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Auszug aus dem Buch Marcus Stiglegger (Hrsg.): Splitter
im Gewebe, Mainz: Bender 2003
Der Begriff des Autoren, der ganz allgemein am Beginn steht,
leitet sich von dem lateinischen Begriff des „auctors“ ab,
was in seiner späteren Bedeutung Urheber und Schöpfer bedeutet,
ursprünglich jedoch „Mehrer und Förderer“ hieß.
Im aktuellen Sprachgebrauch bezieht es sich auf den Verfasser eines –
wie auch immer medial vermittelten – Textes, also den Urheber eines
Werkes der Musik, Bildenden Kunst, Fotografie, Literatur oder Filmkunst.
Auch der in unserem Kontext weit geläufigere Begriff auteur, der
synonym für „créateur, instigateur“ oder „inventeur“
steht, entspricht diesem Bedeutungsfeld, wurde jedoch weit früher
als der deutsche „Autor“ im Kontext der Filmtheorie verwendet:
Als Bezeichnung für einen Regisseur mit einem „stark ausgeprägten
persönlichen Stil“ (James Monaco). „Stil“ meint
hier die streng persönliche Art und Weise, in der das filmische Werk
gestaltet ist, ein ebenso gewichtiges wie umstrittenes Konstrukt in der
aktuellen Filmtheorie.
Ende der vierziger Jahre forderte der französische Filmkritiker Alexandre
Astruc, sein Kino des „caméra-stylo“ solle die „Probleme
so exakt formulieren, [...] wie das heute im Essay oder im Roman der Fall
ist.“ Sein Aufsatz zum „Caméra-stylò“
(1948) sollte neben Truffauts Aufsatz „Une certaine tendence du
cinéma francais“ (1954) zu einer wesentlichen Programmatik
der französischen Nouvelle vague werden. – Alain Resnais verlieh
dieser Vision bereits Ende der fünfziger Jahre radikal mit seinen
von der Literatur inspirierten und dennoch ausgesprochen experimentierfreudigen
Filmen Hiroshima Mon Amour (1958) und L’année dernière
à Marienbad / Letztes Jahr in Marienbad (1960) Gesicht. Der „caméra-stylo“
wurde in der deutschen Übersetzung zur „Kamera als Federhalter“,
die es dem Filmemacher ermögliche, seine innersten Gedanken auf Zelluloid
„niederzuschreiben“. In diesem Kontext bekam auch die „mise
en scène“ als Akt des Regieführens neues Gewicht: Im
Gegensatz zur Montage, die eine nachträgliche Ordnung schafft, ist
damit die Schauspielerführung, Lichtsetzung und Kamerapositionierung
gemeint, also der unmittelbare Akt der künstlerischen Entscheidung
am Drehort. Inzwischen ist bekannt, dass gerade das amerikanische Mainstreamkino
durch gewerkschaftliche Regelungen den Einflussbereich des Regisseurs
äußerst beschränkt hält. In Astrucs Idealmodell jedoch
bedient sich der Filmemacher seines Filmteams und Schauspielerensembles
in vollem Bewußtsein von deren kreativen Fähigkeiten als eines
Werkzeuges. Der künstlerische Wille des Regisseurs wird zur autonomen
letzten Instanz. „Der Autor schreibt mit seiner Kamera wie ein Schriftsteller
mit seinem Federhalter.“ In seiner Verabsolutierung des „Autors“
erinnert Astrucs Definition der Filmemachers durchaus dem „Genie“-Begriff
des 18. Jahrhunderts. In der kurzen Epoche des „Sturm und Drang“
galt das „Genie“ als gottähnlicher Schöpfer seiner
künstlerischen Werke: Seine Individualität sollte Vernunft und
Emotionalität umfassen, seine Schaffenskraft keinerlei ästhetischen
oder politisch-moralischen Normen unterworfen sein.
Ungeachtet des Idealbildes des „caméra-stylo“ wirft
gerade die nachträgliche Analyse dieses grundlegenden, autonomen
künstlerischen Willens einige Probleme auf. Zunächst sind subjektiven
Selbstaussagen und Selbstauslegungen Beteiligter nur von bedingtem Wert,
da sie nicht selten die – so Roland Barthes Stilbegriff –
„geheime Mythologie“ des Künstlers verschleiern oder
sich derer häufig nicht wirklich bewußt sind. Die von individuellen
Aussagen unabhängige semiotische Filmanalyse betrachtet Kombination
und Wirkungsmodelle der in einem bestimmten Werk verwendeten Zeichen und
Symbolkomplexe, indem sie die einzelnen Zeichen erst decodiert und dann
in ihrem jeweiligen Kontext betrachtet. Auf der ersten Ebene, der Denotation,
werden die Zeichen auf ihren stabilen, objektiven Bedeutungsanteil hin
untersucht, der für alle Zeichenbenutzen einer Kultur verständlich
sein sollte. Hier liegt bereits ein Problem, was die Analyse von Kunstwerken
anderer Kulturen betrifft, etwa Filme des asiatischen Kinos, deren westliche
Rezeption durchaus auf Missverständnissen aufbauen kann. Findet bereits
in den Werken eine kulturelle Übertragungsleistung statt, wie in
Wong Kar Weis durchaus postmodernen Filmkonstrukten, ist diese Gefahr
geringer, bei Takeshi Kitanos Filmen – die in diesem Grund hier
auch leider nicht angemessen gewürdigt werden konnten – ist
die Differenz zwischen kultureller Tradition und individueller Obsession
für den westlichen Filmwissenschaftler jedoch kaum mehr festzustellen.
