kein Wort mehr spricht. Sie liegt alleine in einem Zimmer
eines Krankenhauses und scheint völlig von der Außenwelt abgekapselt
zu sein. Als ihr Schwester Alma als Pflegerin zugeteilt wird, fährt
sie mit ihr in das auf einer einsamen Insel gelegene Ferienhaus einer
Ärztin des Krankenhauses. Während Alma nahezu ununterbrochen
teilweise sehr intime Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählt,
schweigt Elisabeth fortwährend. Almas auf den ersten Blick perfekte
Beziehung zu ihrem Verlobten scheint nur nach außen hin glücklich
zu sein: Sie erzählt beispielsweise von ihrer Abtreibung oder orgiastischen
Sexualerlebnissen mit mehreren Partnern, bei denen sie ihren Verlobten
betrogen hat.
Elisabeth scheint Alma trotz ihres Schweigens zugetan, verhält sich
ihr gegenüber sehr zärtlich und aufmerksam. Im späteren
Verlauf des Filmes stellt sich jedoch heraus, dass Elisabeth Alma heimlich
beobachtet und ihr Verhalten analysiert und verspottet. Als Alma dies
erfährt, ist sie zutiefst gekränkt und versucht mit Gewalt Elisabeth
zum Reden zu bringen. Die Beziehung zwischen beiden scheint zerbrochen
– und dennoch sind sie sich auf seltsame Art und Weise so nahe wie
nie zuvor. Sie scheinen miteinander zu verschmelzen, zu einer Person zu
werden.
Es fällt schwer, genau zu definieren, was im Verlauf der Handlung
geschieht, da sie immer wieder neue Fragen aufwirft und unzählige
Interpretationsmöglichkeiten bietet. Eine eindeutige Entschlüsselung
des Filmes kann es nicht geben.
Auch meine folgende Analyse darf keineswegs als endgültige Erklärung
von Bergmans Film betrachtet werden. Vielmehr möchte ich mich einzelnen
Szenen unter Berücksichtigung des Doppelgängermotivs annähern
und versuchen, darin eine Verbindung zur Postmoderne zu finden.
1.1. Schauspielerei
In der Figur der Elisabeth Vogler findet sich schon zu Beginn das erste
Mal die Thematik des Doppelgängers. Elisabeth ist Schauspielerin,
verdient also ihr Geld damit, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen,
neben ihrer eigenen verschiedene andere Identitäten anzunehmen. Der
Filmtitel „Persona“ kann man hier als Anspielung auf die Bedeutung
des Begriffes für das antike Theater sehen: Eine Persona ist die
Maske des Schauspielers, die ihm dabei hilft, in unterschiedliche Rollen
zu schlüpfen. Elisabeth spielte die Protagonistin in einer Elektra-Aufführung.
Während einer Vorstellung erstarrte sie plötzlich und befindet
seitdem in einem Zustand des Schweigens.
Elektra ist eine Geschichte, in der es um Verrat, Schuld und Sühne
innerhalb einer Familie geht. Die Protagonistin, die ihren Mann getötet
hat, hat Alpträume, in denen sie von ihrem schlechten Gewissen verfolgt
wird. Ihr wird prophezeit, dass sie erst Ruhe findet, wenn die Schandtat
gerächt ist. Dies bedeutet, dass sie erst der eigene Tod von ihrem
schlechten Gewissen befreit. (Vgl. Inhaltsangabe Elektra. In: http://www.bayerische.staatsoper.de/885-ZG9tPWRvbTEmaWQ9MzUmbD1kZSZ0ZXJtaW49-~spielplan~oper~veranstaltungen~inhalt.html;
abgerufen am 15.03.2012.)
Im Verlauf des Filmes stellt sich heraus, dass sich Elisabeth in einer
vergleichbaren Situation befindet, wie die Protagonistin in Elektra: Zwar
hat sie keinen Mord an einem Familienmitglied begangen, aber sie konnte
zu ihrem Sohn niemals eine Beziehung aufbauen, da sie ihn seit seiner
Geburt hasste. Jegliche Annährungsversuche blockte sie ab. Auch von
ihrem Mann entfernte sie sich, indem sie sich in lethargisches Schweigen
hüllte und keinen Kontakt mehr zuließ. Seitdem ist sie in ihrer
Theaterrolle erstarrt und versteckt ihr wahres Gesicht hinter der Maske
(der „Persona“) ihrer Rolle. Als sie später ihr Mann
bei dem Haus der Ärztin besucht, nimmt sie niemals direkt Kontakt
zu ihm auf. Sie benutzt Alma wie eine Art Puppe, indem sie ihre Hand führt
und scheint durch Alma mit ihm zu sprechen. (Bergman, Ingmar: Persona.
1966. Min. 60:10 – 76:11) Schließlich übernimmt Alma
ganz Elisabeths Rolle, so wie Elisabeth die Rolle in Elektra übernommen
hat. Nur auf diese Weise kann Elisabeth mithilfe von Alma Gefühle
zeigen, Nähe zu ihrem Mann und ihrem Sohn zulassen.
1.2. Spiegelbilder
Die einzige Möglichkeit, das eigene Gesicht zu sehen, ist der Blick
in den Spiegel. Der Spiegel ist dabei das Medium, das dies ermöglicht,
oder wie Umberto Eco sagt, „die Prothese, die uns gestattet, visuelle
Reize auch dort wahrzunehmen, wo unsere Augen nicht hingelangen“.
(Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene. Zitiert in:
Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg:
Schüren Verlag 2009. S.72) Ein Spiegel dient uns zur Vergewisserung
unseres Selbst. Er bestätigt uns unsere Identität als Individuum,
aber stellt sie trotzdem in Frage, da er uns verdoppelt: Unser Ich ist
beim Blick in den Spiegel in Betrachter und Betrachteten gespalten. Zusätzlich
kann der Spiegel uns beweisen, dass wir unserer Idealvorstellung nicht
entsprechen. Er dient also als Mittel um uns unsere eigene Identität
zu beweisen, aber auch um sie zu hinterfragen. (Vgl. Herget, Sven: Spiegelbilder.
Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009.
S.74) Das Motiv des Spiegelbildes eignet sich also perfekt um die Konfrontation
mit dem eigenen Ich und die daraus resultierende Selbsterkenntnis darzustellen.
Man kann es als Verkörperung unserer Seele sehen.
In Persona gibt es eine sehr prägnante Spiegelszene, die insgesamt
dreimal gezeigt wird, aber jedesmal einen anderen Fokus hat. In dieser
Szene findet sich nicht nur die Doppelung der beiden Protagonistinnen,
die sich ja auffällig ähnlich sehen, sondern sogar eine Vervierfachung,
da sich beide vor einem Spiegel befinden.
Man sieht Alma und Elisabeth, wie sie sich nachts in Almas Zimmer begegnen,
sich vorsichtig umarmen und ihre Köpfe auf die Schulter der jeweils
anderen legen. Dann drehen sich beide um, sind der Kamera frontal zugewandt.
Sie blicken den Zuschauer nun direkt an. Es entsteht der Eindruck, man
befindet sich selbst an der Stelle von Alma und sieht ihr und Elisabeths
Spiegelbild.
Während der ganzen Szene blickt Alma unentwegt direkt den Zuschauer
an. Elisabeth steht schräg hinter Alma, sieht sie an, und streicht
ihr dann zärtlich von hinten über den Kopf und das Gesicht.
(Abb. 1)
Dann gleitet Almas Hand vorsichtig zu Elisabeths Haar und führt deren
Kopf so, dass er für den Zuschauer (und sie selbst) hinter ihrem
eigenen Kopf verschwindet. Für einen Kurzen Augenblick scheint es,
als befände sich Alma alleine vor dem Spiegel. (Abb. 2)
Beide tragen nahezu gleiche weiße Nachthemden, was ihre enorme Ähnlichkeit
noch mehr hervorhebt. Bereits in der vorangegangenen Szene wurde von Alma
im Zusammenhang mit einem Spiegel dies erstmals direkt thematisiert. Sie
sagt in dieser Szene:
“(...) sah ich in den Spiegel und dachte: ‚Wir sehen uns ähnlich‘.
Du darfst mich nicht falsch verstehen, aber irgendwie sehen wir uns ähnlich.
Ich glaube sogar, ich könnte mich in dich verwandeln“. (Bergman,
Ingmar: Persona. 1966. Min. 33:25 – 34:06)
Der Spiegel, der eigentlich als Beweis für Individualität dient,
führt hier also ins Gegenteil: Er scheint zu beweisen, dass die Identitäten
der beiden Protagonistinnen nicht ihre individuellen sind, sondern austauschbar.
Tatsächlich scheint Elisabeth am Ende der Szene ja kurz hinter Alma
zu verschwinden, Alma vertritt nun ihrer beider Spiegelbild.
Im Verlauf des Filmes vermischen sich nach und nach immer weiter die beiden
Personen, nicht nur in Form der Spiegelbilder, sondern auch in der filmischen
Realität. Als dies an seinem Höhepunkt angelangt ist, sieht
man noch einmal die Spiegelszene, allerdings mit starkem Fokus auf Alma.
(Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 75:47 – 76:11) Dadurch verschwindet
Elisabeth halb aus dem Bild, es wirkt, als wäre sie nur Nebenakteur
in der Szene und stünde unter der Kontrolle von Alma, die starr in
die Kamera sieht. Die Konflikte der beiden, die auch gewaltsam physisch
stattgefunden haben, haben sich nun auch auf das Spiegelbild übertragen:
Alma scheint die Oberhand über ihrer beider Identitäten zu haben.
Gegen Ende des Filmes wird ein letztes Mal die gleiche Szene gezeigt.
Hier sehen wir aber zunächst einmal nur Alma, die kurz vor der Abreise
der beiden alleine vor ihrem Spiegel steht. Man sieht erstmals sowohl
sie als auch ihr Spiegelbild. Sie richtet sich ihre Kleidung und fährt
sich mit der gleichen Bewegung durchs Haar, wie es Elisabeth in der besprochenen
Spiegelszene bei ihr tat. Für einen Moment sieht man die bekannte
Szene über die neue Spiegelung gelegt.
Beide Szenen und beide Spiegelungen sind nun gleichzeitig zu sehen. Alma
sieht man nun dreimal gleichzeitig (ihren Hinterkopf und den dazugehörigen
Kopf von vorne in der Spiegelung, wie auch die Spiegelung, in der sie
zusammen mit Elisabeth zu sehen ist.) Elisabeth hingegen ist nur noch
einmal zu sehen. Alle vier zu sehenden Personen sind miteinander verwischt,
es lässt sich nicht problemlos sagen, bei welcher Person es sich
um Bild und bei welcher um Abbild handelt. (Abb. 3) Geht man also im übertragenen
Sinne von Umberto Ecos Definition aus, dass ein Spiegel das wahrnimmt,
was unsere Augen nicht erkennen können, so kann man diese Szene als
Aufspaltung der verschiedenen Identitäten Almas sehen. Selbst Elisabeth
könnte eine dieser Identitäten sein, da ja auch sie Alma zum
verwechseln ähnlich sieht.
1.3. Zwillinge / Rollentausch
Während ein Spiegel das Medium ist, um etwas doppelt abzubilden,
ist ein Zwilling eine eigenständige Person, die nicht notwendigerweise
synchron mit ihrem Doppelgänger agieren muss. Das Motiv des Zwillings
ist häufig in Literatur, Film und Kunst zu finden. Dabei dienen Zwillinge
immer wieder dazu, Verwirrung innerhalb der filmischen Handlung, aber
auch beim Zuschauer selbst zu stiften. Dabei können Zwillinge als
perfektes Team, aber auch als Gegensatzpaar, beispielsweise in Form von
gutem und bösem Zwilling auftreten. (Vgl. Herget, Sven: Spiegelbilder.
Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009.
S.87) Fest steht allerdings, dass Zwillinge trotzdem immer als notwendig
zusammengehörend angesehen und miteinander verglichen werden. Häufig
steht das Zwillingsmotiv in Verbindung mit einem Rollentausch.
Bei den Protagonistinnen in Persona handelt es sich nicht um biologische
Zwillinge. Es wird jedoch so oft auf die enorme optische Ähnlichkeit
der beiden angespielt, dass ein Bezug zu dem Zwillingsmotiv als sinnvoll
erscheint.
Am Anfang des Filmes im Krankenhaus fällt die Ähnlichkeit der
beiden Frauen zunächst nicht prägnant auf. Elisabeth trägt
als Patientin ein langes, dunkles Nachthemd und ihre langen, gewellten
Haare hängen über ihre Schultern. Alma trägt ihre Berufskleidung
als Krankenschwester: Eine weiße Schürze und eine Haube über
ihrem kurzen Haar.
Erst in der Abgeschiedenheit der Insel nähern sich die beiden optisch
immer mehr aneinander an: In der ersten Szene, in der wir sie auf der
Insel sehen, tragen beide helle Oberteile und große Strohhüte.
Der einzige Unterschied besteht darin, dass Almas Hut schwarz und Elisabeths
weiß ist.
Bergman drehte Persona wie die meisten seiner Filme in schwarzweiß,
obwohl es zu der damaligen Zeit eigentlich schon üblich war, in Farbe
zu drehen. Durch die schwarzweiße Bildgestaltung und die Kameraführung
von Sven Nykvist entstehen in seinen Filmen immer wieder Chiaroscuro-Effekte,
wie sie hauptsächlich in der barocken Malerei zu finden sind. Sie
dienten ursprünglich dazu, innere Spannungen und seelische Befindlichkeiten
der Figuren zu betonen. (Vgl. http://studiochalkboard.evansville.edu/s-chiaro.html;
abgerufen am 15.03.2012) Auch bei Bergmans Werken kann man dies immer
wieder beobachten. Durch die starken Schwarzweiß-Kontraste, die
sich auch in der Kleidung der Protagonistinnen finden, kann man auch die
Nähe der beiden, die sich immer weiter entwickelt, erkennen.
Sind sich beide zu Beginn schon sehr ähnlich, so stehen die Farben
ihrer Hüte dennoch im Kontrast zueinander. Auch die Badeanzüge
und Morgenmäntel in den darauffolgenden Szenen unterscheiden sich:
Beide tragen zwar das gleiche, aber während Almas Kleidung hell und
gemustert ist, ist Elisabeths schwarz. Aber je ernster Almas Erzählungen
aus ihrer Vergangenheit werden, desto dunkler wird auch ihre Kleidung,
desto ähnlicher wird sie Elisabeth.
Schließlich sitzen beide in einer Szene am Küchentisch, tragen
schwarze Kleidung, Elisabeths Haare sind zurückgebunden, so dass
die an Almas Kurzhaarschnitt erinnern. Sie rauchen und trinken Tee. Dabei
ist ihre Sitzhaltung parallel zueinander. Sie sehen hier nicht mehr nur
aus wie Zwillinge, sondern schon fast wie die Spiegelung der jeweils anderen,
die Realität geworden ist. (Abb. 4)
Dann verschiebt sich die Kameraperspektive so, dass es aussieht, als gehöre
Almas Kopf auf ihrer beider Körper. Kurz darauf wird die optische
Ähnlichkeit der beiden das erste Mal von Alma direkt angesprochen.
Ab diesem Zeitpunkt kleiden sich die beiden auch in nahezu jeder Szene
wie Zwillinge.
An der Stelle, als Elisabeths Mann die beiden auf der Insel besucht, führt
das Ganze sogar so weit, dass Alma in Elisabeths Rolle schlüpft und
sie vor ihrem Mann als dessen Ehefrau vertritt. Alma kann dies aussprechen,
was ihrem „Zwilling“ Elisabeth nicht möglich ist.
Alma und Elisabeth agieren oft wie zwei Einzelteile, die nur zusammen
ein Ganzes ergeben. Nach und nach scheinen sie eine Symbiose einzugehen.
In einer Szene wird dies besonders deutlich: Alma kratzt sich mit ihren
Fingernägeln den Arm auf und hält ihn Elisabeth hin. Diese stürzt
sich sogleich darauf und beginnt, Almas Blut aufzusaugen. Sie ernährt
sich einem Vampir gleich vom Lebenssaft der anderen, nimmt einen Teil
von Almas Körper in sich auf. Direkt im Anschluss, schlägt Alma
wiederum auf Elisabeth ein. Die beiden können scheinbar nicht ohne
einander existieren, fühlen Zuneigung und Hass zugleich. (Vgl. Bergman,
Ingmar: Persona. 1966. Min. 71:40 – 74:40)
Der Höhepunkt in Bezug auf das Zwillingsmotiv findet sich sicherlich
in der Szene, in der Alma Elisabeths Geschichte offenbart. Plötzlich
weiß sie über die Vergangenheit der schweigenden Elisabeth
bescheid und konfrontiert sie damit. Dabei sitzen sich beide Protagonistinnen
gegenüber. Sie tragen die gleiche schwarze Kleidung, ihre Haare werden
von schwarzen Haarbändern zurückgehalten. Dadurch liegt der
Fokus stark auf dem hellen Gesicht der jeweiligen Person, das von der
schwarzen Kleidung umrahmt ist und die Ähnlichkeit der beiden betont.