Auf der zweiten Ebene, der Konnotationsebene, kommen die möglichen
subjektiven Anteile des Werkes zum Tragen: Hier wird die für das
untersuchte Werk spezifische Kombination und Neukombination der bereits
kulturell zugeordneten Zeichenelemente untersucht.
Der Begriff des „Autorenfilms“, der in diesem Kontext augenblicklich
in den Sinn kommt, ist angesicht seiner Vieldeutigkeit von sehr geringem
Wert für unseren Ansatz der „Splitter im Gewebe“, doch
spiegelt seine Entwicklung grob den Weg zu dem aktuellen Ansatz der auteur-Forschung,
der auch in diesem Buch zum Tragen kommt. – Bereits 1913 spielte
der Begriff des „Autorenfilms“ ein Rolle, meinte jedoch nur,
dass in jenem Jahr zahlreiche Werke bekannter Schriftsteller verfilmt
worden waren. Der hier interessante Begriff wurde erst in den fünfziger
Jahren von den Autoren des französischen Filmmagazins Cahiers du
cinéma eingeführt. Viele der Cahiers-Kritiker nahmen die „politique
des auteurs“ sehr ernst und wandten sich selbst dem Filmemachen
zu, nachdem sie die Autorenqualität klassischer Hollywoodregisseure
analysiert hatten: Francois Truffaut, Claude Chabrol, Jean-Luc Godard,
Eric Rohmer und Jacques Rivette, um nur einige zu nennen. In der Nouvelle
Vague des französischen Films jener Jahre versuchten sie, Alexandre
Astrucs Vision vom „caméra-stylo“ zu verwirklichen.
Besonders Godards Filme wurden in diesem Kontext vor allem in der späten
Phase zu filmtheoretischen Essays, am radikalsten in seinem späten
Film mit dem bezeichnenden Titel Nouvelle Vague (1989). Der damaligen
französischen Filmproduktion der fünfziger Jahre warfen die
Vertreter der Nouvelle Vague stilistische und produktionsästhetische
Konformität vor und setzten die gegen die Gesetze des Mainstreamfilms
behaupteten persönlichen Stilismen von Alfred Hitchcock und Orson
Welles als Vorbilder dagegen. Noch Jahrzehnte später wird Martin
Scorsese in seiner Reise durch den amerikanischen Film im Werk eines kommerziellen
Regisseurs wie Douglas Sirk die Qualitäten des subversiven „Schmugglers“
entdecken. André Bazin, einer der intellektuellen Wortführer
der Nouvelle Vague, formuliert die Qualität eines auteur-Films: „Der
Stil wird die interne Dynamik der Handlung, er verhält sich zu ihr
etwa wie die Energie zur Materie. [...] Er fügt eine zerstückelte
Realität in das ästhetische Spektrum der Erzählung ein.“
Auch der deutsche Filmkritiker Norbert Grob verwies auf einer Autorenfilm-Tagung
1991 zurück auf den französischen Autorenbegriff: „Ich
habe wie diese französischen Regiseure nie geglaubt, dass ein Autor
nur derjenige sei, der erstens das Buch selbst geschrieben, zweitens die
Produktionsmittel in der Hand hat und drittens dann noch die mise en scène.
Ich habe immer gedacht: Egal wie die Vorlage aussieht, es kommt auf die
Art und Weise an, wie ein persönliches Bild in den Film hineinkommt,
nämlich durch einen spezifisch neuen oder anderen individuellen Blick.“
Mit der Unterzeichnung des Oberhausener Manifests 1962 drückten auch
junge deutsche Regisseure ihren Willen zum unabhängigen, autonomen
Kino aus: Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder, Edgar Reitz, Herbert
Vesely und andere machten sich in den folgenden Jahrzehnten des Neuen
Deutschen Films ebenfalls an eine Umsetzung vergleichbarer Konzepte. Auch
sie hatten in den Werken großer Hollywood-Regisseure wie Douglas
Sirk subversive und obsessive Konzepte entdeckt, die sie nun für
ihr eigenes Kino adaptierten. Der Filmwissenschaftler Andrew Sarris führte
den Begriff des „authors“ 1968 in den amerikanischen Filmdiskurs
ein. Im Rahmen des New Hollywood, das sich mit den eigenwilligen Werken
von John Cassavetes, Robert Altman, Arthur Penn u.a. zu jener Zeit den
europäischen Tendenzen anschloss, aber dennoch genuin amerikanisches
Kino schuf, kam es zu einer Popularisierung des auteur-Begriffes. In einer
strukturalistischen Strömung wandte sich die Filmwissenschaft jedoch
vom bisher herrschenden Maßstab des individuellen Künstlers
ab. Der Begiff des „Autors“ wurde wieder so vieldeutig, wie
er einst war: Wer der Autor, der eigentliche Urheber eines Films, war,
konnte die Filmanalyse mit überraschenden Ergebnissen immer wieder
neu feststellen: Wer sich z.B. die Produzentendiktatur des Hollywoodkinos
vergegenwärtigt, wird gerade in diesem Bereich eine wichtige Urheberschaft
suchen können. Aber nicht nur dort...
Susan Hayward beschreibt in ihren „Key concepts of cinema studies“
die Entwicklung des auteur-Begriffs in einem Drei-Phasen-Modell. In den
Jahren der „Autorenpolitik“, den fünfziger Jahren, wurde
der auteur als die zentrale Instanz betrachtet, Zuschauer und ideologischer
Kontext des Filmemachens blieben unberücksichtigt. Die sechziger
Jahren brachten den strukturalistischen Ansatz, der sich bemühte
die dem Filmemachen zugrunde liegenden Strukturen zu abstrahieren, also
den auteur, die „Filmsprache“, den sozialen Kontext sowie
die Insitutionen der Produktion, denn all diese Strukturen produzieren
letztlich Bedeutung. Trotz dieser Differenzierung und Erweiterung blieben
der Zuschauer und die Ideologie unberücksichtigt. Erst seit dem Poststrukturalismus
der siebziger Jahre wird er filmische Text im Kontext der Ideologie gesehen.