Es wirkt, als wäre die eine die Spiegelung der anderen. Im Zwillingsmotiv
ist also das Spiegelmotiv lebendig geworden. Die Spiegelbilder können
ohne das Medium Spiegel eigenständig agieren. Doch nicht nur die
Protagonistinnen sind als Zwillinge das lebendig gewordene Spiegelbild
der jeweils anderen: Auch die Szene an sich wurde „gespiegelt“,
beziehungsweise „verdoppelt“: Man sieht den Monolog Almas
zweimal direkt hintereinander, wobei beim ersten Mal ausschließlich
Elisabeths Reaktion (Abb. 5) und beim zweiten Mal Alma (Abb. 6) gezeigt
wird. Dabei sehen sich beide so ähnlich, dass man als Zuschauer teilweise
unsicher ist, welche von beiden man nun gerade sieht. Am Ende der zweiten
Ansicht des Monologes, sieht man kurz eine Person, die aus jeweils einer
Gesichtshälfte von Alma und einer von Elisabeth besteht. Die „Zwillingshälften“
sind zu einem Ganzen geworden. (Abb. 7)
1.4. Alter Ego:
Der psychologische Doppelgänger
In seinem Werk über Das Unheimliche befasst sich Sigmund Freud aus
psychoanalytischer Sicht mit dem Motiv des Doppelgängers. Er sieht
darin eine Verwirrung des Ich, die zu einer Ich-Verdopplung, Ich-Teilung
oder Ich-Vertauschung führen kann. Für ihn ist der Doppelgänger
außerdem Verkörperung der inneren Wünsche, die das Urbild
einer Person nicht erfüllen kann. (Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche.
Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2000. S. 257-259) Das Alter
Ego einer Person ist also ein Doppelgänger, der die verborgenen Sehnsüchte
und Idealvorstellungen des Originals verkörpert, was dem Original
nicht möglich ist. Im Zusammenhang damit können unbefriedigte
Triebe, Hass, Wut oder Vergebung stehen. ( Vgl. Herget, Sven: Spiegelbilder.
Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg: Schüren Verlag 2009.
S.167)
Der dem Film titelgebende Begriff „Persona“ stammt, wie in
vorherigen Kapiteln schon erwähnt, ursprünglich aus dem antiken
Theater und steht für die Maske der Schauspieler, mit denen sie andere
Rollen annahmen. Aber auch in der Psychoanalyse bekam er eine wichtige
Bedeutung, als Carl Gustav Jung den Begriff für seine Theorien übernahm.
Die Persona steht hier für
„eine Art Maske, welche einerseits darauf berechnet ist, einen bestimmten
Eindruck auf die anderen zu machen [und] andererseits die wahre Natur
des Individuums zu verdecken“. (Jung, Carl Gustav. Zitiert in: Roth,
Wolfgang: C.G. Jung verstehen. Grundlagen der Analytischen Psychologie.
Düsseldorf: Patmos Verlag 2009. S. 69)
Damit sagt er, dass jeder Mensch seinem jeweiligen Umfeld entsprechend
verschiedene Masken - Personae - entwickelt, mit dem er auf die entsprechende
Umgebung reagiert und sich ihr anpasst. So gliedert er sich entweder ein
oder grenzt sich eventuell auch absichtlich ab. Ein Mensch kann zahlreiche
unterschiedliche Personae entwickeln, die je nachdem ob man sich gerade
im familiären Kreis, unter Freunden, bei der Arbeit oder wo auch
immer befindet, ausgetauscht werden. Auch im Verlauf eines Lebens oder
unter Veränderungen der Lebensumstände können sich die
jeweiligen Personae immer wieder verändern und weiterentwickeln.
Jung sieht darin folgendes Problem:
„Die Welt erzwingt ein gewisses Benehmen, und die professionellen
Leute strengen sich an, diesen Erwartungen zu entsprechen. Die Gefahr
ist nur, dass man mit der Persona identisch wird, so etwa der Professor
mit seinem Lehrbuch oder der Tenor mit seiner Stimme... Man könnte
mit einiger Übertreibung auch sagen, die Persona sei das, was einer
eigentlich nicht ist, sondern was er und die anderen Leute meinen, dass
er sei.“ ( Ebd. S. 69)
Man kann also sagen, dass die Persona über einen Menschen Überhand
nehmen kann, also irgendwann der psychologische Doppelgänger mächtiger
ist, als das Original.
Dies legt nahe, in Bergmans Persona das Motiv einer schizophrenen, gespaltenen
Persönlichkeit zu sehen. Tatsächlich wird der Film auch häufig
auf diese Art gedeutet. (Siehe dazu beispielsweise http://www.tip-berlin.de/berlinale2011/retrospektive-ingmar-bergman;
abgerufen am 16.03.2012) Bergman selbst bezeichnete seinen Film als eine
„Komposition verschiedener Stimmen im ‚Concerto grosso‘
derselben Seele“. (Bergman, Ingmar, zitiert in: http://www.vdfk.de/img/user/0609_final.pdf,
abgerufen am 16.03.2012)
Trotzdem wäre es sicherlich falsch zu sagen, Persona sei ein Film
über Schizophrenie. Es ließe sich schon von vorneherein keine
Lösung dafür finden, wer von den beiden Protagonistinnen nun
die Schizophrene, die Kranke ist und wer die Einbildung. Tatsächlich
kommt man zu keiner befriedigenden Lösung, die die Handlung komplett
enträtselt. Auch eine mögliche schizophrene Erkrankung einer
der beiden Protagonistinnen fügt die einzelnen Handlungselemente
in keinen kohärenten Zusammenhang.
Vielmehr sollte man die einzelnen Motive, seien es Spiegelungen, Zwillinge
oder Alter Ego, symbolisch betrachten und nicht als Elemente einer im
Sinne eines Hollywoodfilmes logischen Handlung. Dies ist auch wichtig
für die Betrachtung von Persona als postmodernem Film.
2. Persona als postmoderner Film
Wie zuvor schon erwähnt, lässt sich Persona nicht auf die Weise
verstehen, wie sich die Handlung eines typischen Hollywoodfilmes nachvollziehen
ließe. Hier gibt es spätestens am Ende eine Auflösung,
die die vorherigen Ereignisse erklärt und ein komplettes Bild zusammenfügt.
Hat man Persona zuende gesehen, so bleibt man allein mit vielen einzelnen
Eindrücken, die für sich stehen und oft scheinbar keinen logischen
Zusammenhang zueinander haben. Für Persona gibt es keine Auflösung
wie im klassischen Hollywoodfilm.
Als Zuschauer bekommt man permanent scheinbare Hinweise zur Deutung des
Filminhalts geliefert, die aber nur zu weiteren möglichen Hinweisen
und schließlich ins Leere führen. So lässt beispielsweise
auch die Erklärung einer Schizophrenie am Ende des Filmes noch viele
Fragen offen.
Innerhalb der Handlung finden sich zudem immer wieder Szenen, die den
Zuschauer in seiner gewohnten Haltung stark verunsichern. Dies ist beispielsweise
der Fall, wenn man im Film ein Spiegelbild sieht, obwohl sich die abgebildeten
Personen nicht vor dem Spiegel befinden.
Typisch postmodern sind auch die im Film enthaltenen Anspielungen auf
seine eigene Medialität. Man sieht zwischendurch beispielsweise kurz
das Kamerateam oder am Anfang und Ende den Projektor, der die Filmrolle
abspielt.
(Das Thema der Medialität ist für Persona und auch den im Anschluss
zu besprechenden Film Mulholland Drive gerade in Bezug auf die Postmoderne
sicherlich sehr interessant. Eine genauere Untersuchung dieses Themengebietes
würde hier jedoch den Rahmen erheblich sprengen. Deswegen beziehe
ich mich in dieser Arbeit ausschließlich auf das Motiv des Doppelgängers.
Ein Blick in andere Arbeiten über die Medialität in den Filmen
Bergmans oder Lynchs ist bei Interesse aber in jedem Fall empfehlenswert.)
Es lässt sich sagen, dass es sich bei Persona um einen Essayfilm
handelt, der sich mit bestimmten Themen wie beispielsweise der Hinterfragung
von Identität auseinandersetzt, und neue Gedankengänge anregt.
Persona liefert also keineswegs Antworten, sondern stellt dem Zuschauer
vielmehr Fragen.
Typisch für die Filme Bergmans aus den 60er Jahren ist auch die mitschwingende
Kritik an der Moderne im Sinne von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer,
die ihre Dialektik der Aufklärung mit folgenden Worten beginnen:
„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden
Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie
als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt
im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die
Entzauberung der Welt. Sie wollte Mythen auflösen und Einbildung
durch Wissen stürzen.“ ( Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max:
Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.
M.: Fischer Verlag 1969. S. 9)
Man kann also sagen, dass die Welt entmystifiziert wird, da man beispielsweise
anstelle von Gott die Wissenschaft und den Kapitalismus gesetzt hat.
Bergmans Filme handeln oft von Menschen, die in dieser Welt auf der Suche
nach dem Sinn des Lebens sind. In seiner Kammerspieltrilogie kann man
dies vor allem in Form von der verzweifelten Suche nach Gott erkennen:
In Wie in einem Spiegel (1961) gibt es zwar so etwas wie einen Gott, allerdings
nur in Form eines Spinnenungeheuers, welches eine psychisch kranke Frau
sieht. Im zweiten Teil der Trilogie, Licht im Winter (1962), versucht
eine kleine Gemeinde verzweifelt mit regelmäßigen Gebeten und
Gottesdienstbesuchen an Gott festzuhalten, obwohl niemand, am wenigsten
der Pfarrer, an einen Gott glaubt. In Das Schweigen (1963) wird ein Gott
nicht mehr thematisiert. Stattdessen versuchen die Protagonistinnen in
einer fremden Stadt, in der keine Kommunikation möglich ist, ihrem
Leben einen Sinn zu geben. Die eine stürzt sich in eine Welt voller
erotischer Abenteuer und vernachlässigt dabei ihren kleinen Sohn,
während die andere als Kettenraucherin und Alkoholikerin ihrem Ende
entgegensieht.
In Persona liest Alma in einer Szene Elisabeth Folgendes aus ihrem Buch
vor:
„All diese Ängste, die wir in uns tragen, unsere vereitelten
Träume, die unerklärliche Grausamkeit, unsere Qual bei dem Gedanken
ausgelöscht zu werden, die schmerzvolle Erkenntnis unseres Zustandes,
haben unsere Hoffnung auf Errettung jenseits dieser Welt allmählich
herauskristallisiert. Schreie unseres Glaubens und unseres Zweifels in
die Finsternis und Stille sind einer der fürchterlichsten Beweise
unserer Verlorenheit, der angstvollen Erkenntnis, die ausgesprochen bleibt.“
(Schwester Alma in: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 22:16 –
22:53)
Auch in Persona gibt es scheinbar keinen festen Anhaltspunkt, keinen Gott.
Auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens scheinen sich die Protagonistinnen
in der Finsternis ihres eigenen Ichs zu verlieren.
In einer späteren Szene hört man aus dem Off eine Stimme sagen:
„Ich für meinen Teil glaube, dass es einfach eine Inflation
an Worten wie 'Leere‘, 'Einsamkeit‘, 'Entfremdung‘,
'Schmerz‘, 'Hilflosigkeit‘ ist“. ( Bergman, Ingmar:
Persona. 1966. Min. 44:34 – 45:10)
Auch dies ist wieder die Beschreibung einer Welt, in der die Menschen
ziel- und sinnlos vor sich hinvegetieren. Einer Welt, die sich nach und
nach selbst im Nichts auflösen wird. Und genau dies passiert auch:
man sieht, wie das Filmbild zerfetzt wird und von innen heraus verbrennt,
als würde alles aus sich selbst heraus verschlungen.
Am Ende des Filmes wird der Zuschauer mit den großen Fragen der
Philosophie alleine gelassen: Was ist der Sinn unseres Lebens, unserer
Existenz? Wofür gibt es das alles? Gibt es jemanden, der, wie es
Alma formuliert, „die Schreie des Glaubens“ erhört? Innerhalb
von Persona wird dies am Ende des Filmes zumindest angedeutet:
Elisabeth bricht ihr Schweigen und sagt: „nichts“.
Teil III
1. Das Doppelgängermotiv in David Lynchs Mulholland Drive (2001)
„ No hay banda. Es gibt keine Band. Das ist alles eine Bandaufnahme.
No hay banda. Und dennoch hören wir eine Band. (...) Es ist alles
aufgezeichnet. No hay banda. Es ist alles ein Tonband. Es ist eine Illusion.
Hören Sie!” (Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 100:00
- 143:00)
Spätestens wenn der dämonisch wirkende Moderator im Club Silencio
diese Sätze verkündet, kann man sich sicher sein, dass er damit
nicht nur die Hauptcharaktere im Zuschauerraum des Club Silencio im Film
selbst, sondern genauso die Zuschauer im Kinosaal anspricht.
Mit dieser Szene verschwindet für den Zuschauer endgültig jeder
Anhaltspunkt, der ihm für die Erklärung des bisher Gesehenen
wichtig erschien. Die Realität scheint verdreht zu sein, alles ist
auf den Kopf gestellt. Man sieht nur noch diesen Mann, der einem mit höhnischem
Grinsen verrät, dass alles, woran man bisher geglaubt hat, nur eine
Illusion ist.
Die Rede ist hier von Mulholland Drive, einem Film aus dem Jahre 2001
von dem Regisseur David Lynch. Lynchs Filme haben weltweit Kultstatus
erreicht. Die Meinungen darüber polarisieren stark, was damit zusammenhängen
könnte, dass seine Filme sich stark von den gängigen Hollywoodproduktionen
unterscheiden.
Ähnlich wie bei Bergmans Persona ist es bei Mulholland Drive nahezu
unmöglich festzulegen, worum es eigentlich geht, da die Filme sowohl
auf narrativer als auch auf ästhetischer Ebene unzählige Deutungen
zulassen. Sucht man bei Google nach Interpretationen für Lynchs Mulholland
Drive, werden fast 500.000 Ergebnisse angezeigt. (Vgl. Suchvorgang auf
http://www.google.de/ mit den Begriffen „Mulholland Drive Interpretation“
am 18.05.2012)
Sowohl im Internet als auch in der Fachliteratur hat sich meist die Interpretation
durchgesetzt, dass es sich bei den ersten beiden Dritteln des Filmes um
eine Traumversion der Realität handelt. Wenn ich diese Interpretation
in meiner Arbeit als roten Faden hinzuziehe, so soll im Vorhinein festgehalten
werden, dass dies keineswegs die einzige und richtige Erklärung für
den Film ist, da diese, genau wie bei Persona, schlichtweg nicht existiert.
Auf narrativer Ebene handelt Mulholland Drive von der aus einer kanadischen
Kleinstadt stammenden Diane Selwyn, die einen Tanzwettbewerb gewinnt und
daraufhin Schauspielerin werden möchte. Nachdem ihr ihre Tante, die
in der Filmbranche arbeitete, etwas Geld hinterlassen hat, beschließt
Diane nach Hollywood zu gehen, um dort ihr Glück zu suchen. Sie lernt
die erfolgreiche Schauspielerin Camilla Rhodes kennen und verliebt sich
in sie. Diane muss jedoch feststellen, dass Camilla sie nur als eine von
ihren vielen Affären ausnutzt. Diane wird von der Gesellschaft Hollywoods
nicht akzeptiert und von der Filmbranche abgelehnt. In ihrer Verzweiflung
über die gescheiterte Karriere und ihre unglückliche Liebe zu
Camilla, engagiert sie einen Killer, der diese umbringt.
Diane verarbeitet ihre Gedanken und Erlebnisse, indem sie traumhaft eine
falsche Realität aufbaut. Sie ist nun die talentierte und beliebte
Jungschauspielerin Betty Elms, die durch ihr Talent eine große Karriere
in Hollywood erwartet. Zudem wird sie zur Vorbildfigur der unter Amnesie
leidenden Rita, mit der sie eine leidenschaftliche Liebesbeziehung beginnt.
1.1. Schauspielerei
Ähnlich wie Persona erzählt auch Mulholland Drive die Geschichte
einer Schauspielerin. Diane Selwyn kommt nach Hollywood, um dort Karriere
zu machen. Doch sie stellt fest, dass dort nicht das Talent zählt,
sondern die Beziehungen, die man zu den richtigen Personen hat. Sie verliebt
sich in die erfolgreiche Schauspielerin Camilla Rhodes, muss aber schnell
feststellen, dass diese ihre Liebe nicht erwidert, sondern sie nur als
eine von vielen Affären als Zeitvertreib ausnutzt. Stattdessen verlobt
sich Camilla mit dem berühmten Regisseur Adam Kesher, der sie im
Gegensatz zu Diane bei ihrer Karriere unterstützen kann. Gefühle
existieren nicht, das Leben der Menschen ist nach Erfolg und Ruhm ausgerichtet.
Die Menschen verschließen ihre Gefühle komplett und scheinen
ausschließlich im Sinne von C.G. Jung aus ihrer ihrem jeweiligen
Umfeld angepassten Persona zu bestehen. Sie spielen permanent Rollen,
um den höchst möglichen Profit zu erzielen.
Auch in ihrer Traumversion von der Welt ist Diane als Betty eine angehende
Jungschauspielerin. Doch in dieser Version entwickelt sich alles anders:
Hier wird tatsächlich Talent belohnt und die Schauspielerei kommt
zumindest auf den ersten Blick nur dann zum Einsatz, wenn sie gefragt
ist. Im Alltag ist jeder Mensch er selbst.
In einer Szene übt Betty mit Rita für ihr Vorsprechen. Beide
sprechen mit verteilten Rollen. Betty gestikuliert dabei wild und spielt
völlig übertrieben und unglaubhaft. Das Ganze wirkt wie die
Probe zu einer Schultheateraufführung. (Vgl. Lynch, David: Mulholland
Drive. 2001. Min. 66:40 – 67:50) Das tatsächliche Vorsprechen
später wirkt dagegen wie das genaue Gegenteil: Der Regisseur gibt
den Schauspielern die Anweisung, „nicht realistisch zu spielen,
es sei denn es werde realistisch“. Danach scheint Betty plötzlich
nicht mehr eine Rolle zu spielen, sondern sich in diese Rolle zu verwandeln.