Als analytische Ansätze kamen die Semotik, die Psychoanalyse, die
feministische Theorie sowie die Methode der Dekonstrukion hinzu. Kontext
und intertextuelle Bezüge konnten nun weitgehend berücksichtigt
werden. Ein eingehenderes Verständnis der zuvor isolierten Elemente
kann gerade im Zusammenwirken dieser theoretischen Ansätze ermöglicht
werden.
Ein „Stil“ lässt sich allerdings lediglich an einigen
filmischen Kategorien deutlich feststellen: Kameraführung, Schauspiel,
Montage, Ausstattung, Licht und narrative Struktur. Fatalerweise lassen
sich jedoch all diese Kategorien nur indirekt mit der Person und kreativen
Leistung des Regisseurs in Verbindung bringen. Seine eigentliche Leistung
liegt erst im konnotativen Bereich, also der individuellen Kombination
der fremden Einzelleistungen. Was sich letztlich aus diesem Gesamtbild
filtern lässt, ist neben favorisierten Handlungsmotiven, Themen,
Mitarbeitern und Schauplätzen letztlich das Weltbild des Filmemachers,
sein Vision du Monde. Hier ist auch die „private Mythologie“
des Künstlers zu suchen, von der Barthes bei seiner Bestimmung des
Stil-Begriffs sprach. Der hier vorherrschende Analyseanasatz entspricht
unter Verwendung der oben beschriebenen Erkenntnisse dennoch weitgehend
der klassischen Methode der hermeneutischen Analyse. In einem zirkulären
Verfahren befragen die Autoren das Werk der Filmemacher ihrer Wahl immer
wieder aufs Neue, setzten gewonnene Erkenntnisse und einzelne semiotische
Elemente miteinander in Beziehung, um im Laufe ihrer Aufsätze ein
tieferes Verständnis der Filme zu erzielen. Dabei wird der entscheidende
Einfluss des Regisseurs auf alle Teilbereiche des Films (also mise en
scène und Montage) vorausgesetzt. Natürlich ist die Gewichtung
der vom jeweiligen Zuschauer wahrgenommenen Elemente rezeptionspsychologisch
höchst unterschiedlich, doch auch hier schafft das zirkuläre
Verfahren der Hermeneutik zusätzliche Sicherheit. Ein vergleichende
Analyse aller Werke des Regisseurs ist hier absolut unabdingbar, um überhaupt
eine vergleichbarkeit von Themen und Motiven, aus denen sich die künstlerische
Vision du Monde abstrahieren lässt, zu ermöglichen. Erst in
der vergleichenden Werkanalyse lassen sich Mittel und Schemata der filmischen
Komposition identifizieren und letztlich als „Stil“ beschreiben.
Im folgenden Kapitel möchte ich am Beispiel dreier oberflächlich
gesehen spekulativer kommerzieller Spielfilme ein und des selben Regisseurs,
der zudem nicht seine eigenen Drehbücher schreibt, geschweige denn
seine Filme schneidet, verdeutlichen.
Obsessionen im Mainstream
Der ebenso extreme wie für viele vermutlich verwirrende Fall eines
„Splitters“ ist der amerikanische Filmemacher William Friedkin.
Weithin ist er durch seine preisgekrönten und äusserst erfolgreichen
Filme The French Connection / Brennpunkt Brooklyn (1971) und The Exorcist
/ Der Exorzist (1974) bekannt. Noch heute wird seine Name mit diesen Titeln
verbunden. Ginge es darum, das Herzstück von William Friedkins Oeuvre
zu untersuchen, würde ich jedoch von zwei wesentlichen, persönlich
motivierten Trilogien sprechen: The French Connection, The Exorcist und
Sorcerer / Atemlos vor Angst (1977) behandeln durchaus homoerotisch konnotierte
Männerfreundschaften unter extremsten Bedingungen; ich nenne sie
die ‘buddy-Trilogie’. Die achtziger und neunziger Jahre jedoch
werden von Friedkins Vision einer Innenansicht der amerikanischen Gesellschaft
dominiert: die Thriller Cruising (1980), To Live and Die in L.A. / Leben
und sterben in L.A. (1985) und Jade (1996) entwerfen komplexe, allegorische
Modelle aus einer böswilligen Chirurgenperspektive. Auf diese ‘infernale
Trilogie’ möchte ich etwas genauer eingehen, insbesondere,
da diesen drei Filme bisher kaum Respekt gezollt wurde.
Der Polizeifilm Crusing erregte im Jahre 1980 Aufsehen in der New Yorker
Schwulenszene, da William Friedkin seine Verfilmung des Dokuthrillers
von Gerald Walker großteils an authentischen Tummelplätzen
der Lederszene von Greenwich Village mit originaler Statisterie inszenierte.