Aus der schüchternen, liebenswerten Betty wird eine leidenschaftliche
Femme Fatale. (Vgl. Ebd. Min. 72:04 – 76:25) Für den Augenblick
scheint es, als habe ein Identitätswechsel stattgefunden. Die Rolle,
die sie in dieser Szene verkörpert, erinnert stark an die reale Camilla
Rhodes, die Diane Selwyn verführt und enttäuscht hat.
1.2. Spiegelbilder
Das Motiv des Spiegels scheint besonders in einer Szene von großer
Wichtigkeit: Die an Gedächtnisverlust leidende, dunkelhaarige Protagonistin
hat sich in Bettys Wohnung geflüchtet. Als Betty sie dort entdeckt
und nach ihrem Namen fragt, ist sie tief verstört. Ihre Identität
ist ihr völlig unbekannt. Nun sieht die Frau in den Spiegel. Dort
erblickt sie sowohl ihr eigenes Abbild, als auch die Spiegelung eines
Filmplakates im Vergrößerungsspiegel. (Abb. 8) Es ist ein Plakat
des Hollywoodklassikers Gilda aus den vierziger Jahren und zeigt die Hollywooddiva
Rita Hayworth, die die Hauptrolle spielte. Die Frau nimmt von nun an selbst
den Namen „Rita“ an. (Vgl. Ebd.. Min. 22:35 – 24:25)
Die beiden Abbilder der Spiegelungen verschmelzen in der Realität
in Gestalt der gedächtnislosen Frau in einer Person zusammen. Ihr
Identitäten vermischen sich. Sicherlich wurde dazu nicht zufällig
gerade dieses bestimmt Filmplakat gewählt.
Tatsächlich gibt es einige Parallelen zwischen Mulholland Drive und
den Motiven in Gilda. Die Protagonistin in Gilda provoziert auf der einen
Seite mit ihrer Erotik, während sie auf der anderen Seite eine fast
schon unterwürfige Rolle einnimmt. Dasselbe trifft auch auf die brünette
Protagonistin in Lynchs Mulholland Drive zu: Als Rita ist sie hilflos
und komplett auf Betty angewiesen, während sie als Camilla mit ihrer
Erotik sämtliche Männer und Frauen in Hollywood um den Finger
wickelt und ausnutzt.
Schauspielerin Rita Hayworth war zudem ein typischer Hollywoodstar der
vierziger Jahre: Wenn in Hollywood ein gewisser Typ gesucht wurde, der
zum Hollywoodstar gemacht werden sollte, ging man zunächst auf die
Suche nach potentiellen Talenten. Hatte man solch ein Talent gefunden,
wurde der jeweiligen Person ein Künstlername gegeben und eine passende
Biografie dazu erfunden, die zu dem gesuchten Startypen passte. Danach
wurde ihm Personal zugeteilt, welches dafür sorgte, dass er sich
zu seiner neuen Biografie passend verhielt und kleidete. (Vgl. Sennett,
Robert S.: Traumfabrik Hollywood. Wie Stars gemacht und Mythen geboren
wurden. Hamburg/Wien: Europa Verlag GmbH 2000. S. 28-30) Auch Rita Hayworths
Karriere wurde auf diese Weise organisiert. Aus der schüchternen
mexikanischen Tänzerin Margarita Cansino wurde also Rita Hayworth,
die sich nach den Vorlieben ihrer Ehemänner und ihrer Fans ihre Haare
zuerst rot, dann blond, dann wieder rot färbte. Sie wurde in die
High Society eingeführt und zum Sexsymbol gemacht. ( Vgl. Ebd. S.
31,32)
Hayworth erkrankte schließlich an Alzheimer, einer Krankheit, die
nach und nach zu immer weiteren Gedächtnisverlusten führt. (Vgl.
http://www.imdb.com/name/nm0000028/bio; abgerufen am 18.05.2012) Auch
dies kann man sicherlich als Parallele zu der gedächtnislosen dunkelhaarigen
Frau in Mulholland Drive sehen.
Bei der Betrachtung des Spiegelmotives in Persona wurde ja bereits herausgestellt,
dass ein Spiegel einerseits zur Vergewisserung unseres Selbst dient, andererseits
aber auch unsere eigene Identität hinterfragen kann. Für Rita
ist der Spiegel zunächst der einzige Anhaltspunkt, den sie über
ihre Identität hat. Aber wie in Persona erkennt sie im Spiegel nicht
nur sich selbst, sondern in Form von Rita Hayworth auch eine Art Doppelgängerin,
mit der sie außerhalb des Spiegels verschmilzt. Sie nimmt Ritas
Namen an und macht sie somit zu einem Teil von sich selbst.
1.3. Zwillinge / Rollentausch
In Bergmans Persona konnte man beobachten, wie sich die beiden Protagonistinnen
im Verlaufe des Filmes immer ähnlicher wurden. Dies war sowohl optisch
als auch innerlich der Fall. Schließlich verschmolzen sogar beide
Personen zu einer zusammen. Etwas ähnliches kann man auch bei Mulholland
Drive beobachten. (Vgl. Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min. 92:21
– 98:10)
Nachdem Betty und Rita die Leiche Diane Selwyns gefunden haben, beginnt
sich ihre Realität langsam aufzulösen. Die Leiche innerhalb
des Filmes befindet sich an der gleichen Stelle wie die schlafende Diane,
die gerade die gesamte bisherige Filmhandlung träumt, beziehungsweise
an der Stelle, an der am Ende des Filmes Dianes Leiche liegen wird. Traum
und Realität überschneiden sich hier also, was dazu führt,
dass die doppelten Welten durcheinander geraten. Auf bildlicher Ebene
sieht man dies, durch die mehrfach übereinander gelegten Aufnahmen
der Protagonistinnen. Sie sind nun, ähnlich wie in der letzten Spiegelungsszene
in Persona, mehrmals gleichzeitig zu sehen. Ein Individuum wurde in mehrere
Identitäten gespalten, ist nicht mehr klar erkennbar. (Abb. 9) Der
Leichenfund bedeutet zudem, dass Ritas letzte Hoffnung herauszufinden,
wer sie eigentlich ist, verloren gegangen ist. In der darauffolgenden
Szene wird sie sich nun eine neue, künstliche Identität zulegen.
Sie schneidet sich ihr Haar ab, bis Betty sie davon abhält und selbst
die Kreierung von Ritas neuer Person(a) übernimmt: In der nächsten
Einstellung sehen wir Rita mit Perücke. Sie trägt nun dieselbe
Frisur wie Betty und sieht ihr auch wie eine Zwillingsschwester ähnlich.
Beide betrachten sich im Spiegel, was natürlich wieder das Thema
der Selbstidentifizierung aufgreift. Die Szene erinnert stark an die Spiegelszene
aus Persona, in der Alma Elisabeths Kopf führt wie eine Puppe. Betty
steht neben starren Rita und hat den Arm um sie gelegt, als präsentiere
sie ihre Doppelgängerin als lebendige Puppe. (Abb. 10)
Ähnlich wie bei Persona führt die enorme optische Ähnlichkeit
der Protagonistinnen gleichzeitig zum Verschmelzen, aber auch zur Trennung
der beiden: Während in Persona die Beziehung von Alma und Elisabeth
zu körperlicher Nähe und Zuneigung führt, die sich in Hass
wandelt, so erreicht die Beziehung von Betty und Rita in einer gemeinsamen
Liebesnacht ihren Höhepunkt, dem kurz darauf aber das Ende Dianes
Traumes und somit auch ihrer glücklichen Beziehung, folgt.
Auch am Ende von Mulholland Drive, wenn man durch episodische Rückblenden
die Vorgeschichte von Diane und Camilla erfährt, kann man das Zwillingsmotiv
erkennen. Allerdings in genau anderer Weise als zuvor im Traum: Dort war
es Rita, die zum Zwilling Bettys wurde, in der Realität ist es aber
Diane, die Camilla als ihre große Liebe und ihr Idol sieht und sich
ihr auch optisch versucht anzunähern.
1.4. Alter Ego:
a) Der psychologische Doppelgänger
Lynchs Filme werden häufig mit Theorien der klassischen Psychoanalyse
nach Sigmund Freud in Verbindung gesetzt, sei es in Zusammenhang mit dem
von ihm beschriebenen Ödipuskomplex, dem Unheimlichen oder seiner
Traumdeutung. (Vgl. Nochimson, Martha: The Passion of David Lynch. Wild
at Heart in Hollywood. Austin: University of Texas Press 1997. S. 18,
19) Betrachtet man Mulholland Drive im Sinne von Freuds Traumdeutung,
so ist der erste Teil des Filmes der Traum von Diane Selwyn, indem sie
ihre Erinnerungen und Erlebnisse verarbeitet. Laut Freud stammt alles
Material, aus dem sich die Trauminhalte zusammensetzen, auf irgendeine
Weise von Erlebtem ab. Das heißt, im Traum wird reproduziert, beziehungsweise
erinnert. Dabei kann es sich um Erlebnisse aus der näheren Vergangenheit,
aber auch um verdrängte Erinnerungen aus der Kindheit handeln. (Vgl.
http://www.uni-koeln.de/phil-fak/fs-psych/serv_pro/skripte/allg2/Traumdeutung.pdf;
abgerufen am 19.03.2012) Freud ist der Ansicht, dass ein Traum oft „eine
sonst unterdrückte Triebregung (einen unbewussten Wunsch)“
zum Anlass hat. (Vgl. Freud, Sigmund: Abriß der Psychoanalyse. Einführende
Darstellungen. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2009. S. 61)
Jeder Traum dient zur Befriedigung eines Triebes, beispielsweise der „Auflösung
eines Konfliktes, Aufhebung eines Zweifels oder Herstellung eines Vorsatzes“.
( Vgl. Ebd. S. 65)
Übertragen auf Mulholland Drive bedeutet dies, dass
der letzte Teil des Filmes aus nicht chronologisch angeordneten Realitätsschnipseln
besteht, während die ersten beiden Drittel des Filmes die geträumte
Version von Dianes Realität ist, in der sie ihre Erlebnisse verarbeitet.
Allen voran wird ihre hoffnungslose Liebe zu Camilla Rhodes und ihr schlechtes
Gewissen in Hinsicht auf den Mord, den sie an ihr verübt hat, thematisiert.
Im Film existiert demnach zu jedem Protagonist der Realität auch
sein jeweiliger Doppelgänger innerhalb von Dianes geträumter
Version der Realität.
Aus der erfolglosen, depressiven Diane, die aus Enttäuschung und
Eifersucht ihre große Liebe ermorden ließ (Abb. 11), wird
die talentierte, erfolgreiche Jungschauspielerin, die ihr Leben selbst
in die Hand nimmt und eine romantische Liebe findet (Abb. 12).
Camilla Rhodes, eine Filmdiva, die durch ihre Beziehungen zu wichtigen
Filmleuten in Hollywood erfolgreich wurde, wird zur gedächtnislosen,
verschüchterten Rita, die ganz auf Bettys Hilfe angewiesen ist und
zu ihr aufschaut. Zwischen beiden entwickelt sich eine romantische Liebesbeziehung.
Betty wirkt im Gegensatz zu Rita viel selbstsicherer, intelligenter und
vorbildhafter. Dies steigert sich sogar so weit, dass Rita auch optisch
Betty ähneln will und dies mit Hilfe einer Perücke tut. Die
Suche nach Ritas Identität, die einer Detektivgeschichte gleicht,
führt die beiden Frauen schließlich zur Entlarvung des Traumes
und dadurch zu Bettys wahrer Identität.
Neben der Geschichte von Rita und Betty werden parallel noch verschiedene
andere Episoden erzählt, die scheinbar nichts mit den Erlebnissen
der beiden Frauen zu tun haben. Erst am Ende, als das Traumhafte enttarnt
wird und man etwas über die Realität erfährt, scheinen
die Geschichten, zumindest teilweise zusammenzulaufen.
So sieht man in einer Episode einen Mann mit seinem Therapeuten in dem
Diner „Winkies“ sitzen. Er erzählt ihm von einem Albtraum,
in dem er einen Mann hinter dem Diner sieht, der „die Ursache“
für seine nicht näher erläuterte Angst ist. (Vgl. Lynch,
David: Mulholland Drive. 2001. Min. 11:12 - 15:57) Als die beiden nachsehen,
erscheint tatsächlich ein verdreckter, seltsam statisch wirkender
Mann, für einen kurzen Moment und der Patient bricht zusammen. In
Dianes Realität sieht man den Therapeuten und seinen Patienten nicht,
aber Diane und der Killer sitzen auf denselben Plätzen im Diner wie
die beiden, als sie ihm den Mordauftrag an Camilla erteilt. (Vgl. Ebd.
Min. 130:30 - 132:18) Zudem ist es derselbe scheinbar obdachlose Mann,
dessen Erscheinen zum Zusammenbruch von dem Patienten führt, der
am Ende des Filmes in der (vermutlichen) Realität das ältere
Ehepaar hinauslässt, welches Diane in den Selbstmord treibt. Man
könnte spekulieren, dass es sich bei diesem obdachlosen Mann (der
genauso wie die Betty von der Schauspielerin Naomi Watts verkörpert
wird) um eine Metapher für Dianes schlechtes Gewissen handelt und
die Szene mit dem Therapeuten und seinem Patienten eine Vorausdeutung
auf Dianes späteren Selbstmord ist.
In drei unterschiedlichen Zusammenhängen im Film erscheint ein älteres
Ehepaar. Ganz am Anfang des Filmes sieht man die beiden zusammen mit Diane
(oder Betty?) kurz nach Bildern von Jitterbug-Tänzern. (Vgl. Ebd.
Min. 00:00 - 01:47) Desweiteren begegnen sie Betty Elms bei ihrer traumhaft
wirkenden Ankunft in L.A. und umsorgen sie liebevoll. Als Betty jedoch
weg ist, beginnen sie auf eine seltsame, abstoßende Art zu lachen.
Das perfekt wirkende Hollywood bekommt dadurch schon bei Bettys Ankunft
einen bitteren Nachgeschmack für den Zuschauer. (Vgl. Ebd. Min. 17:05
- 19:02) Das ältere Ehepaar begegnet Diane schließlich auch
in der Gegenwart, allerdings in der Gestalt von kleinen, dämonischen
Wesen, die unter ihrer Tür hindurch kriechen, danach plötzlich
wieder groß werden und Diane in den Wahnsinn und Selbstmord treiben.
(Vgl. Ebd. Min. 132:26 - 135:25) Dem Zuschauer, der die Geschichte um
Betty Elms bisher als Traum und die Geschichte um Diane Selwyn als Realität,
angesehen hat, wird hier der Boden unter den Füßen weggerissen,
da diese völlig surreale Szene am Ende das komplette Realitätsverständnis
noch einmal außer Kraft setzt. Desweiteren fällt es schwer,
die erste Szene mit dem späteren Auftauchen des älteren Ehepaares
in Verbindung zu setzen. Diane erzählt an einer Stelle im Film, dass
sie einen Jitterbug-Wettbewerb gewonnen hat und daraus der Wunsch entstanden
ist, Schauspielerin zu werden. Könnten die beiden älteren Personen
Verwandte von Diane sein, die sie bei ihrer Karriere unter Druck gesetzt
haben? Ist es dieser Karrieredruck, der alle weiteren Geschehnisse nach
sich zieht? Ein weiteres Mal bleiben viele ungeklärte Fragen.
Adam Kesher ist in der vermutlichen Traumversion, sowie in der Realität
ein junger Regisseur in Hollywood. In der Realität scheint er aus
einer wohlhabenden Familie zu stammen, die in Hollywood bekannt ist. Wieder
einmal spielt Lynch also darauf an, dass Beziehungen und der gute Ruf
in Hollywood alles bedeuten, dass man auch außerhalb einer Filmdrehs
permanent in einer Rolle sein, also im Sinne von C.G. Jung stark ausgeprägte
„Personae“ haben muss. Dafür könnte auch sprechen,
dass er mit Camilla Rhodes, die scheinbar alles dafür tut, um ein
Star zu sein, verlobt ist. In der Traumwelt hat Kesher es lange nicht
so einfach: Er wird von den unterschiedlichsten Instanzen erniedrigt und
erpresst, hat keine künstlerische Freiheit. Auch privat könnte
es nicht schlechter laufen: Er wird vom Liebhaber seiner Frau aus seinem
eigenen Haus geworfen und ist pleite. Die Situation Keshers in der Traumwelt
ähnelt der von Diane in der Realität auffällig. Im Gegensatz
dazu hat Kesher in der Realität das, was Betty in der Traumwelt hat:
Erfolg im Beruf und eine feste Liebesbeziehung zu Camilla (beziehungsweise
Rita).
Der Killer, der Camilla im Auftrag von Diane tötet, ist in der Traumwelt
ein tollpatschiger Dieb, der eher versehentlich zum mehrfachen Mörder
wird. (Vgl. Ebd. Min. 34:47 - 39:11) Auch dies könnte dafür
sprechen, dass Diane in ihrem Traum ihr schlechtes Gewissen zu verarbeiten
versucht. So wird aus dem blutrünstigen Mörder ein eher bedauernswerter
Kleinkrimineller aus der unteren Gesellschaftsschicht.