In den frühen siebziger Jahren hatte dort tatsächlich ein spezialisierter
Lustmörder sein Unwesen getrieben. Mit außergewöhnlicher
physischer Präsenz verkörpert Al Pacino hier den anfangs etwas
überforderten Undercoper-Cop Steve Burns – Steve „brennt“
–, der als Lockvogel für den homophoben Serial-Killer dienen
soll. Der Zuschauer begleitet ihn in die düster-infernalisch ausgestattete
Welt der Leder- und S&M-Bars, zu Fisting-Happenings, „Polizei“-Bällen
und ritualisiertem „Cruising“ im Central Park. Burns changiert
zwischen der bürgerlich-heterosexuellen Beziehung zu seiner Freundin
(Karen Allen) und der mattschimmernden Welt der Hypermaskulinität,
in der Frauen letztlich keinen Platz mehr haben. Mehrere Szenen legen
nahe, daß der Polizist nach und nach dieser Faszination für
das Morbide erliegt. Er stählt seinen Körper, trägt die
Insignien der Dominanz – Lederjacke, Mütze, Motorradstiefel,
Ketten – und läßt sich in seiner Funktion als Lockvogel
auf schnellen Sex im Stundenhotel ein, wobei er prompt von mißtrauischen
den Kollegen unterbrochen wird. Er wird zum Außenseiter, wandert
zwischen den Fronten. Sein Vorgesetzter Edelson (Paul Sorvino) bleibt
der einzige – durchaus väterliche – Freund.
In komplex verschlüsselten Sequenzen erzählt Friedkin vom schmalen
Grat zwischen ritualisierter und destruktiver Gewalt: Zu Beginn des Films,
in einer zermürbenden Szene, wird ein junger Schwuler von dem Killer
in einem Hotelzimmer erst durch Fesselung wehrlos gemacht und dann brutal
rücklings abgestochen. Das zunächst stimulierende ‘Psychodrama’
des sadomasochistischen Aktes mündet nahtlos in ein Verbrechen, das
von Friedkin zudem mit kurz aufblitzenden Pornofragmenten unterminiert
wird.
Die folgenden Mordakte sind ihrerseits in szenespezifische Handlungen
eingebunden: Versteckspiel im Park, Sex im Pornokino. Es gelingt Burns
recht früh, den Killer zu stellen; es handelt sich scheinbar um den
repressiven Studenten Stuart Richards (Richard Cox), der die Mordaufträge
von seinem imaginierten autoritären Vater erhält. Friedkin legt
den ganzen Film hindurch stets Wert auf eine allwissende Perspektive:
Die Begegnung zwischen Richards und seinem (in Wirklichkeit verstorbenen)
Vater inszeniert er als subjektiven Bruch innerhalb des Erzählflusses
in einer kontrastierenden, irreal überstrahlten Sequenz im Central
Park. Doch dieses Eindringen in die Subjektive eines Charakters ist ähnlich
subtil und wenig eindeutig wie die symbolistische Bildsprache, mit der
er von Burns’ sexuellem Wandel erzählt: Erst spät wird
auch dessen Beischlaf mit der Freundin zum brachialen Akt. Wenn Burns
nach erfolgreicher Aufklärung des Falles vor dem Spiegel steht, offenbar
der Film schließlich sein eigentliches Anliegen: Burns finaler Blick
in den Spiegel legt nahe, daß er selbst das Erbe des Killers übernommen
hat. In der vorangehenden Sequenz wurde bereits ein weitere Leiche gefunden;
der Tote lag mit Burns in eifersüchtigem Streit. Und Richards weilte
zum Zeitpunkt der Tat bereits im Krankenhaus. Edelson scheint die Zusammenhänge
zu ahnen... – Der Killerinstinkt gleicht einem Virus, der von den
Beteiligten und Unbeteiligten nach und nach Besitz ergreift: Pazuzus dämonisches
Erbe aus The Exorcist wirkt in die amerikanische Gegenwart nach. Der Verlust
des Glaubens und des Vertrauens, den der vorhergehende Horrorfilm noch
auf quasireligiöser Ebene diagnostizierte, verwurzelt sich im Herz
der Großstadt. In einer sanften Überblendung endet der Film
im Boston River, in dem bereits zu Beginn ein abgeschnittener Arm gefunden
wurde. Ein verstörender Kreis schließt sich. Erst jetzt erscheint
der Titelschriftzug des Films, begleitet von Willy de Villes niederknüppelnden
Gitarrenakkorden. Cruising wurde vor allem hierzulande als effekthascherischer
Horrorthriller unterschätzt, sogar als schwulenfeindlich abgetan.
Läßt man sich jedoch auf den Film ein, wird folgendes Problem
evident: Friedkin bedient sich der apokalyptischen, ‘modern primitiven’
Ausstrahlung der Lederszene als Allegorie: In modrigen Farben, mit gewohnt
dokumentarischer Kühle visualisierte er die sexuelle Bizarrerie als
Untersicht der auf Gewalt gegründeten, patriarchalen amerikanischen
Gesellschaft. Obwohl er dabei nicht gerade respektlos und letztlich voller
Faszination zu Werke geht, kann er jener gerade mit Emanzipationsbedürfnissen
beschäftigten Randgruppe kaum gerecht werden. Die Akribie, mit der
er die Clubszenarien der Prä-AIDS-Ära entfaltet, könnten
jedoch authentischer kaum sein. Zahlreiche der Sexakte inklusive des Personals
spiegeln einen offenbar authentischen Teil der Szene und werden mit Hilfe
harter Rockrythmen und Schnitte behutsam dramatisiert. Mit Steve Burns
nähert sich der Zuschauer erst erschreckt, dann fasziniert jener
todessehnsüchtigen sexuellen „Vorhölle“, die jedem
puritanischen Republikaner nur ein Dorn im Auge sein kann. Über The
Exorcist hatte der Regisseur verlauten lassen, er hätte den Film
bewußt „stillos“ gehalten, um den erschreckenden Geschehnis
durch dokumentarische Wirkung eine eigene Authentizität zu verleihen.
Für Cruising gilt diese These nur oberflächlich. Tatsächlich
ist dies der Versuch, eine objektiv erzählte Thrillerhandlung in
ein apokalyptisches Horrorszenario münden zu lassen, ohne sich der
plakativen Spezialeffekte des Horrorkinos zu bedienen.