Die Figur des Cowboys ist sehr ungenau definiert. Er tritt in der Traumwelt
als Erpresser Keshers auf. In der Realität weckt er Diane aus ihrem
Alptraum auf und ist ebenfalls auf der Party, auf der alle Geschehnisse
zusammenlaufen, einmal kurz zu sehen. Alles in allem kann man ihn sehr
schlecht zuordnen. Er wirkt wie eine Figur aus einem Western, die irgendwie
in diesen Film hineingerutscht ist. Obwohl er eigentlich nichts wirklich
Bedeutsames sagt oder tut, wirkt es dennoch, als wäre er wichtig
für alle Zusammenhänge.
Interessant ist zuletzt, dass die Haupcharaktere Diane Selwyn und Camilla
Rhodes im Traum zu Betty Elms und Rita werden, es aber dennoch auch in
der Traumwelt Figuren mit den realen Namen der Protagonisten gibt.
So weist die Diane Selwyn des Traumes einige Parallelen zu der Diane Selwyn
der Realität auf. Sie scheint eine einsame Frau zu sein, da ihre
Leiche nach ihrem Tod einige Zeit in ihrer Wohnung liegt, ohne dass jemand
zu bemerken scheint, dass sich dort nichts mehr tut. Erst Betty und Rita
entdecken schließlich Dianes verwesten Körper, als sie auf
der Suche nach Ritas Identität sind und finden somit eher Bettys
als Ritas wahre Identität.
Über die Camilla Rhodes der Traumwelt erfährt man sehr wenig.
Sie ist Schauspielerin und bewirbt sich um die Hauptrolle in Keshers neuem
Film. Kesher wird von verschiedensten Seiten unter Druck gesetzt, dass
sie die Hauptrolle bekommen soll. Alles wirkt wie eine große Verschwörung,
nur der eigentliche Sinn dahinter bleibt verborgen.
Man kann zusammenfassend sagen, dass die realen Personen fast immer das
Gegenteil ihrer Doppelgänger in der geträumten Version verkörpern.
Oft tragen die Doppelgänger auch dazu bei, das schlechte Gewissen
von Diane zu verarbeiten. Doch dies gelingt nicht: Auch in der Realität
wird sie von ihrer Tat eingeholt und schließlich in den Wahnsinn
und den Selbstmord getrieben.
b) Der soziologische Doppelgänger
Bei der Besprechung von Persona hat sich herausgestellt, dass der Film
von der vergeblichen Suche nach dem Sinn des Lebens handelt und die Protagonistinnen
auf der Suche danach ihr eigenes Ich verlieren. Es gibt keinen Gott mehr
in der Welt, stattdessen existiert nur Leere, das Nichts.
In der Welt von Mulholland Drive kann man eine weitere Entwicklung dieses
Motives sehen. Auch hier existiert kein Gott. Stattdessen ist der Kapitalismus
an seine Stelle gerückt. Nicht umsonst spielt die filmische Handlung
in Hollywood. Die Menschen sind allein darauf ausgerichtet möglichst
schön und erfolgreich zu sein. Alles was zählt, ist der Ruhm,
die Anerkennung und der Neid der Mitmenschen. Wahre Freundschaft existiert
nicht. Zwischenmenschliche Beziehungen finden statt, um den Status in
der Gesellschaft zu erhöhen oder die Langeweile zu vertreiben.
Gilles Deleuze und Félix Guattari liefern in ihrem Werk Anti-Ödipus.
Kapitalismus und Schizophrenie einen Deutungsansatz, der sich dem Phänomen
der Identitätsverdoppelung nicht aus psychologischer, sondern aus
soziologischer Sicht annähert.
Was in der Psychoanalyse als das Unbewusste bezeichnet wird, fassen Deleuze
und Guattari in eine Maschinenbegrifflichkeit. Dabei sehen sie natürliche
und gesellschaftliche Vorgänge als miteinander verbundene Prozesse
an. (Vgl. Ott, Michaela: Gilles Deleuze zur Einführung. Hamburg:
Junius Verlag 2005. S. 98) Im Gegensatz zur Psychoanalyse, die das Unbewusste
im Zusammenhang mit dem ödipalen Verhalten und dem Mangel an etwas
sieht, sind die von ihnen eingeführten „Wunschmaschinen“
von Wünschen geleitet. In Verbindung mit dem Kapitalismus führt
dies laut Deleuze und Guattari zu einer „ungeheuren schizophrenen
Ladung“, da der Kapitalismus nicht aufhört „seine Entwicklungstendenz
zu durchkreuzen und zu hemmen wie gleichermaßen sich in sie zu stürzen
und zu beschleunigen“ und „seine Grenze wegzustoßen
und sich ihr zu nähern“. (Vgl. Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix:
Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Taschenbuch Wissenschaft 1977. S. 45)
Das heißt, dass der Kapitalismus unseren „Wunschmaschinen“
die echten Wünsche, nach denen sich jeder Mensch von Natur aus sehnt,
versagt und ihnen stattdessen eine Ersatzbefriedigung bietet. Wir sehnen
uns nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung und befriedigen diese Sehnsüchte
im Kapitalismus mit Konsumgütern. Als Schizophrene bezeichnen Deleuze
und Guattari nun diejenigen, die sich durch die kapitalistischen Waren
nicht ersatzbefriedigen lassen, sondern sich ihren natürlichen Begierden
hingeben.
Der Mensch der kapitalistischen Gesellschaft hat keine festen Anhaltspunkte
mehr, die Religion verliert an Bedeutung, in den Vordergrund rückt
das Streben nach Erfolg, Macht und Geld. Die Dinge wandeln sich rasend
schnell, man muss seinen gesellschaftlichen Pflichten hinterhereilen,
um sie erfüllen zu können. Wir brauchen einen gewissen gesellschaftlichen
Status, um uns behaupten zu können. So sind die in den Wunschmaschinen
produzierten Phantasien „niemals individuell“, sondern immer
„Gruppenphantasien“. (Vgl. Ebd. S. 40) Der Schizophrene verirrt
sich nun „stets taumelnd, strauchelnd, unaufhörlich wandernd,
sich verirrend immer tiefer in die Deterritorialisierung“ der kapitalistischen
Gesellschaft. (Ebd. S. 46) Er ist also der typische Kranke unserer Gesellschaft,
der sich mit der damit verbundenen Unsicherheit nicht arrangieren kann.
Betty ist in der Welt Hollywoods also laut Deleuze und Guattari die Schizophrene,
da sie sich in Camilla verliebt und nach wahrer Zuneigung sehnt, diese
in ihrer Welt aber nicht bekommen kann. Deswegen spaltet sich ihr Ich.
2. Mulholland Drive als postmoderner
Film
Am Anfang dieser Arbeit habe ich anhand von einem Text Umberto Ecos versucht
zu verdeutlichen, dass die Kunst der Postmoderne hauptsächlich auf
Verunsicherungen beruht, die dadurch entstehen, dass unser Drang nach
Interpretation von Zeichen und Symbolen nicht gestillt werden kann.
Bereits bei der Analyse von Bergmans Persona hat sich herausgestellt,
dass dies in Verbindung mit dem Doppelgängermotiv in besonderem Maße
zutrifft. Dadurch, dass Identität nicht mehr individuell ist, sondern
sich aufspalten und mit anderen Identitäten vermischen kann, entsteht
eine große Verunsicherung. Als Zuschauer ist man in solchen Fällen
fast schon gezwungen, nach einer möglichst logischen Erklärung
zu suchen, die keine Fragen mehr offen lässt. Bei Persona konnte
man zu keiner befriedigenden Lösung kommen. Auch die Auflösung
der Handlung als ein Fall von Schizophrenie warf erneute Fragen auf.
Ähnlich verhält es sich mit Mulholland Drive von David Lynch,
der von Filmtheoretiker Chris Rodley als „Mr. Contradiction“
(engl. Ungereimtheit, Zwiespältigkeit) bezeichnet wird. (Vgl. Rodley,
Chris: David Lynch: Mr. Contradiction. In: Jim Miller (Hrsg.): American
Independent Cinema. A Sight and Sound Reader. London: British Film Institute
2001. S. 206) Der plötzliche Wechsel von Namen und Identitäten,
Zeit- und Handlungsebenen verunsichert den Zuschauer extrem.
Man versucht permanent alles zu einem ergiebigen Puzzle zusammenzufügen,
aber hat man eine offene Frage scheinbar richtig beantwortet, so stellen
sich zugleich mehrere neue Fragen. Auch die Auflösung der Handlung,
dass die ersten beiden Drittel die geträumte Version von Dianes Realität
sind, bietet keine befriedigende Entschlüsselung des Filmes: So wird
sie beispielsweise auch nachdem sie erwacht ist, von ihren Traumgestalten
heimgesucht. Zudem gibt es Szenen, die mit der Realität scheinbar
in keinerlei Beziehung stehen.
Auch beim Vergleich mit David Lynchs komplettem Œvre wirkt eine solch
einfache Auflösung viel zu banal. Personen und Räume in Lynchs
Filmen scheinen einer ständigen Negation unterworfen zu sein. Es
können keine physikalischen Gesetzmäßigkeiten mehr geltend
gemacht werden. Eine Person kann sich hier auch außerhalb eines
Traumes in eine andere verwandeln, zwei Figuren verkörpern oder sich
an mehreren Orten gleichzeitig befinden. (Vgl. Höltgen, Stefan: Spiegelbilder.
Strategien der ästhetischen Verdopplung in den Filmen von David Lynch.
Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2001. S. 21) Die beiden Konstruktionen erzählerischer
Rationalität , das „Und dann“ der Abfolge und das „Deshalb“
der Erklärung werden verweigert. Die Wirklichkeit und der Traum werden
zu freien Elementen der Komposition, weil sie sich den traditionellen
Ordnungen und Unterordnungen von Sinnbild und Abbild im Kino entzogen
haben. ( Seeßlen, Georg: Die Faszination des Schreckens in 'Wild
at heart‘ von David Lynch. In: Andreas Rost und Mike Sandbothe (Hrsg.):
Die Filmgespenster der Postmoderne. München: Verlag der Autoren 1998.
S. 109)
Teil IV
Schlussfolgerung
Bei der Betrachtung der beiden Filme hat sich herausgestellt, dass das
Motiv des Doppelgängers allem voran dazu dient, die Verdoppelung
von Identität darzustellen.
Dabei finden sich sowohl in Ingmar Bergmans Persona als auch in David
Lynchs Mulholland Drive verschiedene Arten des Doppelgängers, die
aber eng miteinander verwandt zu sein scheinen und miteinander in Beziehung
stehen. So findet man in beiden Filmen das Motiv der Schauspielerei, welches
sich auch auf die Realität übertragen lässt, da die Protagonistinnen
in beiden Filmen im Sinne von C.G. Jung darauf angewiesen sind, auch in
ihrem Alltag stets eine Persona, eine Maske, zu tragen um sich den gesellschaftlichen
Normen anzupassen. Dann finden sich in beiden Filmen immer wieder Spiegelbilder,
die dazu dienen die eigene Identität zu erkennen, aber auch zu hinterfragen.
Das Motiv des Zwillings kann man als Weiterentwicklung einer Spiegelung
sehen, da hier beide Doppelgänger unabhängig voneinander agieren
können. Dadurch werden oft Gegensätze dargestellt, die aber
abhängig sind von ihrem jeweiligen Gegenpart. Beide Zwillinge gehören
zusammen, stehen für zwei Teile eines großen Ganzen. Ein Alter
Ego schließlich ist eine Doppelgängerfigur, die aus einer Identitätsspaltung
entstanden ist. Sie kann entweder psychologische oder soziologische Hintergründe
haben.
Ein Doppelgänger kann leicht zu einer Irritierung des Zuschauers
führen. Das Wissen um seine eigene Identität bietet ihm Sicherheit.
Wenn nun individuelle Identität in Frage gestellt wird, fühlt
sich der Zuschauer schnell verunsichert. Typisch für einen postmodernen
Film, verspürt der Zuschauer den Drang, seiner Verunsicherung entgegenzuwirken,
indem er versucht, eine Erklärung für die einzelnen Handlungselemente
zu finden. Auf der Suche danach wird er aber immer weiter in den Interpretationsstrudel
hineingezogen, aus dem es kein Entkommen gibt. Es kann keine befriedigende
endgültige Entschlüsselung der Filme Persona und Mulholland
Drive geben.
Georg Seeßlen beschreibt ein postmodernes Kunstwerk als „eine
Art Schizophrenie-Maschine, die sehr viele Menschen mit gänzlich
unterschiedlichen Erwartungshaltungen ebenso ansprechen kann, wie einen
Menschen zugleich auf sehr unterschiedliche Weise“. (Vgl. Seeßlen,
Georg: Ein postmodernes Welt-Bild aus den USA. David Lynch und das amerikanische
Mittelalter. In: Jürgen Felix (Hrsg.): Die Postmoderne im Kino. Ein
Reader. Marburg: Schüren Verlag 2002. S. 220) Demnach sind nicht
nur die Protagonistinnen der Filme immer wieder verdoppelt, sondern auch
die Filme an sich haben „multiple Persönlichkeiten“.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966.
Min. 36:34
Abbildung 2: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 36:49
Abbildung 3: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 77:33
Abbildung 4: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 24:40
Abbildung 5: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 65:59
Abbildung 6: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966. Min. 69:55
Abbildung 7 / Titelbild: Screenshot aus: Bergman, Ingmar: Persona. 1966.
Min. 71:16
Abbildung 8: Screenshot aus: Lynch, David: Mulholland Drive.
2001. Min. 24:03
Abbildung 9: Screenshot aus: Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min.
92:31
Abbildung 10: Screenshot aus: Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min.
93:39
Abbildung 11: Screenshot aus: Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min.
115:37
Abbildung 12: Screenshot aus: Lynch, David: Mulholland Drive. 2001. Min.
45:13
Quellenverzeichnis
Filme:
- Bergman, Ingmar: Persona. 1966
- Lynch, David: Mulholland Drive. 2001
Literatur:
- Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung.
Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1969
- Aristoteles: Elemente der aristotelischen Logik. Hg. v. Adolf Trendelenburg
und Rainer Beer. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1969
- Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978
- Baum, Patrick/ Höltgen, Stefan (Hrsg.): Lexikon der Postmoderne.
Von Abjekt bis Zižek. Bochum/ Freiburg: Projektverlag 2010
- Blask, Falko: Jean Baudrillard zur Einführung. 3. Aufl. Hamburg:
Junius Verlag 2005
- Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag
1973
- Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus
und Schizophrenie I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft
1977
- Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene. Zitiert in:
Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg:
Schüren Verlag 2009
- Eder, Jens: Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der
90er Jahre. In: Jens Eder (Hrsg.): Oberflächenrausch. Postmoderne
und Postklassik im Kino der 90er Jahre. Münster: LIT 2002
- Fichtner, Ingrid: Vorwort. In: Ingrid Fichtner (Hrsg.): Doppelgänger.
Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern: Haupt Verlag 1999
- Freud, Sigmund: Abriß der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen.
Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2009
- Freud, Sigmund: Das Unheimliche. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch
Verlag 2000
- Herget, Sven: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg:
Schüren Verlag 2009
- Höltgen, Stefan: Spiegelbilder. Strategien der ästhetischen
Verdopplung in den Filmen von David Lynch. Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2001
- Nochimson, Martha: The Passion of David Lynch. Wild at Heart in Hollywood.
Austin: University of Texas Press 1997
- Ott, Michaela: Gilles Deleuze zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag
2005
- Paul, Sean: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke, oder: Ehestand,
Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs. Zitiert in:
Sven Herget: Spiegelbilder. Das Doppelgängermotiv im Film. Marburg:
Schüren Verlag 2009
- Rodley, Chris: David Lynch: Mr. Contradiction. In: Jim Miller (Hrsg.):
American Independent Cinema. A Sight and Sound Reader. London: British
Film Institute 2001
- Roth, Wolfgang: C.G. Jung verstehen. Grundlagen der Analytischen Psychologie.
Düsseldorf: Patmos Verlag 2009
- Schreckenberg, Ernst: Was ist postmodernes Kino? – Versuch einer
kurzen Antwort auf eine schwierige Frage. In: Andreas Rost und Mike Sandbothe
(Hrsg.): Die Filmgespenster der Postmoderne. Frankfurt a. M.: Verlag der
Autoren, 1998
- Seeßlen, Georg: Die Faszination des Schreckens in ‚Wild
at heart‘ von David Lynch. In: Andreas Rost und Mike Sandbothe (Hrsg.):
Die Filmgespenster der Postmoderne. München: Verlag der Autoren 1998
- Seeßlen, Georg: Ein postmodernes Welt-Bild aus den USA. David
Lynch und das amerikanische Mittelalter. In: Jürgen Felix (Hrsg.):
Die Postmoderne im Kino. Ein Reader. Marburg: Schüren Verlag 2002
- Sennett, Robert S.: Traumfabrik Hollywood. Wie Stars gemacht und Mythen
geboren wurden. Hamburg/Wien: Europa Verlag GmbH 2000
- Schwarcz, Chava Eva: Der Doppelgänger in der Literatur. Spiegelung,
Gegensatz, Ergänzung. In: Ingrid Fichtner (Hrsg.): Doppelgänger.
Von endlosen Spielarten eines Phänomens. Bern: Haupt Verlag 1999
Internet:
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- http://www.uni-koeln.de/phil-fak/fs-psych/serv_pro/skripte/allg2/Traumdeutung.pdf;
abgerufen am 19.03.2012
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