Erst fünf Jahre später gelang Friedkin erneut eine persönlich
gefärbte Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Traum(a): Er beginnt
zu den nihilistischen Popakkorden der Popband Wang Chung – ein experimentierfreudiger
Soundtrack, der zwischen hämmernden Ryhthmen und unheimlichen Ambientpassagen
changiert – mit einem blutrot dräuenden Sonnenaufgang über
L.A.. Der Präsident wird kommen; die amerikanische Flagge knattert
im Wind. Betulich sichern sonnenbebrillte FBI-Agenten das VIP-Hotel. Ronald
Reagan spricht dazu aus dem Fernseher. Der aufstrebende, junge Chance
(William L. Petersen) beweist unvermittelt einen sicheren Instinkt: Statt
zusammen mit dem Präsidenten verflüssigt sich der palästinensische
Kamikaze-Terrorist alleine über den Dächern der funkelnden Stadt.
Chance’ älterer Partner jedoch fühlt sich „zu alt
für den Scheiß“. Schon am nächsten Tag wird ihn
der skrupellose Geldfälscher Rick Masters (Willem Dafoe) für
immer in den Ruhestand befördern. To Live and Die in L.A. entfaltet
nur vordergründig die Geschichte eines manisch aggressiven Bullen,
der seinen väterlichen Freund rächen will. Friedkins Film schildert
einen Zustand; den Zustand der staubigen, korrupten Stadt L.A., den Zustand
einer verwüsteten, von Haß zerfressenen Gesellschaft: Ein fataler
Schmelztiegel – nur wenige Momente vor Rodey King – so scheint
es. „I can’t get away / To live and die in L.A.,“ singen
Wang Chung. Neben den giftgrünen Lettern des Titels, das nicht von
Ungefähr an die verlogene Neonästethik der damals populären
Polizeiserien erinnert, schlägt eine Kugel ins Bild: der Blutstropfen
rinnt nach unten und formt ein Palme, das Wahrzeichen Kaliforniens. Wieder
interessieren den Regisseur komplexe Personenkonstellationen und -transformationen:
John Vukovich (John Pankow) wird seinem Partner Chance zunehmend ähnlicher,
gewöhnt sich dessen Cowboy-Gang an und übernimmt nach dessen
Tod sogar die erpreßte „Geliebte“ (Darlanne Fluegel);
als der außergewöhnlich grausame Masters, seines Zeichens gescheiterter
Maler, erstmals seine Freundin Bianca (Debra Feuer) in ihrer Garderobe
besucht, hält man sie für einen Mann, bis die Kurzhaarperücke
ihre langen roten Locken freigibt; später wird Masters ihr eine junge
Tänzerin als Geliebte „schenken“; diese übernimmt
seinen Platz, nachdem ihn Vukovich erschossen hat. Die Orientierung wird
willkürlich, unbedeutend, jeder ist ersetzbar; getötet wird
aus Prinzip, und seien es die eigenen Leute. Jeder verrät jeden aus
einem diffusen Überlebenstrieb, der letztlich die Meisten auf der
Strecke läßt. Vukovich „übernimmt“ zwar Chance’
Position und Leben, Friedkin zeichnet sein Scheitern jedoch mit einem
genialen Clou vor: Nach dem Abspann, dem eine nächtliche Autofahrt
unterlegt ist, zeigt er erneut den noch lebenden Chance im Halbschatten
auf dem Bett der Geliebten, ein ungewöhnliches Wagnis in einer Zeit,
in der der Abspann üblicherweise bei voller Beleuchtung ignoriert
wird. Aber Friedkin vertraut auf das ‘Gesamtkunstwerk’, die
untrennbare Summe der Komposition erlesener Zutaten. Es verwundert heute,
daß dieser mittelmäßig erfolgreiche ‘Actionfilm’
von der Kritik seinerzeit als ‘Auswuchs der Videoclip-Produktion’
rezipiert wurde: noch schneller, noch härter, noch lauter. Natürlich
hakt er diese Attribute mit der linken Hand ab, sei es durch die rasante
Verfolgung durch die Hochwasserkanäle und gegen den L.A.-Freeway,
seien es die blutrünstigen Shoot-Outs, in denen nahezu alle Protagonisten
ihr Leben lassen (ähnlich wie David Lynch und George A. Romero attackiert
Friedkin stets den Kopf, also den Sitz des Intellekts). To Live and Die
in L.A. ist die Essenz des Polizeifilms seiner Zeit und in dieser Funktion
vergleichbar universell wie sein Titel: Die Geschichte interessiert kaum
– sie entstammt einem etwas vulgären Thriller von Gerald Petievich
–, Friedkin reflektiert die Befindlichkeit seiner Zeit in allegorischen,
teils überspitzten Bildern von niederknüppelnder Heftigkeit.
Nicht mehr die Düsternis und Kälte von Cruisings New York, sondern
der grelle, hektische Entertainment-Touch der kalifornischen Metropole
drängt sich unangenehm in den Vordergrund. Über The Exorcist
hatte Friedkin gesagt, er hätte ihn „ohne einen bestimmten“
Stil inszeniert, um durch semidokumentarische „Authentizität“
den Schrecken der irrationalen Ereignisse noch zu steigern. Und gleichzeitig
sagt er, jener Film spiegle tatsächliche Ereignisse auf eine „persönliche
Weise“ wieder. Akzeptiert man dieses Statement auch für Cruising
und To Live and Die in L.A., bleibt letztlich kaum mehr von Interesse,
als der Versuch eines infernalen Gesellschaftporträts: labyrinthische,
fragmentierte Städte, von Finsternis oder Staub überzogen, virenhaft
grassierende Gewalt, korrupte, austauschbare Charaktere auf allen Ebenen.
Sexuelle Extremformen bieten ebensowenig ein Entkommen wie Rick Masters
an Bacon orientierte Kunstwerke, die er gleich zu Beginn des Films verbrennt.
Friedkins Filme sind komplex, schwer greifbar beim ersten Sehen. Zu einem
unverwechselbaren Merkmal seiner Handschrift sind die verstörenden
Flashbacks oder Vorausgriffe geworden. Diese Zerstörung einer linearen
Zeit, die ähnlich bei Nicolas Roeg vorkommt – wirft Fragen
auf, die erst spät, oft zu spät erklärt werden, und den
Rezipienten zum immer neuen Überdenken zwingen. Seit The Exorcist
benutzt er auch immer wieder Subliminalbilder: Einzelbilder von 1/24stel
Sekunde Länge, die vom Betrachter im Idealfall nur unterbewußt
wahrgenommen aber dennoch identifiziert werden können. In The Exorcist
war es noch eine Dämonenfratze, die an zwei Stellen des Films mehrmals
eingeblendet wird. Die Wirkung gleicht der eines raschen deja-vu’s,
eines kurzen Irritationsmomentes im alltäglichen Leben. In Cruising
und To Live and Die in L.A. kommt diese Technik im weiteren Sinne zur
Anwendung, wenn eine große nervliche Anspannung der Protagonisten
vermittelt werden soll. Als Vukovich etwa während der Verfolgungsjagd
auf dem Rücksitz der Angstschweiß ausbricht, wird Chance’
Adrenalinfieber durch einen minimalen Schnitt auf Chance beim Bungee-Jumping
dazu kontrastiert. Auch Vukovich wird später jene Adrenalinsucht
übernehmen, wenn er Masters in einer übermenschlichen Anstrengung
tötet.
In seiner Kritik an Friedkins Spätwerk, speziell Jade, schrieb Larry
Gross in dem britischen Filmmagazin Sight and Sound: „Sein Hauptwerk
war drastisch, nahezu pervers persönlich.“ Der von Joe Eszterhas
verfaßte Erotik-Thriller Jade schien dagegen auf den ersten Blick
nichts weiter zu sein, als ein modischer Trendsetter, einer jener Nachfolger
von Paul Verhoevens Basic Instinct (1992). In San Francisco wird ein einflußreicher
Politiker brutal mit einer afrikanischen Axt erschlagen. Spontan verdächtig
für den etwas melancholischen Detective Corelli (David Caruso) ist
die Psychologin Trina Gavin (Linda Fiorentino), die das Opfer als letzte
leben gesehen hat. Ihr Mann, der bekannte Rechtsanwalt Matt Gavin (Chazz
Palminteri) nimmt sie jedoch bedingunslos in Schutz. Während die
Spuren des Verbrechens bis zu dem Gouverneur Kaliforniens (Richard Crenna)
führen, der vom Opfer mit Sexfotos erpreßt wurde, machen sich
die langsam die Tücken der Personenkonstellation bemerkbar: Trina
war früher Corellis Geliebte, entschied sich jedoch für seinen
besten Freund Matt. Corelli ist Trina immer noch erlegen, sucht insgeheim
nach Indizien ihrer Unschuld... Trina jedoch ist die Prostituierte Jade,
die es für den Toten in einem Küstenhaus mit Politikern trieb.
Corelli bemerkt, daß seine Ermittlungen aus den eigenen Reihen sabotiert
werden; eine Zeugin wird ermordet und es wird deutlich, daß Trina
als Sündenbock herhalten soll. Natürlich ist es der Gouverneur,
der sich Verdachtsmomente vom Hals halten und auch Trina ermorden lassen
will... Am Ende gesteht Matt den ersten Mord gegenüber Trina. Sein
letzter Satz ist: „Wenn wir uns das nächste Mal lieben, möchte
ich, daß du mir Jade vorstellst!“
Jade präsentiert zunächst ein Konglomerat an Eszterhas’
bevorzugten Handlungsfragmenten; wieder ist eigentlich von Beginn an klar,
wer der Mörder ist (die Manschettenknöpfe), wenn auch nicht
gar so dreist wie in Basic Instinct, der behauptet, die Mörderin
zu Beginn wäre eventuell nicht Sharon Stone... Was Friedkin gereizt
haben dürfte, sind neben äußerlichen Versatzstücken
die eigentlichen Themen: die umfassende Korruption und das Herausbrechen
unterdrückter Leidenschaften in einem System sozialer Masken. In
der Welt von Jade sind die Protagonisten ihren Begierden und Träumen
wehrlos ausgeliefert. Sie driften zwischen Lüge und Geheimnis. Es
ist ihnen kaum möglich, die strengen Rituale der Lederszene aus Cruising
zur Initiation zu nutzen oder sich dem selbstmörderischen Adrenalinrausch
der FBI-Leute aus L.A. zu ergeben. Folglich ist es auch eine andere Jagd,
die in Jade stattfindet: Die Jagd im Kreis. Eine befreiende Weite, die
es in L.A. geben muß, fehlt. Gewalt entlädt sich nie nach außen,
sondern führt zur Implosion: Das Fluchtauto pflügt langsam durch
einen chinesischen Neujahrszug und hinterläßt zahlreiche Verletzte;
die kurvigen Straßen taugen kaum zur linearen Bewegung. Jades Jagden
sind stockend, unterbrochen, eher von Ruhe als von Atemlosigkeit geprägt.
Auch hier spiegelt sich ein eruptives „Aufbegehren“ angestauter
Energie. Und stets sind die Verletztungen deutlich und verheerend (etwa,
wenn Angie Everhart zweimal von einem Auto überfahren wird). Wieder
sind es die Köpfe, die attackiert werden.
Ein kommerzielles Projekt wie Jade läßt einem Regisseur kaum
Freiheiten im Umgang mit der Materie. Doch Friedkin hat sein Handwerk
gelernt. Er läßt das Geschehen auf unvergleichlich stilvolle
Weise von der gleitenden Kamera umschmeicheln, benutzt mit Loreena McKennitts
„The Mystic’s Dream“ ein hypnotisches Leitthema und
schafft es derart erst recht, aus den Schocksequenzen krass kontrastierende
Höhepunkte zu kreieren. Seine Inszenierung von Details, vor allem
der afrikanischen Maske im Haus des ersten Opfers, erreicht alptraumhafte
Qualitäten. Wieder verweigert der Regisseur eine Erlösung aus
dem „freien Flottieren der Begierde“. Von den Kellern New
Yorks, über die Freeways L.A.s bis zu den Villen San Franciscos herrscht
eine brütende Repression, die den Killervirus gedeihen läßt
– jene neue „Krankheit zum Tode“. William Friedkin –
Marcel Proust-Verehrer ersten Ranges – hält traurig das Banner
von Hollywoods neuem fin de siècle: „Das US-Kino war einmal
eine Kunstform, jetzt ist es korrupt und kaputt wie ganz Amerika“
resümierte der „radikale, nahezu pervers persönliche“
Filmemacher William Friedkin 1996.
Die authentische Geste in einer Welt der Simulakren
Bei William Friedkin, wie bei allen anderen Filmemachern, die in diesem
Buch gewürdigt werden, gibt es, um wiederum auf Norbert Grob zu verweisen,
„jenseits der Stoffebene eine Obsession auf der Ebene von Bildern,
von Rhythmen, meinetwegen von Musikalität, womit sowohl die Geschichte
als auch der Stoff verwandelt wird. Und genau das ist ein Kinoautor –
ob er nun erfolgreich ist oder nicht.“ Dabei ist gerade in den letzten
Jahrzehnten ein Problem hinzugekommen: Der Film der neunziger Jahre, der
noch immer in einer – wenn man so will – postmodernen oder
postklassischen Phase verfangen ist, muß sich der stereotypen Bilder
und Klischees, die er benutzt, wohl bewußt sein. Zitat, Intertextualität
und Selbstreferentialität sind inzwischen zu Stilmitteln geworden,
auf denen gerade eine neue Generation von Filmemachern ihr Kino der Affekte
aufbaut, das häufig an seinem bewußten Gestus des Künstlichen
krankt. Wenn der Film der unmittelbaren Gegenwart in seiner Funktion als
Kunstwerk noch jene ‘Wahrhaftigkeit’ vermitteln möchte,
die von jeher beständigen Werken zuerkannt wird, muss sich der Filmemacher
zudem – vielleicht sogar innerhalb einer „persönlichen
Mythologie“ – auf die Suche nach einer Subversion der in allgemeiner
Medienkompetenz verankerten Standardmechanismen machen.
Das künstliche Bild – das filmische Simulakrum – als
solches zu kennzeichnen und bloßzustellen, überwindet es nicht
gleichzeitig. Jean-Luc Godard hatte bereits seit den fünfziger Jahren
nach jenem geeigneten Abstand gesucht, um die latente Unwahrheit des filmischen
Systems zu formulieren. Mehrere aktuelle Versuche in dieser Hinsicht unternahm
auch der amerikanische Regisseur und Drehbuchautor Oliver Stone: In der
Serial-Killer-Groteske Natural Born Killers (1994) betreibt er das eklektische
Spiel der Zeichen mit dem ernsthaften Gestus des seherischen Moralisten,
der auf den unzähligen Verweisen zunächst einen schwarzen Humor
aufbaut, jedoch letztlich die Hoffnung hegt, seine brutale Mediensatire
habe kathartischen und bewußtseinserweiternden Charakter. Tatsächlich
erzwingt er in einer streng kalkulierten Struktur aus unterschiedlichen
visuellen Stilen, Musikgenres und Schauspielertypen eine ‘Implosion’
der Zeichen. ‘Implosion’ bezeichnet die wechselseitige Aufhebung
der Bedeutung von benutzten Zeichen. Sein scheinbar konsequent strukturiertes
Flechtwerk führt langsam ins delirierende Chaos und richtet durch
oft willkürliche Neucodierung eine sich selbst zersetzende Mixtur
der Bilder und Töne an. Besonders deutlich wird dieses Phänomen
in der zentralen Vergewaltigungssequenz: Auf den Wänden und im Fernseher
sind Bilder aus der Geschichte (Drittes Reich, Vietnam) und bekannten
Filmen (The Wild Bunch / Sie kannten kein Gesetz, 1968, von Sam Peckinpah
und Scarface, 1983, von Brian de Palma) zu sehen. Reduziert auf den kleinsten
gemeinsamen Nenner, die Aggression, spiegeln sie diffus die seelische
Verfassung des Protagonisten und bringen bedenkenlos eine zwiesplältige
Allgemeingültigkeit ins Spiel, die sich vordergründig auf ein
Geschichtsbewußtsein beruft, im Endeffekt jedoch lediglich historische
und filmische Gewalt parallelisiert. Stone inszenierte hier und stärker
noch in dem folgenden ironischen Thriller U-Turn (1997) ein Simulakrum
der neuen Generation: Natural Born Killers – so müsste die
Kritik lauten – ist nicht mehr eine funktionierende Satire, sondern
nur noch das Modell einer Mediensatire und insofern ein Simulakrum. Es
ist zu vermuten, daß Stone in der Vielzahl an Perspektiven –
einer Summe von Subjektiven – die Möglichkeit sieht, der Vielschichtigkeit
der Realität ein angemessenes Abbild gegenüberzustellen. Einen
anderen Weg wählt der Franzose Luc Besson, der mit dem Mysterythriller
Subway (1985) dem postmodernen Kino Frankreichs, dem cinema du look, einen
viel zitierten Prototyp geliefert hatte. Bereits zu Beginn der neunziger
Jahre – und vor allem in Léon (1994) – suchte er nach
der Möglichkeit, mit Hilfe populärer und klassischer Genrestrukturen
und Zitate ein neues ‘authentisches’ Kino der Gefühle
zu erschaffen. Léon genügt sich nicht mehr in seiner Funktion
als distanziertes, augenzwinkerndes postmodernes Spiel, sondern will seine
groteske Liebesgeschichte zwischen dem tumben Killer und dem zwölfjährigen
Mädchen ernst genommen wissen. Besson konstruiert also aus klassischen
Versatzstücken und von der Basis einer umfassenden populärkulturellen
Medienkompetenz aus ein melodramatisches, „neoklassisches“
Kino. Populäre Versatzstücke aus Film- und Popgeschichte (von
der Typenbesetzung bis zur Musik) stellen hier die Medien der ‘ästhetischen
Infektion’ des Zuschauers dar und appellieren über die zielsichere
Aktivierung der Affekte direkt an dessen Emotionen. Bessons Vision von
einer neuen Authentizität ist damit jedoch nicht anti-intellektuell,
sondern trans-intellektuell: Sein Film ist sowohl rein affektiv, als auch
intellektuell analysierbar, und bemüht sich, durch die Aktivierung
der im Mediengedächtnis des Zuschauers gespeicherten Eindrücke
eine intensive emotionale Reaktion hervorzurufen. Jürgen Felix zeichnet
in seinem Aufsatz „Schnittstellen der Identität“ einen
ähnlichen Weg von der gepflegten Künstlichkeit zur Re-Authentisierung
des Kinos am Werk von David Lynch nach, dessen rein aus Medienstereotypen
konstruierte Figuren in Wild at Heart (1990) bereits vor Lost Highway
(1996) – einer radikalen Hinwendung zur Subjektivität –
nach einer zwar ironischen aber dennoch rudimentär authentischen
Rezeption verlangten: „Wenn ich [...] von ‘Schnittstellen
der Identität’ spreche, so meint das zweierlei: einmal die
Art und Weise, wie sich diese Identitäten im Anschluß an mediale
Vorbilder konfigurieren, zum anderen diejenigen Bruchstellen, die diese
Selbstbilder durchziehen.“ Eine derartige Metatechnik korrespondiert
mit dem von Roland Barthes beschriebenen „Mythos zweiter Ordnung“
: Die Filmemacher bauen mit ihren Zeichensystemen jeweils auf bereits
etablierte Mythen erster Ordnung auf. Die Vertreter des Kinos der Gegenwart
sind sich darüber bewußt, daß es lediglich aus der ständigen
Wiederholung des Bekannten ein mehr oder weniger perfektes Simulakrum
der (historischen) Wirklichkeit konstruieren kann, und die Rezeption ihrer
Selbstbilder als ‘authentisch’ nur auf bewußten Brüchen
mit den Stereotypen basieren kann. Aber hier liegt zugleich die Chance
dieses neuen Kinos. Durch den medienkompetenten Rekurs, die konstruktive
Arbeit mit dem Zuschauer, wird die Reauthentisierung der Bilder und der
neuen Mythen möglich.
Einige dieser konstruktiven aber dennoch ‘unbequemen’ Splitter
im Gewebe der internationen Filmlandschaft, im weitesten Sinne auch des
cinematografischen Mainstreams, sollen also hier gewürdigt werden
– angefangen bei einem der einflußreichsten Querdenker des
modernen Films, Sam Peckinpah, bis zu dem aktuellen, nahezu poppigen Werk
des deutschen Filmemachers Tom Tykwer. Ihre grob chronologische Anordnung
entspringt weniger einem filmhistorischen Impuls als vielmehr dem Bedürfnis,
einer hierarchischen Anordnung vorzubeugen. So wünsche ich dem wachen
und aufgeschlossenen Leser und Filmkenner seine ganz eigenen Entdeckungen
in diesem Buch, das ebenso überfällig wie – hoffentlich
– unbequem in der deutschsprachigen Filmliteratur steht wie seine
Protagonisten in der Filmwelt.
Literatur:
Alexandre Astruc: Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter,
in: Theodor Kotulla (Hrsg.): Der Film, Band 2, München 1964 –
Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt am Main 1982 –
Jan Berg (Hrsg.): Am Ende der Rolle. Diskussion über den Autorenfilm,
Marburg 1993 – Werner Faulstich: Die Filminterpretation, Göttingen
1988 – Michel Foucault: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main
/ Berlin / Wien 1979 – Susan Hayward: Key Concepts in Cinema Studies,
London 1996 – John Hill / Pamela Church Gibson: The Oxford Guide
to Film Studies, Oxford 1998 – Thomas Koebner (Hrsg.): Filmregisseure.
Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien, Stuttgart 1999 –
ders.: Sachwörterbuch Film, Stuttgart 2000 – Ulrich Kurowski:
Lexikon Film, München 1972 – James Monaco: Film verstehen.
Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1996
– Pier Paolo Pasolini: Ketzererfahrungen. ‘Empirismo eretico’,
Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1982 – Rainer Rother (Hrsg.):
Sachlexikon Film, Reinbek bei Hamburg 1997.
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